IASLonline

Perspektiven des deutsch-jüdischen
Diskurses über Kultur

  • Bernhard Greiner / Christoph Schmidt (Hg.): Arche Noah. Die Idee der »Kultur« im deutsch-jüdischen Diskurs. (Cultura 26) Freiburg/Br., Berlin: Rombach 2002. 413 S. 1 s/w Abb. Kartoniert. EUR 34,80.
    ISBN: 978-3-7930-9324-4.
[1] 

Den Herausgebern des Bandes Arche Noah, Bernhard Greiner und Christoph Schmidt, ist ein wichtiger, vielschichtiger und zugleich thematisch homogener Zugang zum Thema von Kultur im deutsch-jüdischen Kontext der Moderne gelungen. In den Beiträgen, die auf eine Konferenz vom 14.–16. November 2000 an der Hebräischen Universität in Jerusalem zurückgehen, wird ausgelotet, wie der spezifische Beitrag jüdischen Denkens zur Begründung und Entfaltung der Kulturphilosophie zu charakterisieren sei, wobei sowohl der intrakulturelle als auch der interkulturelle Aspekt Berücksichtigung finden (S. 17).

[2] 

Die Motivation für diese Unterscheidung sowie die Präzisierung der Stellung, Funktion und Bedeutung des Kulturbegriffs innerhalb des Judentums wird im Vorwort von Bernhard Greiner und Philipp Theisohn historisch präzise und systematisch einleuchtend erörtert: Vor der gewaltsamen Zerstörung der deutsch-jüdischen Interkulturalität bildete die Idee der Kultur einen der Hauptpfeiler der jüdischen Geschichte. Im Rahmen der Aufklärung wurde der Begriff der Kultur dabei dynamisiert, indem er als Prozess der Kulturalisierung mit dem der ›Selbstbestimmung‹ verstanden wurde. Die Attraktivität der Kultur für das Judentum lag in der Widersprüchlichkeit dessen, was unter Kultur verstanden wird: Da Kultur einerseits universal emanzipatorisch, andererseits ästhetisch individualistisch ist, bot Kultur die Möglichkeit der Integration in die ›Mehrheitskultur‹, das heißt in die bürgerliche Gesellschaft ohne Verlust der eigenen kulturellen Identität. So war es dem Judentum möglich, einen Wiedereintritt in die ›allgemeine‹ Geschichte zu erlangen.

[3] 

Indem die jüdische Kultur nicht auf einem kulturellen Raum fußt, hat sie ein zirkuläres Selbstverständnis entwickelt: Das, was bestimmte kulturelle Akte erzeugt, muss immer schon von ihnen erzeugt worden sein. Auf diesen Zusammenhang rekurrieren die kulturphilosophischen Begründungen des jüdischen Eintritts in die Geschichte, indem sie einerseits einen spezifischen Beitrag zur Moderne leisten konnten, der in der Möglichkeit bestand, eine Sprache der Präsenz aus einer Ansammlung von Zeichen mit unbestimmter Referenz zu gewinnen; andererseits veranschaulichen sie exemplarisch die Denkfigur der Dissemination.

[4] 

Wie eine konkrete Ausarbeitung der oben genannten widersprüchlichen Grundlagen von Kultur erfolgen kann, bleibt im jeweiligen kulturhistorischen Kontext zu beantworten. Im Rahmen einer solchen Antwort muss eine intrakulturelle und eine interkulturelle Dimension unterschieden werden, denen als Gegenkonzept die theologische Besinnung auf lebendige Quellen des Judentums gegenübersteht (S. 13). Im Rahmen der intrakulturellen Bestärkung jüdischer Identität findet eine Rückbesinnung auf das vermeintlich ursprünglichere osteuropäische Judentum statt. Im Rahmen der interkulturellen Bestärkung jüdischer Identität findet eine Öffnung der jüdischen Kultur für die sie umgebende, deutsche Kultur statt.

[5] 

Die Beiträge des Bandes haben die systematische Funktion, eine Rekonstruktion des intrakulturell jüdischen wie interkulturell deutsch-jüdischen Diskurses der von der Shoah zunächst nahezu ausgelöschten Kultur zu leisten, und zwar im Sinn einer Rekonstruktion der Arche im Rahmen von Erinnerungsarbeit. Sie argumentieren an einzelnen Beispielen, behalten aber alle das Thema der Rekonstruktion jüdischer Kultur in ihrem spezifischen Kontext im Auge.

[6] 

Carola Hilfrich (»›Cultur ist ein Fremdling in der Sprache‹. Zu Moses Mendelssohns Kulturbegriff«, S. 25–48) vertritt auf der Grundlage einer Mendelssohn-Lektüre die These, dass es an den Ursprüngen des deutsch-jüdischen Diskurses eine Reflexion gibt, welche die ›Grenzhaltung‹ selbst partikularisiert.

[7] 

Meir Buzaglo (»Salomon Maimon. Christianity, Judaism and Geometry«, S. 49–58) thematisiert das einzigartige Denken des jüdischen Philosophen Maimon, der gegen Spinozas Geometrisierung des Judentums und des Christentums die Talmudisierung der Philosophie betont, die aus axiomatischen Überlegungen heraus die Differenz philosophischer Systeme als eine talmudische, metaphysische Angelegenheit auffasst.

[8] 

Rachel Livneh-Freudenthal (»Kultur als Weltanschauung. Der Kulturbegriff der Begründer der ›Wissenschaft des Judentums‹«, S. 59–84) beschreibt die Entwicklung sowie die innerjüdischen und kulturtheoretischen Problematiken des jüdischen Kulturbegriffs, auch im Hinblick auf die Frage nach der Stellung der jüdischen Kultur innerhalb des idealistischen Weltgeschichtsentwurfs. Insbesondere rückt dabei ein materialistischer Kulturbegriff in den Blick.

[9] 

Moshe Zuckermann (»Der Kulturbegriff bei Marx«, S. 85–94) thematisiert die Konsequenzen und Probleme dieses Konzeptes, und zwar im Hinblick auf eine doppelte Bestimmung von Kultur zwischen ›materieller‹ Zivilisation und der diese transzendierenden ›geistigen‹ Kultur.

[10] 

Philipp Theisohn (»Aus dem Nichts. Der Raum der Nation im jüdischen Kulturdenken zwischen Idealismus und Zionismus«, S. 95–123) diskutiert einen Kulturbegriff im Rahmen einer radikalen Autonomisierung. Rekurrierend auf die Tempelvision des Ezechiel leitet er einen Selbstbegründungsversuch des kulturellen Subjekts her, den er bei Theodor Herzl und Martin Buber in spezifischer Re-Aktualisierung erörtert.

[11] 

Ashraf Noor (»Urarche / Urarché. Husserl, Cohen und die Idee einer Kultur der Vernunft«, S. 125–144) beschäftigt sich mit einer Neubegründung der Vernunft als kulturelle Leitidee in Phänomenologie und Neukantianismus. Cohen und Husserl bieten Noor die Einsicht in eine Rückkehr ideengeleiteter Handlungsverantwortlichkeit, die Benjamins Kritik am Neokantianismus gegenübersteht.

[12] 

Gideon Freudenthal (»Auf dem Vulkan. Die Kulturtheorie von Ernst Cassirer«, S. 145–171) erörtert Cassirers Konzeption der ›symbolischen Formen‹, die einen Alternativentwurf zur Neubegründung durch Vernunft darstellt und verweist vor allem auf die anthropologische Dimension der Kulturtheorie Cassirers. Gleichzeitig zeigt Freudenthal auf, welche Grenzen respektive reduktionistischen Tendenzen zu Zeiten der Agonie von Kultur und ihrer Umkehr in ›Selbstbarbarisierung‹ aufleuchten.

[13] 

Bernhard Greiner (»Mauer als Lücke. Die Figur des Paradoxons in Kafkas Diskurs der Kultur«, S. 173– 195) zeigt einen weiteren Weg eines Kulturentwurfs am Beispiel von Franz Kafkas Beim Bau der chinesischen Mauer auf, indem er Kulturisation als ein Geschehen auffasst, das ohne totalitäre Tendenzen vereinheitlichend wirken kann, und ohne die bestehenden Differenzen aufzuheben. In Kafkas spezifischem Beitrag zum zeitgenössischen Kulturdiskurs erkennt er die Denkfigur »des in sich selbst negierenden Paradoxons« (S. 194), die weder symbolisch zusammenführend noch dialektisch totalisierend, sondern für eine Öffnung auf eine ›Kultur des Anderen‹ steht.

[14] 

Hanswalter Staeubli (»Jesus – ›die höchste Möglichkeit des Juden‹. Arnold Zweigs freudianische Konversion des christlichen Universalismus«, S. 197–226) beschäftigt sich am Beispiel von Arnold Zweigs Der Streit um den Sergeanten Grischa mit seinem besonderen jüdischen Selbstverständnis, das zwischen Landauer, Nietzsche und Freud etabliert wird und in einer ›imitatio christi‹ eschatologisch fundiert wird, wohl als Versuch der Bewältigung der kulturellen Krise.

[15] 

Moshe Idel (»Hieroglyphs, Keys, Enigmas. On G.G. Scholem’s Vision of Kabbalah: Between Franz Molitor and Franz Kafka«, S. 227–248) thematisiert die Zeitigungen interkultureller Dynamik im Bereich der jüdischen Mystik und stellt heraus, dass die jeweilige Auslegung der kabbalistischen Zeichen regelnden Paradigmen auch vom jeweiligen kulturellen Kontext in der Diaspora abhängt.

[16] 

Liliane Weissberg (»Dining out. Walter Benjamin meets Goethe«, S. 249–271) konzipiert eine fiktive Begegnung zwischen Goethe und Walter Benjamin vor dem Hintergrund deutsch-jüdischer Kultur. Dabei spielen Kulturräume, das sind tatsächliche und imaginäre Räume, eine tragende Bedeutung: Zum einen ist es der Raum (Goethes Zimmer, sein Haus, Weimar), zum anderen ist es der intellektuelle Raum zwischen Goethe und Benjamin. Innerhalb dieser ›Begegnungen‹ wird über deutsch-jüdische Kultur verhandelt.

[17] 

Yotam Hotam (»Theodor Lessing. Culture as a Mental Disease«, S. 273–287) beschäftigt sich mit Theodor Lessing, der im Schnittpunkt von Zionismus und Lebensphilosophie die Deutung von Kultur als Krankheit anbringt. Eine Kulturkritik, die einer vitalistischen Metaphysik entstammt, resultiert in einer Forderung nach einer eigenmächtigen Beendigung des Exils und eine Rückkehr der jüdischen Bevölkerung zu ihren Wurzeln als ›Gesundung‹.

[18] 

Antony Skinner (»German-Jewish Identity and the ›Schocken Bücherei‹«, S. 289– 303) thematisiert die Vermarktung einer fruchtbaren kulturellen Symbiose, wobei er für die Öffnung der jüdischen Identität gegenüber Versuchen, diese Identität durch Rekurs auf ethnische Muster zu reduzieren, argumentiert.

[19] 

Lothar Müller (»Der ewige Sohn. Anton Kuhs Attacke auf Karl Kraus«, S. 305–319) propagiert den Selbsthass als notwendigen, aber zu überwindenden Motor der Entwicklung sowohl der deutschen als auch der jüdischen Kultur. Eine Selbstbefreiung vom ›Untertanengeist‹ kann dann aus jüdischer Sicht weder durch die Identität verlierende Integration in eine unfreie Gesellschaft noch in der zionistischen Nachahmung dieser Gesellschaft liegen.

[20] 

Michael Eckert (»Experimentum Mundi. Ernst Bloch’s Utopian-Messianic Concept of Culture«, S. 347–357) zeigt in seinem Beitrag die Einflüsse und Formungen auf, die Blochs utopischer Messianismus aufgenommen hat. Das sind unterschiedliche philosophische Ideen aus der Naturphilosophie und der historischen Ideengeschichte. Eckert weist damit die Transformationen von Blochs idealistischem intellektuellem System nach.

[21] 

David Roberts (»The Frightful Exhaustion of the Gods. Religion, Crowds and Power in Canetti«, S. 359–381) untersucht in seinem Aufsatz die drei Paradigmen Masse, Macht und Religion bei Canetti. Seine These ist dabei, dass Canettis intensive und vielschichtige Untersuchung der Phänomene von Masse und Macht nur auf der Folie eine Religionengeschichte verstanden werden kann, in der Imagination eine zentrale Rolle spielt.

[22] 

Sigrid Weigel (»Die Religionsphilosophin Susan Taubes«, S. 383–401) stellt Susan Taubes Konzept des Tragischen vor und betont dabei dessen Verbindung mit einer negativen Theologie, die zugleich aus Nihilismus und Hoffnung besteht. Sie verdeutlicht, warum die Tragödie nur rudimentär, die negative Theologie dagegen der »Dreh- und Angelpunkt« (S. 401) von Susan Taubes’ Kulturtheorie geworden ist: Denn Susan Taubes ist dem Weg der Psychoanalyse nicht gefolgt, der das Subjekt einen Teil seiner Tragik zurückerobern lässt.

[23] 

Christoph Schmidt (»Kairos and Culture. Some Remarks on the Formation of the Cultural Sciences in Germany and the Emergence of a Jewish Political Theology«, S. 312– 346 und »Nachwort: Text und Arche. Die Arche Noah zwischen Mythologie und Theologie«, S. 403–413) versucht schließlich in seinem abschließenden Essay, die Natur des Begriffs ›Kulturwissenschaften‹ vor und nach dem ersten Weltkrieg zu explizieren, wobei er besonders auf ihre theologische Transformation im Rahmen der Krise der (neo-)kantianischen Basis dieser Wissenschaften eingeht, die zugleich als Legitimation der deutsch-jüdischen Interkulturalität fungierte, sowie auf verschiedene Arten politischer Theologie, die im Rahmen der deutsch-jüdischen Kultur entstanden.

[24] 

Die Funktion der Kulturwissenschaften besteht nach Schmidt in der Formulierung der methodologischen Fundierung der Sozial- und Geisteswissenschaften, wobei diese Fundierung unabhängig von der naturwissenschaftlichen Methodik sei. Die Dichotomie zwischen Kulturwissenschaften und Naturwissenschaften werde durch den normativen Gehalt von Kulturtheorien aufgemacht, der eine zeitliche Struktur des Kulturbegriffs bedinge, indem er ihn von der Zukunft her auf die Gegenwart hin entwerfe. Als Konsens werde das Autonomieideal des kategorischen Imperativs angesehen. Im Rahmen der deutsch-jüdischen Kultur leite sich der Kulturbegriff also aus israelitischem Prophetentum und kantianischer Ethik ab, dessen theologischer Ursprung im Rahmen des Säkularisierungsprozesses in das Blickfeld rückt. Die Ablehnung dieses Kulturbegriffs vollziehe sich vor dem Hintergrund des Konfliktes zwischen universalem Anspruch des kategorischen Imperativs und der Individualität des einzelnen. Die Befreiung des einzelnen von den Beschränkungen des strukturellen Denkens geschehe jedoch zu Gunsten einer Pluralität von Lebensformen, einer Maskerade, bei der sich der einzelne letztlich verliere. Dies liegt nach Schmidt darin begründet, dass das Ich im Rahmen der phänomenologischen Tradition nicht Gegenstand des Bewusstseins ist und durch keine Reflexion erfasst werden kann. Damit erfährt die zunächst trefflich erscheinende ästhetische Emanzipation eine tragische Wendung.

[25] 

Diesen Zusammenhang beleuchtet Lessing in seiner dramaturgischen Theorie, indem er die Vervielfältigung des Subjekts als den Ursprung einer schrecklichen Tragödie annimmt. Georg Simmel überträgt diesen Zusammenhang in eine Philosophie der tragischen Kultur.

[26] 

Einen Ausweg aus dieser Tragödie bietet nach Schmidt die Theologie, die einen Gegensatz zwischen einem Gott des Gesetzes (respektive der reinen Vernunft) und einem sich erbarmenden Gott des Lebens aufmacht. Unter dieser Interpretation im Rahmen einer Retheologisierung der Kultur wird der kulturelle Diskurs zum Zeichen der ›Sündigkeit‹ der Kultur. Aus dem einen onto-theologischen Diskurs haben sich also ein philosophischer und ein theologischer Diskurs abgespalten.

[27] 

Christoph Schmidt diskutiert anschließend an seine Reflexionen über die Kulturwissenschaften im Feld deutsch-jüdischer Begegnungen vor und nach der Katastrophe die jüdische Antwort auf die Kulturtragödie, indem er die Antworten Cohens, der auf eine messianistische Theologie rekurriert, und seiner Schüler (Ernst Bloch mit seiner Theologie der kommunistischen Revolution, Jakob Klatzkins mit seinem zionistischen Dezisionismus und Franz Rosenzweig mit seiner absoluten Abkehr von der Politik) darlegt.

[28] 

Abschließend analysiert Christoph Schmidt die Position von Gershom Scholem, den er als politischen Theologen bezeichnet und dessen Ansatz er aus folgenden Gründen als viel versprechend erachtet: (a) Sein Ansatz kann das Bedürfnis nach Theologie als einer politischen Waffe gegen Kultur, die auf eine moderne säkulare jüdische Kultur abzielt, vereinen mit Hilfe der heretischen Theologie der Sabbatianischen Kabbala. (b) Sein Ansatz kann die Politik nationaler Entscheidungen mit dem universellen Rahmen einer liberalen Kultur vereinen. (c) Zudem ebnet Scholem den Weg für die jüdische Subjektivität als einer Bedingung der Möglichkeit ihrer verschiedenen Ausformungen in Cohen, Bloch, Klatzkin, aber gleichermaßen für das moderne säkulare Konzept jüdischen Lebens.