Uli Jung

NS-Propagandafilme, unsystematisch




  • Rolf Giesen: Nazi Propaganda Films. A History and Filmography. Jefferson NC, London: McFarland & Company 2003. 287 S. Gebunden. USD 40,95.
    ISBN: 0-7864-1556-8.


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In der akademischen Welt der USA ist die Geschichte des NS-Films seit geraumer Zeit ein wichtiges Forschungsfeld. Angestoßen durch die viel beachteten Untersuchungen von Eric Rentschler 1 und Linda-Schulte-Sasse 2 haben neben einer Sondernummer der New German Critique 3 seit dem Jahr 2000 auch Jo Fox, 4 Robert C. Reimer, 5 Sabine Hake 6 und Antje Ascheid 7 weitere wichtige Bücher zum Thema vorgelegt. Zusätzlich ist auch eine Übersetzung von Felix Moellers Untersuchung über Goebbels und den Film im ›Dritten Reich‹ in einer englischen Übersetzung erschienen. 8 All diese Buchpublikationen haben in wesentlichen Teilen ihrer Untersuchungen den sogenannten ›unpolitischen‹ Unterhaltungsfilm der Nazizeit zum Gegenstand.

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Nun legt der Berliner Filmhistoriker Rolf Giesen eine Geschichte und kommentierte Filmografie des Nazipropagandafilms vor, die kurze Zeit später auch in einer deutschen Fassung auf den Markt gekommen ist. 9 Allerdings geht es um ein Buch, das akademischen Standards nicht genügt: Nicht nur ist die filmgeschichtliche Sekundärliteratur so gut wie gar nicht eingearbeitet, in der ohnehin recht kurzen Bibliographie (S. 275–277) fehlen wichtigste Standardwerke 10 und neueste Untersuchungen in Buchform; 11 auch die Forschung zur nationalsozialistischen Filmarbeit vor 1933 fehlt vollkommen. 12

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Schlechtes Englisch, keine Methode

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In bedenklich ungelenkem Englisch, das vor Germanismen nur so strotzt, – hat denn der Verlag kein Lektorat? – nähert sich Giesen seinen Gegenständen an. Es gibt keine Einführung in die NS-Filmpolitik oder -wirtschaft, keinerlei Begriffsdefinitionen oder historische Herleitungen, die geeignet wären, die Filmpropaganda diachronisch oder in ihrer internationalen Synchronität zu bestimmen. Es gibt auch keine konsistente Analysemethode, denn Giesen analysiert die in Frage stehenden Filme nicht. Er begnügt sich mit Darstellungen auf der Basis von Inhaltsangaben und stützt sich dabei überwiegend auf zeitgenössische Reaktionen, die er in der (gleichgeschalteten) Presse oder gar gleich dem Presseheft entnimmt. Er verlässt sich also auf Einlassungen der NS-Publizistik.

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Im Zweifelsfall scheint er dem Presseheft mehr zu trauen als dem Film selbst. Wie sonst wäre es zu erklären, dass er Spähtrupp Hallgarten (1941, R: Herbert B. Fredersdorf) als »ideal combination of the resulting [sic] romantic mountaineer films à la Arnold Fanck and Luis Trenker and war films« (S. 59) charakterisiert, der »a film about the actual fighting experience of mountain soldiers in Norway in 1941« (S. 60) sei? Damit ist nur ein Teil des Films beschrieben. Mindestens ebenso wichtig ist aber die in den Alpen spielende Dreiecksgeschichte zwischen zwei befreundeten Gebirgsjägern und einer von beiden geliebten Frau, die – nach dem Tod eines der Freunde – in der sexuellen Entsagung endet – ein NS-Topos par excellence. Abgesehen davon ist der Vergleich mit Fanck und Trenker weit hergeholt. Hat Giesen den Film etwa gar nicht gesehen?

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Zitate, Zitate

[7] 

Giesens Buch lebt von (oft Seiten langen) Zitaten. Es ist aber dennoch keine Dokumentation, die versucht, die NS-Filmpropaganda aus ihrer Zeit heraus zu erklären. Es wäre ja unter Umständen interessant, die sprachlichen Signale zu untersuchen, mit denen die NS-Filmindustrie ihre Produkte begleitet hat; dafür bedürfte es allerdings einer breiten Kommentierung und Kontextualisierung, die Giesen nicht leistet. Ganz unsystematisch – und oft mit launigem Unterton – formuliert er allenthalben Allgemeinplätze: »There it is: in Germany, the so highly popular term order which excuses everyone and everything. Ein Befehl, jawohl, mein Führer, stillgestanden [...]« (S. 20) So reagiert er beispielsweise auf einen Exkulpierungsversuch der Leni Riefenstahl.

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Leni Riefenstahl

[9] 

A propos Leni Riefenstahl: Ihr widmet Giesen das gesamte Kapitel 2 – »Triumph of the Will: The Odd Case of Leni Riefenstahl« (S. 18–34) –, ohne die umfangreiche Literatur auszuwerten. Seine Hauptquellen sind Riefenstahls Autobiografie 13 und die Artikelserie »How Leni Riefenstahl Became Hitler’s Girlfriend«, die der ehemalige Chefredakteur des Film-Kurier, Ernst Jäger, 1939 im Zusammenhang mit Riefenstahls umstrittenen USA-Besuch (während dessen er sich von der Entourage absetzte, um nicht ins Deutsche Reich zurückkehren zu müssen) für die Hollywood Tribune geschrieben hat. Beiden Quellen ist es nicht um Objektivität zu tun; die Autoren verfolgen mit ihren Diskursen ganz eigene Agenden: Exkulpierung auf Seiten Riefenstahls, Entrée billette für Hollywood auf Seiten Jägers. Je einmal wird punktuell aus den Büchern von Rainer Rother, David B. Hinton und Audrey Salkeld 14 (in Giesens konsistenter Schreibung: Salked !) zitiert; dort hätte Giesen aber die notwendigen Relativierungen seiner Quellen nachlesen können. Die wichtigen biografischen Studien von Lutz Kinkel und Jürgen Trimborn 15 sowie die intensive Analyse von Triumph des Willens von Martin Loiperdinger 16 sucht der Lesers vergeblich.

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Ich erspare mir weitere Beispiele, denn die hier skizzierten Desiderate setzen sich durch das gesamte Buch fort. Giesen stellt die Filme nicht chronologisch vor, sondern ordnet sie thematisch. Ein um so größerer Service für seine amerikanischen Leser wäre es gewesen, wenn er die Filmtitel im diskursiven Teil wenigstens systematisch mit Produktionsjahren versehen hätte und sie nicht zu zwingen, ständig in der Filmographie nachzuschlagen.

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Dieser filmographische Teil (S. 185–232) gibt ausführliche Daten für 118 Filme, die alphabetisch nach ihren deutschen Titeln geordnet sind. Das sind faktographische Informationen, die für amerikanische Leser interessant sein können. Ein das Buch abschließendes »Who´s Who of Hitler Era Filmmaking [sic]« (S. 233–266) vereinigt Angaben über 146 Personen. Selbst wenn ich unterstelle, dass Giesens Auswahlkriterium die Beteiligung an politisch-propagandistischen Filmen gewesen sein mag – es gibt kein Vorwort zum personenlexikalischen Teil, das hier Klarheit schaffen könnte – fehlen wichtige Namen: die Drehbuchautorin Thea von Harbou, die Produzenten Alf Teichs, Ludwig Klitzsch und Ernst Hugo Corell, alle Reichsfilmdramaturgen außer Ewald von Demandowsky, selbst Hans Albers oder Paul Wessely sucht man vergeblich, nicht zu reden von den ›unpolitischen‹ DarstellerInnen wie Heinz Rühmann, Hans Moser, Theo Lingen, Zarah Leander, Lilian Harvey, Heidemarie Hatheyer oder Marika Rökk; auch diese Reihe ließe sich beliebig fortsetzen.

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Fazit

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Giesen hat ein Buch vorgelegt, dass niemandem, der auch nur ein wenig in die Geschichte des NS-Films eingelesen ist, irgend etwas Neues berichtet. Das ist nicht schlimm; schlimmer ist hingegen, dass es dem nicht vorgebildeten Leser nicht die notwendigen Informationen an die Hand gibt, die es braucht, die Filmgeschichte des »Dritten Reiches« in ihrer Komplexität aus Indoktrination, Propaganda, Ablenkung, Wirtschaftlichkeitserwägungen, politischer Opportunität etc. zu verstehen.


Dr. Uli Jung
Universität Trier
Medienwissenschaft
Universitätsring 15
DE - 54286 Trier

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Ins Netz gestellt am 11.02.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer.

Empfohlene Zitierweise:

Uli Jung: NS-Propagandafilme, unsystematisch. (Rezension über: Rolf Giesen: Nazi Propaganda Films. A History and Filmography. Jefferson NC, London: McFarland & Company 2003.)
In: IASLonline [11.02.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=666>
Datum des Zugriffs:

Zum Zitieren einzelner Passagen nutzen Sie bitte die angegebene Absatznummerierung.


Anmerkungen

Eric Rentschler: The Ministry of Illusion: Nazi Cinema and its Afterlife. Cambridge, MA / London: Harvard UP 1996.   zurück
Linda Schulte-Sasse: Entertaining the Third Reich: Illusions of Wholeness in Nazi Cinema. Durham / London: Duke UP 1996; das Buch geht zurück auf Schulte-Sasses Dissertation The Never Was as History: Portrayals of the 18th Century in the National Socialist Film. Phil. Diss, Univ. of Minnesota 1985.   zurück
New German Critique 74(Spring / Summer 1989); Special issue on: Nazi Cinema.    zurück
Jo Fox: Filming Women in the Third Reich. New York / Oxford: Berg 2000.    zurück
Robert C. Reimer (ed.): Cultural History through a National Socialist Lens: Essays on the Cinema of the Third Reich. Rochester, NY: Camden House 2000.    zurück
Sabine Hake: Popular Cinema of the Third Reich. Austin, TX: U Texas Pr. 2001.    zurück
Antje Ascheid: Hitler’s Heroines: Stardom and Womanhood in Nazi Cinema. Philadelphia, NJ: Temple UP 2003.   zurück
Felix Moeller: The Film Minister: Goebbels and the Cinema in the ›Third Reich‹. Stuttgart / London: Ed. Axel Menges 2000.   zurück
Rolf Giesen: Hitlerjunge Quex, Jud Süss und Kolberg: Die Propagandafilme des Dritten Reiches. Berlin. Schwarzkopf & Schwarzkopf 2003.   zurück
10 
Z.B. Wolfgang Becker: Film und Herrschaft: Organisationsprinzipien und Organisationsstrukturen der nationalsozialistischen Filmpropaganda. Berlin: V. Spiess 1973; Jürgen Spiker: Film und Kapital: Der Weg der deutschen Filmwirtschaft zum nationalsozialistischen Einheitskonzern. Berlin: Spiess 1975; Julian Petley: Capital and Culture: German Cinema 1933–45. London: BFI 1979; Bogusław Drewniak: Der deutsche Film 1938–1945: Ein Gesamtüberblick. Düsseldorf: Droste 1987; Stephen Lowry: Pathos und Politik: Ideologie in Spielfilmen des Nationalsozialismus. Tübingen: Niemeyer 1991; Klaus Kanzog: ›Staatspolitisch besonders wertvoll‹: Ein Handbuch zu 30 deutschen Spielfilmen der Jahre 1934 bis 1945. München: diskurs film 1994.    zurück
11 
Z.B. die wichtigen rezeptionshistorischen Studien von Gerhard Stahr: Volksgemeinschaft vor der Leinwand: Der nationalsozialistische Film und sein Publikum. Berlin: H. Theissen 2001; Bernd Kleinhans: Ein Volk, ein Reich, ein Kino: Lichtspiel in der braunen Provinz. Köln: PapyRossa 2003.    zurück
12 
Vgl. Thomas Hanna-Daoud: Die NSDAP und der Film bis zur Machtergreifung. Köln u.a.: Böhlau 1996.   zurück
13 
Leni Riefenstahl: Memoiren. München / Hamburg: A. Knaus 1987.   zurück
14 
Rainer Rother: Leni Riefenstahl: Die Verführung des Talents. Berlin: Henschel 2000; David B. Hinton: The Films of Leni Riefenstahl. Metuchen, NJ / London, 2. Aufl. 1991; Audrey Salkeld: A Portrait of Leni Riefenstahl. London: Pimlico / Random House 1996.   zurück
15 
Lutz Kinkel: Die Scheinwerferin: Leni Riefenstahl und das ›Dritte Reich‹.Hamburg / Wien: Europa 2002; Jürgen Trimborn: Riefenstahl: Eine deutsche Karriere – Biographie. Berlin: Aufbau 2002.   zurück
16 
Martin Loiperdinger: Rituale der Mobilmachung: Der Parteitagsfilm Triumph des Willens von Leni Riefenstahl. Opladen: Leske + Budrich 1987.   zurück