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Ethik und Differenztheorien
in der Prosa Else Lasker-Schülers

  • Doerte Bischoff: Ausgesetzte Schöpfung. Figuren der Souveränität und Ethik der Differenz in der Prosa Else Lasker-Schülers. (Hermaea 95) Tübingen: Max Niemeyer 2002. XII, 523 S. Kartoniert. EUR (D) 98,00.
    ISBN: 3-484-15095-5.
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In ihrer umfangreichen Studie Figuren der Souveränität (zugleich Dissertationsschrift) versucht Doerte Bischoff anhand von Analysen der 1906 bis 1937 entstandenen Prosatexte Else Lasker-Schülers eine Ethik der Differenz in jüdischer Tradition zu entwerfen, um im Zusammenhang mit Körper- und Genderdiskursen die totalitären Tendenzen der Moderne zu problematisieren. Die Modernität der Texte Lasker-Schülers besteht nach Bischoff gerade in ihrer Exposition von Brüchen und Spaltungen respektive von Auseinandersetzungen mit einer anderen Räumlichkeit, wobei es sich dabei nicht um Struktur gebende Grenzen handelt, sondern um solche, die spezifische topologische Strukturen allererst offen legen. Die Rede von Räumen und Raumstrukturen sei in Lasker-Schülers Prosatexten so nicht nur metaphorisch zu verstehen, indem der Analyse der Dominanz der Raumbilder in den Texten Rechnung getragen und gezeigt wird, inwiefern diese Raummetaphorik Zeichenbildung und Bedeutungskonstitution reflektiert. Vielmehr macht sie auch die in der Moderne sichtbar werdenden Grenzen der Raummetaphorik kenntlich.

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Raumkonstellationen in der Moderne

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Die Form solcher Raumkonstellationen in der Moderne ist das Thema des II. Kapitels, das auf philosophische und literarische Beispiele rekurriert. Lasker-Schülers Texte markieren nach Bischoff das Umschlagen von der Epoche der Geschichte (das 19. Jahrhundert) zur ›Epoche des Raumes‹ und damit einer Epoche der Verräumlichung der Zeit, wobei das Subjekt der Aufklärung dieses Umschlagen und den damit einhergehenden Verlust eines transzendentalen Standpunkts nicht überlebt. Charakteristisch für Texte der Moderne – und hier sind die Texte Else Lasker-Schülers exemplarisch – ist die totalitäre Tendenz, wie sich die Subjekte den Raum aneignen, wobei sich dieser Raum als ein zerklüfteter, dezentrierter Raum darstellt, der für das Subjekt nicht mehr problemlos ›lesbar‹ ist. Das Subjekt wird auf diese Weise nicht mit seiner eigenen Fremdheit konfrontiert (im Rahmen einer hermeneutischen Interpretation), sondern mit seiner eigenen Abgründigkeit. Vor dem Hintergrund von Überlegungen zur Freudschen Psychoanalyse und der damit in Zusammenhang stehenden Entschlüsselung von Hieroglyphen verdeutlicht Bischoff, dass in den Texten Lasker-Schülers das Ich nicht innerhalb der räumlichen Totalität der Schöpfung verortet ist, sondern atopisch und damit gewissermaßen verworfen ist. Das Zusammenführen von Totalität und Verworfensein kennzeichnet das Lasker-Schülersche Textverfahren, im Rahmen dessen die Konfiguration von Schrift und Körpern, also das Verwenden von ›Schriftkörpern‹, die in dem Hieroglyphenmotiv reflektiert werden, ein typisches Strukturelement bildet, das sich einem hermeneutischen Zugang versperrt. Diesen Körper-Schrift Komplex diskutiert Bischoff vor dem Hintergrund der Freudschen Konzeptionen – und das ist sehr anregend und für das Werk Lasker-Schülers in besonderem Maße tragfähig.

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Anhand der Schriften von Nietzsche, Freud und Weininger umreißt Bischoff die Diskussion um den sich zuspitzenden Geschlechterkonflikt und ordnet Lasker-Schülers Werk einerseits in diesen Diskurs ein, betont aber andererseits, dass die Analyse von Lasker-Schülers Verfahrensweisen und Bildkomplexen neues Licht auf die Struktur dieses Diskurses werfen kann. Die literarischen und philosophischen Beispiele zeigen, inwiefern eine Materialisierung respektive das Hervortreten der Körperlichkeit der Vater-Ordnung die symbolische Geschlechterordnung destabilisiert. Es wird deutlich, dass das Aufgehen des männlichen Prinzips im Weiblichen nicht in einer Versöhnung der Gegensätze resultiert, sondern vielmehr einen Raum-Spalt respektive eine Heterotopie erzeugt.

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Analyse des Peter-Hille-Buchs

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Das Peter Hille-Buch wird im III. Kapitel untersucht, anhand dessen das Verhältnis von Vatername und Schriftkörper, das heißt von Repräsentanten der Symbolordnung und der Materialität der Schrift, die ihre Repräsentationsfunktion unterläuft, thematisiert wird. In Abgrenzung zu Meike Feßmanns Studie, die Lasker-Schülers Textverfahren der ›Ich-Figuration‹ mit Hilfe der Begriffe »Zwischenraum« oder »Schwellenraum« 1 charakterisiert, möchte Bischoff dieses Konzept aufgeben. Bischoffs Kritik an Feßmann zielt darauf ab, dass ihre Raumkonzepte auf einen Repräsentationsbegriff und einen Subjektivitätsgedanken rekurrieren, wie er durch viele Texte der Moderne explizit abgelehnt wird. Bischoffs Kritik ist daher begründet und anschlussfähig. Anders als Interpretationen, nach denen im Peter Hille-Buch eine machtvoll-erhabene Vaterfigur als Identität stiftend für das Ich aufgefasst wird, versucht Bischoff zu zeigen, inwiefern solche Festsetzungen der Vaterfigur als Symbolinstanz bereits durch die rhetorischen Praktiken des Textes produziert werden. Die Figuren werden auf diese Weise als Momente von Symbolisierungsprozessen aufgefasst. Es werden zwei dominante Intertexte – Nietzsches Zarathustra und das Hohelied des Alten Testaments – erkennbar.

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Im Peter Hille-Buch wird als Spannungsfeld in Bezug auf die beiden Hauptfiguren Tino und Petrus von Bischoff einerseits die Geschlechterdifferenz behandelt, andererseits werden Spannungen zwischen Judentum (Tino) und Christentum (Petrus) aufgemacht. Dabei lässt sich das Verhältnis zwischen den Hauptfiguren nicht in eindeutiger Weise bestimmen. Vielmehr ist es ein allgemeines Merkmal der Prosa-Texte von Lasker-Schüler, dass sich die Hauptfiguren in ihren Begegnungen oft verfehlen, so dass eine paradox anmutende Gleichzeitigkeit von Annäherung und Abstoßung, Identifikation und Verwerfung entsteht.

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Die Problematik des Beginnens wird im Peter Hille-Buch auf verschiedene Weise dargestellt: Der Motivkreis von Benennung und Erwählung zeigt Ereignisse eines Schöpfungs- respektive Ursprungsakt im Text an, wobei dieses Ereignis eine Grenze markiert und damit selbst immer außerhalb des Textes bleibt. Strukturell handelt es sich hier um ein topologisch organisiertes Textgefüge, das von einer Topologie ›gestört‹ wird, die den Einschluss eines außerhalb des Textgefüges befindlichen anderen ermöglicht.

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Souveränität bei Lasker-Schüler

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Das IV. Kapitel thematisiert den Komplex der Souveränität bei Lasker-Schüler, wobei zunächst der Begriff des ›Dichtersouveräns‹ im Vordergrund steht, der in Zusammenhang mit Lasker-Schülers eigener Verflechtung von Autor-Ich und Ich-Figuration erläutert wird. Vor dem Hintergrund des Souveränitätsbegriffs der Avantgarde, der auf einer fundamentalen Repräsentationskritik gründet, diskutiert Bischoff die Souveränität des Künstlers, der Grenzen ständig überschreitet, so dass die Überschreitung von Grenzen zum Exzess wird. Dabei bildet die Aufwertung des Künstlers zu einer Schwellenfigur, welche die Grenze der bürgerlichen Welt darstellt, einen Widerspruch zur sonstigen Programmatik der Avantgarde. Die Verschiebung vom Künstler als König zum Künstler als Führer spiegelt die Verschiebung des Souveränitätsbegriffs: An die Stelle der Hierarchien der durch die Ordnung gebietenden Autorität und damit anstelle des unterteilten Raums als Ordnungsschema tritt eine Mythologie des Herrschens, die den Raum auflöst, indem sie ihn völlig erobert. Bischoff merkt an, dass dieser Effekt etwa durch die Vorgehensweise der Nationalsozialisten respektive durch die Absolutsetzung patriarchalischer Herrschaftsphantasien verdeutlicht wird.

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Bischoff untersucht anschließend an die Analyse des Peter-Hille-Buches im Paradigma von Souveränitätsstrukturen die verschiedenen Phasen von Lasker-Schülers Auseinandersetzung mit Sourveränitätskonzepten, die durch eine Vielzahl von Herrscherfiguren charakterisiert werden, wobei dieser Komplex der Souveränität wieder durch eine Analyse der Raumstrukturen motiviert ist. Die Untersuchung wird von der Frage geleitet, inwiefern Körperlichkeit und Körpermetaphorik jeweils eine wichtige Rolle spielen. Im IV. Kapitel steht dabei die Entwicklung vom Schleier-Paradigma der Nächte der Tino von Bagdad zum Paradigma des Fetisch aus den Texten um das imaginäre Reich Theben im Vordergrund (Der Prinz von Theben, Der Malik).

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Bischoffs These lautet, dass im Rahmen eines Raumwechsels Souveränität in der mittleren Schaffensperiode von Lasker-Schüler durch Verhüllung gekennzeichnet wird, wobei diese Verhüllung weiblich konnotiert ist, während die Figur des Fetisch vor allem die souveräne Position, auch als Verhüllte, heraushebt. So trägt nach Bischoff die Verschleierungs- und die Gewebe-Motivik Konnotationen einer Reihe mythologischer Beschreibungen des spezifisch weiblichen Anteils an der Kulturschöpfung. Das wird mit dem Motiv des Erzählens in den Nächten verknüpft, und zwar indem die Tino-Figur Scheherazade als einer mythischen Figur, die der Ursprung erzählerischer Produktivität ist, ähnelt. Zugleich repräsentiert Tino aber auch das nicht funktionalisierbare Begehren, das die Ordnung zerstört. Der Dichter von Irsaab, die vorletzte Erzählung der Nächte, kann insofern als eine Übergangserzählung aufgefasst werden, als sie Anteil an beiden Paradigmen aufweist. Diskutiert werden die Implikationen dieses Raumwechsels vom orientalischen ›anderen‹ Raum zum poetischen Entwurf Thebens, bei dem es sich nach Bischoff um ein »originelles modernes Schreibprojekt handelt« (S. 334). Bei ihrer Problematisierung der Souveränität vor dem Hintergrund der Moderne greift Lasker-Schüler auf archaische Bilder zurück. Der König von Theben wird so nach Bischoff nicht als repräsentierende Autorität dargestellt, sondern als eine Schwellenfigur. Damit dekonstruiert Bischoff über raumanalytische Verfahren Herrschaftsprinzipien und kann produktiv zeigen, welchen Wert eine induktiv literaturtheoretische Lektüre besitzt.

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Religion und Raum

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Im V. Kapitel werden Raumstrukturen im Rahmen der Koexistenz verschiedener Religionen diskutiert. Zunächst wird die Eigentümlichkeit der Texte Lasker-Schülers betont, die sich als Symptome eines Dilemmas auffassen lassen, indem sie die ›Selbst-Vergottung‹ des Menschen auf der einen und die Gewissheit der nicht zu leugnenden Nichtexistenz einer transzendentalen Instanz auf der anderen Seite als zwei Seiten desselben Dispositivs entwerfen. Auf diese Weise wird die Beschreibung eine Beziehung zwischen Personen insofern problematisch, als das Fremde dem Ich nicht im Anderen gegenübertritt, sondern als Abspaltung des Ich kenntlich wird.

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Bischoff diskutiert vor diesem Hintergrund die zentrale Frage, inwiefern die Texte Lasker-Schülers, die den Konflikt miteinander in Konkurrenz stehender Ansprüche auf Wahrheit und Transzendenz nicht mehr durch den Hinweis auf universal gültige menschliche Bedürfnisse beantworten können, diesen Verlust nur reflektieren oder aber auch etwas Positives an seine Stelle setzen können. Anhand der Analyse von vier Texten stellt Bischoff einen Zusammenhang zwischen dem atopischen / heterotopen Zwischenraum als Raum der Begegnung und dem Modell einer modernen Ethik her, die von Emmanuel Lévinas bereitgestellt wurde, und dessen Ethik als der Versuch gelesen werden kann, Dekonstruktion und Ethik zusammenzubringen.

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Diese Ethik Emmanuél Lévinas’ weist sowohl im Bereich der Sprache durch die Verwendung ähnlicher Bildsysteme und Metaphern, als auch im Rahmen der Anknüpfung an postmoderne Theoriedebatten eine große Nähe zu den Texten Lasker-Schülers auf. Lévinas’ Theorie, die auf einer Analyse des Selbst- und Fremdbezugs basiert (wie es in seiner Analyse des ›Antlitzes‹ deutlich wird, sowie in seiner Konzeption der ›Heimsuchung‹ des Ich durch den anderen), kann insofern für die Texte Lasker-Schülers fruchtbar gemacht werden, als Lévinas die moderne Konstellation eines Ich ohne transzendenten Gegenpart nicht als Verlust, sondern als Möglichkeit begreift, Ethik und Subjektivität als etwas zu verstehen, das wechselseitig voneinander abhängt. An diesem Nachweis, den Doerte Bischoff am Beispiel exemplarischer Texte Else Lasker-Schülers sensibel aufbauend erörtert, und der literaturtheoretisch äußerst fundiert ist, kann weder die zukünftige Lasker-Schüler-Forschung noch weitere Forschung zu Ethik und Differenztheorien vorbei. Bischoff ist damit ein besonders gelungener Zugang zum Werk der Autorin einerseits, eine theoretisch fundierte Diskussion eines zentralen Forschungsparadigmas andererseits gelungen.

 
 

Anmerkungen

Das ist der Raum, den die Ich-Figur an der Grenze zwischen Biographie und Fiktion einnimmt, wobei dieser »Spielraum« auf die Konvergenz der Fiktion gegen die Realität, der Identität von Zeichen und Körper bezogen ist.   zurück