Jochen Strobel

»Die Förderung der jüdischen Angelegenheit ...«

Einmal mehr: Thomas Mann, die Deutschen und die Juden




  • Jacques Darmaun: Thomas Mann, Deutschland und die Juden. (Conditio Judaica 40) Tübingen: Max Niemeyer 2003. 319 S. Kartoniert. EUR 72,00.
    ISBN: 3-484-65140-7.


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Der Großschriftsteller
als Antisemit?

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Erst seit wenigen Jahren fragt die wohlinstitutionalisierte Thomas-Mann-Forschung intensiver nach Manns Beziehung zum Jüdischen, gar nach einem eventuellen Antisemitismus. Noch die wichtigste Mann-Biographie überhaupt traut ihrem Helden keinesfalls rassistisch, lediglich ästhetisch begründete antijüdische Äußerungen zu. 1 Und noch die sekundäre Gebrauchsprosa neuesten Datums geht von einer rein künstlerischen Ausbeutung negativer Bilder des Juden aus. 2 Inzwischen wurde diese faktische Freisprechung – ohne Urteil wird eine solche Untersuchung nicht bleiben können – revidiert, ausgehend von den Artikeln in der antisemitischen Zeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert und von Buddenbrooks, 3 dann überhaupt von ›jüdischen‹ Namen und Stereotypen in vielen fiktionalen Texten Manns als mit Fremdheit, Krankheit, Grenzüberschreitung Konnotiertem und damit Abgelehntem. 4 Diese Arbeiten gerieten zur harten Auseinandersetzung, wenn nicht zur Abrechnung mit Thomas Mann.

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Eine Schlüsselposition kommt Darmauns Monographie in jedem Fall zu, widmet sie sich doch als erste der ›Thematik‹ in einem traditionellen, umfassenden Sinn, das heißt mit der Absicht, einen werkbiographischen Überblick zu geben, der die typische Bauform der Dichterbiographie nachvollzieht, also erst vor allem das ›Leben‹ und ›Lebenszeugnisse‹, dann aber zunehmend und in Gestalt von Einzeltextanalysen das ›Werk‹ in den Vordergrund stellt. Ausgangspunkt sind Manns diskursive Äußerungen zu den Juden oder zu einzelnen jüdischen Intellektuellen, mehr noch jüdische Figuren und ›Themen‹ im Erzählwerk.

[4] 

Doch ist eine Hochrechnung, die den Einzel-›Fall‹, den Einzeltext als pars pro toto wertet, durchaus heikel. Das Gesamtbild muß also – so scheint es, und das betrifft auch alle der oben anzitierten Arbeiten – ›stimmig‹ sein und ein halbwegs abgewogenes Urteil erlauben, wenngleich Darmaun betont, es gehe »um mehr als nur um die Feststellung, ob Thomas Mann Philo- oder Antisemit war« (S. 1). Darmaun verfolgt einen, nicht weiter reflektierten, sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Ansatz, indem er die bereits in frühesten Texten, nämlich den genannten Zeitschriftenartikeln, greifbaren antisemitischen Stereotypen Manns »kulturelle[r] Erblast« (S. 8) zuschreibt. Aus der Sicht des Lübecker Patriziersohns, dem der wirtschaftliche Abstieg seiner Familie zu schaffen machte, verkörperten Juden die anfangs noch beargwöhnte »Avantgarde, den Fortschritt, und bedroh[t]en jene althergebrachten Werte« (S. 23). Die Motivation des Mannschen Antisemitismus sei weder religiöser noch ›rassistischer‹ Herkunft, sondern es handle sich um »die Vorurteile seiner Klasse« (ebd.).

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Ästhetizismus

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Doch wenn er auch die eigene ›Blutmischung‹ stets betonte, von ›Blut‹ und ›Rasse‹ sprach Thomas Mann immer wieder – und sei es, daß die ›Rasse‹ als Metapher für Ambivalenzen der Moderne herhalten muß. Bereits in der Einleitung vermerkt Darmaun Thomas Manns »Liebe zum ganz Anderen, zum Süden, aber auch dessen Ablehnung« (S. 3). Doch damit ist eine gleichsam programmatische Uneindeutigkeit und die Neigung zu Analogiebildungen angesprochen, wann immer es um im weiteren Sinn ›Politisches‹ oder ›Weltanschauliches‹ geht. 5

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Am Zwanzigsten Jahrhundert mit seinen pangermanischen Parolen und der Kritik an der »Verjudung« des deutschen Geistes bleibt allerdings nichts zu retten, wenngleich dem vier Jahre älteren Bruder Heinrich gravierendere antijüdische Ausfälle anzulasten wären. In den frühen Erzählungen, in denen sich Mann ein Repertoire von Judenkarikaturen erarbeitet, beginnt ein Spiel mit Analogien und Antithesen. Hervorgehend aus Heines Kontrastierung von asketischem Christentum und Judentum einerseits und sinnlichem Hellenentum andererseits, deren Reformulierung durch Hans Blüher sich später wiederum als für Thomas Mann einflußreich erweisen wird, zeichnet sich bei Mann ein asketischer, radikal ästhetizistischer Typus des modernen Künstlers und Literaten ab – und schon tragen Manns Künstlerfiguren Züge ›des‹ Christen und solche ›des‹ Juden. Diese Analogie (etwa in der kleinen Novelle Beim Propheten) ist auf einer ganz wörtlich zu nehmenden, ›realen‹ Ebene legitimiert, indem Juden im zeitgenössischen Literaturbetrieb tatsächlich zunehmend Bedeutung erlangen.

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Dann läßt sich aber Wälsungenblut nicht einfach als antijüdische Tendenznovelle lesen, vielmehr als Ästhetizismuskritik, die (qua Analogiebildung) »gekoppelt« wird »an die Schilderung neureichen jüdischen Milieus« (S. 52), wobei allerdings nach wie vor »Thomas Manns Hang zu Zerrbildern bestimmter Judentypen bestehen« bleibe (S. 53). Damit ist eine problematische Ausgangssituation bezeichnet, und es muß sich nun offenbar eine ›Entwicklung‹, genauer: eine Entwicklung zum Guten hin, abzeichnen. Bei aller im einzelnen noch zu referierenden Kritik des Verfassers wird Mann doch letztlich freigesprochen.

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Ambivalenzen

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Ein zweiter Teil des Bandes befaßt sich mit der »Ausarbeitung einer jüdischen Thematik« von der 1907 auf eine Zeitungsumfrage hin entstandenen Miszelle Die Lösung der Judenfrage bis hin zum Zauberberg. Der kleine Text von 1907 faßt im Grunde alle bleibenden Motive bereits zusammen: die faustische (und damit ›deutsche‹) Zerrissenheit ›des‹ Juden, das ›Außerordentliche‹ und damit Moderne, die »Judenfrage« als reizvolles psychologisches Problem, die den Zionismus ablehnende Hoffnung auf Assimilation, soll heißen: Zivilisierung und Europäisierung (nicht etwa Nationalisierung) des Judentums als »Kultur-Stimulus« gemäß dem Mannschen Selbstbild der ›Rassenmischung‹, dabei gleichzeitig aber auch das Stereotyp vom Ostjuden mit seinem »fremdartig schmierigen Aspekt« 6 als zumindest noch anzutreffendes Phänomen.

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Ambivalent war Manns Haltung gegenüber jüdischen Kritikern – was Wunder, hatte Samuel Lublinski ihn doch gefördert, Alfred Kerr ihn aber geradezu bekämpft. Antijüdische Stereotypen spielen in Manns Anti-Kerr-Äußerungen eine Rolle; ist er nun darum ein Antisemit oder als Lublinksi-Verteidiger vielmehr ein Philosemit? Schwieriger wird Darmauns Geschäft, sobald in Thomas Manns Antithesen-Spiel, etwa in den Notizen zum geplanten Großessay Geist und Kunst, die Auseinandersetzung mit dem ›Literaten‹ ganz ohne Herbeizitieren des ›Jüdischen‹ auskommt. Ist der Literat Gustav von Aschenbach ein Jude? Bereits Yahya Elsaghe hatte den Indizienbeweis geführt. 7 Immerhin hätte Darmaun hier ein methodisches Problem zu klären. Jedoch eine Reduktion der Figur Aschenbach auf ethnische oder biologistische Kategorien wäre unangemessen: Wiederum ist ›Rassenmischung‹ unverzichtbare Voraussetzung für ›zerrissenes‹ Künstlertum.

[12] 

Der komplexe Kriegsessay Betrachtungen eines Unpolitischen erlaubt kaum eine Festlegung der Sprecherinstanz auf das ›Deutsche‹, umso weniger auf die Ablehnung des nur über das Analogiengeflecht überhaupt greifbare ›Jüdische‹. Zu den von Darmaun nun lesbar gemachten Spuren zählt der Hinweis auf Dostojewskis Antisemitismus als Korrelat von dessen in den Betrachtungen verwerteter Opposition von Kosmopolitismus, Europäertum hie, Deutschtum da (S. 86 ff., S. 94 f.). 8 Doch ist der hochironische Essay keineswegs als schlichte Absage an den ›Zivilisationsliteraten‹ zu lesen, und jüdische Intellektuelle wie Paul Amann, Kurt Hiller oder Maximilian Harden – handle es sich um Anspielungen oder Namensnennungen – können dann nicht einfach als Exponenten einer abzuwertenden ›Rasse‹ gelten. Nur wenn man die Betrachtungen auf das 600seitige Pamphlet reduziert, das sie nicht sind, kann man zu dem Resultat gelangen, »bei solcher Verallgemeinerung« gelte »kein Unterschied mehr zwischen Juden, Freimaurern, angeblichen Demokraten, demagogischen Drahtziehern, Aufklärern, alle werden über einen Kamm geschoren« (S. 97).

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Die Desorientierung von Manns Weltbild, die sich in den Betrachtungen längst angekündigt hatte, findet Darmaun erst in einem Genre und einem Text, der freilich zu Widersprüchlichkeit immer schon Anlaß gibt, dem Tagebuch nämlich, genauer den 1918 bis 1921 entstandenen Aufzeichnungen, die in schneller Abfolge konträrste politische Entwürfe durch- und gegeneinander ausspielen; ein Ingrediens ist etwa das »jüdisch-bolschewistische Schreckgespenst« (S. 111).

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Wo es an klaren antisemitischen Bekenntnissen fehlt, wie etwa in Thomas Manns Werk, ist ein Generalverdikt nicht angezeigt. Das Denken in Kategorien des »Blutes« und der »Blutmischung« reicht hierfür nicht aus. Eher schon trifft die von 1924 datierende Kritik Jakob Wassermanns an einem Mannschen Ästhetizismus, für den die ›Judenfrage‹ kein wirklich drängendes politisches Problem ist, sondern Vehikel der Ausarbeitung eines Selbstporträts als Künstler (S. 123 f.). Der überzeugte Deutsche und Jude Wassermann kam für Mann künstlerisch nicht in Frage; als Mensch wuchs ihm, so darf man hoffen, Manns Respekt zu. Entsprechend hat Manns zunehmend kompromißlose Ablehnung des in den zwanziger Jahren sich steigernden Antisemitismus gewiß auch damit zu tun, daß dieser und analog das, was »nur den Echt- und Urdeutschen behagt, von den Juden aber verschmäht wird, kulturell nicht in Betracht kommen will«. 9 ›Der Jude‹ ist nun immer mehr ›der Intellektuelle‹; parallel dazu wird der ›Literat‹ bekanntlich nun ebenfalls einigermaßen kompromißlos akzeptiert (S. 136 f.).

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Die großen Romane

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Die zweite Hälfte seiner Monographie widmet Darmaun fast ausschließlich der Analyse der drei großen ›späten‹ Romane. Die längst schon sich abzeichnende Parallelisierung von ›Deutschen‹ und ›Juden‹ sieht hier beide als Vermittler zwischen dem ›Orient‹ und der westlichen ›Zivilisation‹. Die doch sehr synkretistischen Figuren Settembrini und Naphta bringt Darmaun beide mit dem Judentum in Verbindung. Gewiß ist Naphta ein »Chamäleon« oder auch – wenngleich die Terminologie bedenklich erscheint – »eine lebendige Anthologie vermeintlich jüdischer Eigenschaften« (S. 172); über deren Funktionalisierung im Roman ist damit noch nicht alles gesagt.

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Joseph und seine Brüder besitzt einen klaren thematischen Einschlag, ist aber als moderne Reformulierung einer Mythe, die längst auch Besitz des Abendlandes geworden war, nicht leichthin argumentativ zu vereinnahmen; das Volk Israel ist nicht identisch mit ›den Juden‹. Gewiß: die Quellen sind bekannt und werden erläutert. Oskar Goldbergs Buch Die Wirklichkeit der Hebräer, ein im Kern antijüdisches Pamphlet, wurde durch Thomas Mann im Joseph wie auch im Doktor Faustus entgegen der Stoßrichtung des Autors verwendet. 10

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Und so zielt die psychologisierende Mythenerzählung auf deren Universalisierung ab und damit auf eine Verweltlichung Israels, wie der Ernährer Joseph sie in Ägypten vorlebt und so in einen Gegensatz gerät zur Archaik Ägyptens wie auch der eigenen Väter. Hier wie in der Moses-Novelle Das Gesetz ergibt sich ein eigenartiger Widerspruch aus der Tatsache, daß im Spiel mit der Parallele ›Deutsche‹ und ›Juden‹ der völkische ›Dünkel‹ (und eben damit der archaische, als anachronistisch verstandene Aspekt von Thomas Manns Mythos-Verständnis) jener, der sich nicht zuletzt gegen die Juden richtete, durch diese repräsentiert wird. Moses besitzt Züge Luthers oder gar Hitlers, des ›zweiten‹ feindlichen Bruders Thomas Manns. 11 Inwieweit in den beiden auf alttestamentliche Stoffe zurückgehenden Texten eine Ablehnung des orthodoxen Judentums insinuiert ist (S. 217), bleibe dahingestellt.

[19] 

Das Schema der angesichts der Geschichte Deutschlands unter dem Nationalsozialismus und des Holocaust skandalösen deutsch-jüdischen Parallele will es in Doktor Faustus, daß jüdische Figuren wie Chaim Breisacher und Saul Fitelberg gleichzeitig die ›teuflischen‹ Züge des Wegbereitertums in sich tragen, des ›rückschlägigen‹ Radikalismus, der freilich auch stets eine im radikalen modernen (und, wie Nietzsche, deutschen) Künstler angelegte Gefahr ist. Diese Züge zeichnen unter anderem auch die negative ›Abspaltung‹ Leverkühns aus, den im XXV. Kapitel auftretenden Teufel, und das sind unter anderen die Züge des ›häßlichen‹ Juden. Thomas Manns Montage-Verfahren, das in diesem Roman zu aporetischen Lesarten von ›allegorischer‹ und ›wörtlicher‹ / zeitgeschichtlicher Bedeutung führen müßte, auch im Lebensweg Adrian Leverkühns, verfolgt Darmaun hier allerdings nicht weiter. Leverkühn als Hiob- und Christus-Figuration ist nur eine von mehreren, nicht synthetisierbaren Deutungen dieser semantisch schwer belasteten Figur. Das versöhnliche Fazit, Mann lege sukzessive »einfältige Stereotypen seiner Zeit« (S. 298) ab, vermag vor dem Hintergrund der Faustus-Interpretation nicht restlos zu überzeugen.

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Inmitten eines Feldes der Analogien gelangt man fast zwangsläufig zu jener Parallele zwischen ›Deutschen‹ und ›Juden‹, die, was Darmaun freilich ausspart, noch hinter Heine zurück bis hin zu Goethe verfolgt werden kann – auch zu Thomas Manns ›Goethe‹ in Lotte in Weimar. 12 Eine in den dreißiger Jahren für Mann wichtige Lektüre nennt hingegen auch Darmaun, nämlich Erich Kahlers im Schweizer Exil erschienenes Buch Israel unter den Völkern. 13

[21] 

Thomas Manns Modernität

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Sowenig feststeht, welches Bedeutungsspektrum »dem Juden bei Thomas Mann« zukommt, sowenig ist »der Deutsche« semantisch festgelegt. Vielmehr – und dem müßte Darmaun mehr Beachtung schenken – ist spätestens seit Nietzsches Diktum von den sich entdeutschenden Deutschen nur bedingt von ›Identität‹ als ontologischer Zuschreibung zu sprechen. Dies dürfte nicht nur Konsequenzen haben für die Diagnose von den ›zerrissenen‹ deutschen und jüdischen Figuren, sondern muß auch die vermeintliche Eindeutigkeit von Markierungen im Entwurf der Welt im Text (»X ist eine jüdische Figur«) wie auch der narrativen Umsetzung (zum Beispiel Verläßlichkeit des Erzählers) tangieren. Semantisch entsprechend markierte Figuren etwa tendieren also zu Spielmarken in einem Spiel, dessen Regeln immer wieder neu festgelegt werden. ›Nationale‹, ›völkische‹, ›rassische‹ Signifikanten referieren nicht wie im nationalen Diskurs des 19. Jahrhunderts oder im ›rassistischen‹ des 20. auf ein immer schon fixiertes Signifikat; Repräsentanten referieren auf die Fraglichkeit von (nationaler) Repräsentationen überhaupt. 14 Die Thomas-Mann-Forschung hat Fortschritte erzielt, indem sie da an die Modernität des Œuvres zu glauben begann, wo man gemeinhin den konservativen, ›realistischen‹ Erzähler gesehen hatte; gerade Darmauns Untersuchung hätte von solchen Revisionen besonders profitieren können. 15

[23] 

Zu ihnen zählt eine verfeinerte Analyse von Erzählinstanzen und damit namentlich die Herausarbeitung der ästhetischen Modernität von Doktor Faustus. Darmaun kommt in seinem häufig geübten Verfahren, ›jüdische‹ Themen, Figuren, Episoden einfach additiv zu beschreiben, zu wenig zu einer Unterscheidung von rein inhaltlicher Ebene und narratologisch zu untersuchenden Instanzen. Das, rundheraus gesagt, durch den strukturalistischen und poststrukturalistischen Impetus auf die Literaturwissenschaft spätestens seit den siebziger Jahren reifende Gespür für Ambivalenzen, für textuelle Selbstreferentialität geht ihm, dessen Bezugspunkt stets die Lebenswelt des späten 19. und des 20. Jahrhunderts ist, weitgehend ab. Gerade der Erzähler von Manns Faustroman erfuhr aber in letzter Zeit zunehmend Aufmerksamkeit. 16

[24] 

Ganz am Ende der Untersuchung erst nimmt Darmaun beiläufig jene Begrifflichkeit auf, die den Gang hätte begleiten sollen. Mann habe, und auch das ist ein Fazit, »Jüdisches« als »Metapher, bald als Sinnbild oder Symbol mit Signal- und Zeichencharakter instrumentalisiert, um zu anderen Themen, Leben und Kunst, Dekadenz, Bürger- und Künstlerdasein, Ästhetizismus und Politik, selbstverständlich [sic] auch Deutschland und die Deutschen, vorzustoßen« (S. 300).

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Assimilation als Telos

[26] 

Zweifellos: Versatzstücke zeitgenössischen antijüdischen Denkens finden sich in den Texten Thomas Manns zuhauf. Dies hat Yahya Elsaghe mit bis zur Überspitzung vorangetriebener Akribie bereits gezeigt. 17 Und man könnte vielleicht die Vermutung äußern, daß Thomas Manns Ästhetizismus sich gleichermaßen ›strukturell‹ wie ›inhaltlich‹ des zeitgenössischen Diskurses zum Judentum als eines mehrerer ›Materialreservoirs‹ bedient: Das jüdische Außenseitertum, verstanden als Intellektuellen- und Künstlertum, besitzt einerseits allegorischen Wert und verweist damit z.B. auf die Nicht-Identität des Künstlers und der Kunst schlechthin, es besitzt aber in der Geschichte der Moderne in Deutschland daneben auch ganz konkrete Relevanz.

[27] 

Extrahiert man nun aus Thomas Manns Texten sämtliche Versatzstücke aus stereotypen Eigenschaften, Namen, Diskursbruchstücken, dann kann sich nur Darmauns widersprüchliches Bild ergeben, das ostentativ projüdische Äußerungen neben offenbar karikierenden, ablehnenden Stereotypzitaten erkennen läßt. Wenn man nun aber nach dem Menschen Thomas Mann fragt, dann wird man zugeben müssen, daß ihm ›rassistisches‹ Denken nicht fremd war. Auf der anderen Seite wird man auch Darmauns Generalthese anerkennen, die als Fluchtpunkt von Manns Auseinandersetzung mit dem Jüdischen die Assimilation sehen will.

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Fazit

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Darmauns Buch ist nicht wirklich neu; es handelt sich um die deutsche Übersetzung eines bereits 1995 erschienenen Buches, 18 das aber wiederum auf Darmauns Thèse von 1985 zurückgeht. Der Leser hat es also mit einer nicht nur im Kern zwanzig Jahre alten Arbeit zu tun, denn der Verfasser und Übersetzer hat offenkundig auf eine gewiß aufwendige Überarbeitung wie auch auf eine Aktualisierung der Bibliographie fast völlig verzichtet; einige neuere Forschungsbeiträge werden lediglich in einer Fußnote der Einleitung zitiert, sind aber nicht wirklich eingearbeitet worden. Es fehlen insbesondere neuere Arbeiten zum Antisemitismus, die inzwischen auch für eine Beschäftigung mit Thomas Manns Texten unverzichtbar sind. 19 Nun ist die französische Originalausgabe des Buches auch in der deutschen Thomas-Mann-Forschung bereits rezipiert worden; es ist anzunehmen und zu hoffen, daß die späte Übersetzung diese Rezeption noch fördert und Detailstudien anregt.

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Alle angestellten Überlegungen zeugen keineswegs von einer Bedeutungslosigkeit der Monographie. Darmaun bietet eine umfangreiche Materialaufbereitung, einen zuverlässigen Problemaufriß; er wagt (erstmals und vielleicht »gerade noch«) eine Gesamtdarstellung, die das Gros der Primärtexte vom Roman bis zum Tagebucheintrag erfassen will. Schließlich organisiert er sein Material sinnvoll, die reiche Gliederung und das Register machen den Band zum jederzeit gebrauchsfähigen Handbuch. Im Vergleich zu Elsaghe wertet Darmaun behutsam und ist um eine globale, hermeneutische, nicht um eine semanalytische oder diskursanalytische Sicht auf die Quellen bemüht. Die beiden Bücher ergänzen einander geradezu; Darmauns Übersetzung kommt spät, aber rechtzeitig.


Prof. Dr. Jochen Strobel
Philipps-Universität Marburg
Institut für Neuere deutsche Literatur
Wilhelm-Röpke-Str. 6A
DE - 35032 Marburg

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Ins Netz gestellt am 20.04.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserer Fachreferentin Prof. Dr. Bettina von Jagow. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Stephanie Becker.

Empfohlene Zitierweise:

Jochen Strobel: »Die Förderung der jüdischen Angelegenheit ...«. Einmal mehr: Thomas Mann, die Deutschen und die Juden. (Rezension über: Jacques Darmaun: Thomas Mann, Deutschland und die Juden. Tübingen: Max Niemeyer 2003.)
In: IASLonline [20.04.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=660>
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Anmerkungen

Hermann Kurzke: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Eine Biographie. München: C.H. Beck 1999, S. 207 ff.   zurück
Thomas Klugkist: 49 Fragen und Antworten zu Thomas Mann. Frankfurt / Main: S. Fischer 2003, S. 199 ff.   zurück
Rolf Thiede: Stereotypen vom Juden. Die frühen Schriften von Heinrich und Thomas Mann. Berlin: Metropol 1998.   zurück
Yahya Elsaghe: Die imaginäre Nation. Thomas Mann und das ›Deutsche‹. München: Fink 2000. – Vgl. meine Rezension in: Arbitrium 1 / 2001, S. 105–110.   zurück
Zu diesem Komplex ist nach wie vor wegweisend Hans Wißkirchens Studie: Zeitgeschichte im Roman. Zu Thomas Manns Zauberberg und Doktor Faustus. (Thomas-Mann-Studien 6) Bern: Francke 1986.   zurück
Thomas Mann: Die Lösung der Judenfrage. In: T. M: Essays. Band 1: Frühlingssturm 1893–1918. Hg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. Frankfurt / Main: Fischer Taschenbuch 1993, S. 94–97, hier S. 96.   zurück
Vgl. Elsaghe (wie Anm. 4), S. 27 ff.   zurück
Ein solcher Hinweis fehlt zum Beispiel bei Hermann Kurzke: Dostojewski in den Betrachtungen eines Unpolitischen. In: Eckhard Heftrich / Helmut Koopmann (Hg.): Thomas Mann und seine Quellen. (FS Hans Wysling) Frankfurt / Main: Klostermann 1991, S. 138–151.   zurück
Thomas Mann: [Zur jüdischen Frage]. In: T. M.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Band XIII: Nachträge. Frankfurt / Main: S. Fischer 1974, S. 466–475, hier S. 470 f.   zurück
10 
En détail weist Darmauns These, die Goldberg-Rezeption Manns sei eine gegen Goldberg gerichtete gewesen, nach: Christian Hülshörster: Thomas Mann und Oskar Goldbergs Wirklichkeit der Hebräer (Thomas-Mann-Studien 21) Frankfurt / Main: Klostermann 1999.   zurück
11 
Vgl. Thomas Mann: Bruder Hitler. In: T. M.: Essays. (wie Anm. 6) Band 4: Achtung, Europa! 1933–1938. Frankfurt / Main: Fischer Taschenbuch 1995, S. 305–312.   zurück
12 
Vgl. Thomas Mann: Lotte in Weimar. Hg. und textkritisch durchgesehen von Werner Frizen. (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Band 9.1) Frankfurt / Main: S. Fischer 2003, S. 335 und S. 410 f., sowie dazu Werner Frizens Kommentar (Ebd. Band 9.2, S. 734 f.).   zurück
13 
Zürich: Humanitas 1936. Zum Thema »Deutsche und Juden« vgl. S. 113 und S. 128.   zurück
14 
Zu verweisen ist hier bereits auf Gunter Reiss: Allegorisierung und moderne Erzählkunst. München: Fink 1970; neben anderem vgl. Jochen Strobel: Entzauberung der Nation. Die Repräsentation Deutschlands im Werk Thomas Manns (Arbeiten zur neueren deutschen Literaturgeschichte 1) Dresden: Thelem 2000.   zurück
15 
Wichtig in diesem Zusammenhang ist: Rolf-Günter Renner: Die Modernität des Werks von Thomas Mann. In: Hans Joachim Piechotta u. a. (Hg.): Die literarische Moderne in Europa. Band 1: Erscheinungsformen literarischer Prosa um die Jahrhundertwende. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 398–415.   zurück
16 
So untersucht Inken Steen die »Selbstaufhebung« des Erzählens im Begriff der Parodie, Gerhard Kaiser macht gar eine »Polysemantizität« aus, die sich aus der Konfrontation der leitmotivischen Vernetzungstechnik mit der Erzählerfigur ergebe. (Inken Steen: Parodie und parodistische Schreibweise in Thomas Manns Doktor Faustus. Tübingen: Max Niemeyer 2001. – Gerhard Kaiser: »…und sogar eine alberne Ordnung ist immer noch besser als gar keine.« Erzählstrategien in Thomas Manns Doktor Faustus. Stuttgart / Weimar: Metzler 2001.)   zurück
17 
Vgl. Anm. 4.   zurück
18 
Jacques Darmaun: Thomas Mann et les Juifs. (Collection Contacts. Série III – Études et documents 27) Bern u.a.: Peter Lang 1995.   zurück
19 
Stellvertretend seien genannt: Dietz Bering: Der Name als Stigma. Antisemitismus im Deutschen Alltag 1812–1933. Stuttgart: Klett-Cotta 1988. – Sander L. Gilman: Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden. Frankfurt / Main: Jüdischer Verlag 1993 (Amerik. OA 1986).   zurück