Joachim Grage

Die Sublimierung wilder Urwaldrhythmen

Eine skandinavische Literaturgeschichte des Jazz




  • Frithjof Strauß: Soundsinn. Jazzdiskurse in den skandinavischen Literaturen. (Nordica 5) Freiburg im Breisgau: Rombach 2003. 577 S. Paperback. EUR 56,00.
    ISBN: 3-7930-9305-0.


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Im letzten Absatz seiner Greifswalder Dissertation besinnt sich der Skandinavist Frithjof Strauß auf das dänische Wort ›gammelmodernistisk‹, mit dem er in der Rückschau die Konzeption seiner eigenen Arbeit verstanden wissen will: »Altmodernistisch, weil sie an die künstlerische Innovation glaubt und an die Möglichkeit voraussehbarer und noch nicht bekannter Formerlebnisse« (S. 548). Einem in der Postmoderne diskutierten Ende der Kunst hält Strauß das Innovationspotential des Jazz entgegen, das er, gespiegelt in der Literatur, über knapp einhundert Jahre hinweg verfolgt hat und das er auch in Zukunft für unerschöpflich hält. Altmodernistisch ist seine Konzeption jedoch noch in anderer Hinsicht: Strauß hält offensichtlich auch nichts vom Ende der (Literatur)geschichte und der Interpretation, er ist kühn genug, historische Verläufe in einem Phasenmodell zu systematisieren und vertraut auf die Ergiebigkeit eines semiotischen Modells. Das Ergebnis, soviel sei vorweggenommen, ist beeindruckend.

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Auch eine Geschichte
der modernen skandinavischen Literaturen

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Wer sich wie Strauß vornimmt, »eine Geschichte des literarischen Jazzdiskurses in Skandinavien nachzuzeichnen« (S. 12), hat es mit einem Untersuchungszeitraum von einem ganzen Jahrhundert und mit drei Nationalliteraturen zu tun: der dänischen, der schwedischen – einschließlich der schwedischsprachigen Literatur Finnlands – sowie der norwegischen; die isländische und die färöische Literatur bleiben unberücksichtigt. Eine erste, vereinzelte Begegnung mit afroamerikanischer Musikästhetik macht Strauß in einem 1902 erschienenen Roman des dänischen Autors Gustav Wied aus, wo eine groteske Gesangs- und Tanzdarbietung im Berliner Varieté »Wintergarten« geschildert wird. Als Phänomen, das »eine spezifische ästhetische Erfahrung« (S. 11) vermittelt, wird die neue Musikrichtung in Europa allerdings erst ab circa 1920 wahrgenommen, nachdem die ersten Schallplatten mit afroamerikanischer Musik über den Atlantik gelangt sind. Seitdem ist Jazz auch in der skandinavischen Literatur ein Thema, wobei Strauß darlegt, wie sich der literarische Diskurs darüber mit zahlreichen anderen, für die Literatur des 20. Jahrhunderts eminent wichtigen Diskursen überschneidet:

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Jazz steht im Zusammenhang mit der Erfahrung von Urbanität, ethnischer Alterität, Globalisierung, Körperlichkeit, Sexualität und Medialität, also mit zentralen Themen der Moderne. Strauß zeigt mit seiner Arbeit, wie man sich über diese thematische Herangehensweise wesentliche Bereiche der Literatur erschließen kann, und so schreibt er auch eine skandinavische Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts, in der zwar nicht alle großen Namen der nordischen Moderne auftreten, die aber weit über ihren thematischen Rahmen hinausweist und gerade dadurch, dass sie sich nicht auf kanonische Texte beschränkt, neue Einblicke in das Jahrhundert gewährt.

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Umfangreiches Textkorpus,
weltliterarisch verortet

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Dass der Autor hinsichtlich des untersuchten Korpus »Defizite […] auf dem Feld der Trivialliteratur« (S. 85) eingesteht, 1 mag man ihm verzeihen angesichts der Fülle an Texten, die er zur Kenntnis genommen und in seine Untersuchung eingebaut hat: im Verzeichnis der Primärliteratur sind mehr als 230 Einträge zu finden, hinzu kommen Hunderte von Gedichten von mehr als 70 Autoren, die in einem »Verzeichnis der skandinavischen Jazzlyrik nach 1950« (S. 550–563) aufgeführt und nach ihrem Bezug auf bestimmte Jazz-Interpreten und -Richtungen tabellarisch erfasst werden. Mit berechtigtem Selbstbewusstsein bezeichnet Strauß dieses Korpus als »absolut repräsentativ« (S. 85). Allein die Recherche und Sichtung dieser Textmengen ist eine beachtliche Leistung, daraus eine literarische Diskursgeschichte zu formen, ist eine Großtat. Souverän und ohne jedwede Stoffhuberei führt Strauß seinen Leser durch diesen literarischen Wald, ohne dass man jemals das Gefühl hat, vom Weg abzukommen und das Ziel aus den Augen zu verlieren. Angesichts des enzyklopädischen Zuschnitts dieser Arbeit vermisst man allerdings ein Register, das demjenigen, der nur einen Autor nachschlagen möchte, die Orientierung in dem von Namen gesättigten Buch immens erleichtert hätte.

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Als sei ihm die skandinavische Literatur noch nicht genug, reißt Strauß obendrein noch auf zwanzig Seiten die Geschichte des Jazz in der Weltliteratur auf, ein Überblickskapitel, das mehr bietet als ein bloßes name-dropping: hier werden drei Bewegungen als maßgeblich herausgearbeitet (»die Harlem-Renaissance in den 1920er Jahren […], der Pariser Existenzialismus der Nachkriegszeit und die Beat Generation um 1960«, S. 64), sodann Werke der europäischen und angloamerikanischen Literatur genannt und kommentiert, die außerhalb dieser Bewegungen stehen, und schließlich wird noch gesondert auf Lateinamerika fokussiert, wo die Literatur ebenso wie auch die Musik in besonderer Weise eine »amalgamierende und dadurch schöpferische Qualität« (S. 73) entfaltet, was Strauß in der diese Kultur prägenden Ästhetik des katholischen Barock begründet sieht und was dem intermedialen Schreiben offenbar zu gute kommt.

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Pionierarbeit

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So wenig es überrascht, dass die Literatur zum neuartigen ästhetischen Phänomen des Jazz Stellung nimmt, so erstaunlich ist es, dass dies von der skandinavistischen Literaturwissenschaft bislang kaum wahrgenommen wurde, vor allem auch, weil der Jazz in Skandinavien einen weitaus höheren Stellenwert im Musikleben und (relativ gesehen) ein viel größeres und gemischteres Publikum hat als beispielsweise in Deutschland. Lediglich zur schwedischen Jazzlyrik liegt bislang eine Monographie vor, 2 Aufsätze auch zur Erzählliteratur und zu den anderen skandinavischen Literaturen kann man an zwei Händen abzählen, wobei ein Großteil davon wiederum in einem von Strauß als Mitherausgeber redigierten Sammelband erschienen ist. 3 Das ist umso verwunderlicher, als Interarts-Studies und Intermedialitätsforschung in Skandinavien seit geraumer Zeit betrieben werden, 4 wobei allerdings generell zu beobachten ist, dass den Wechselwirkungen von Literatur und Musik weniger Beachtung geschenkt wird als beispielsweise den Text-Bild-Bezügen. Strauß betritt mit seiner Studie für den skandinavischen Raum also in vielerlei Hinsicht Neuland.

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Auch hinsichtlich der Ästhetik des Jazz ist die Forschungsgrundlage, auf die Strauß aufbauen könnte, dünn. Die einzige größere deutschsprachige Arbeit zu diesem Thema, Stephan Richters Dissertation Zu einer Ästhetik des Jazz (1995), genügt den Ansprüchen des Autors nicht und wird in einer Fußnote unsanft abserviert, gehe Richter doch von der spekulativen Annahme aus, der Jazz habe »von vornherein einen begrenzten außermusikalischen Inhalt« (S. 15). Damit ist ein grundsätzlicheres Problem angesprochen: die Frage nach der Semantisierung von Musik generell und daraus resultierend nach den Voraussetzungen für eine sprachliche Bezugnahme auf Musik – Fragen, die in der musikoliterarischen Forschung der letzten Jahre verstärkt in den Blick gerückt sind. Es verwundert etwas, dass sich die Untersuchung nicht allzu umfassend mit dieser Diskussion befasst, was möglicherweise aber auch dem Umstand geschuldet ist, dass die Arbeit zum Zeitpunkt ihrer Publikation schon drei Jahre auf dem Buckel hatte, seit sie als Dissertation eingereicht worden ist. Die Forschung der letzten fünf Jahre, vor allem die einschlägigen Arbeiten Lawrence Kramers und Werner Wolfs sowie die Schriften der 1997 gegründeten Association for Word and Music Studies (WMA), 5 sucht man daher vergebens. So entsteht der Eindruck, lediglich Steven Paul Scher, Nestor der musikoliterarischen Forschung, habe sich systematisch mit dem Thema »Musik und Literatur« befasst. Seine Typologie, deren Terminologie Strauß zu Recht als problematisch bezeichnet (S. 56), ist inzwischen revidiert und aktualisiert worden. 6

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Semiose und Musiksemiotik

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Das Problem der Semantisierung der Musik geht Strauß von musiksemiotischer Seite aus an und fragt folglich »nicht mehr nach einem vermeintlich essentiellen semantischen Potential der Musik«, sondern danach, »welche Bedeutungs- und Funktionszuschreibungen in welchen spezifischen kulturellen Konstellationen auf welche Weise erfolgen« (S. 56). Dass Musik »zum Gegenstand einer Semiose [wird], also zum Ausgangspunkt von Bedeutungsproduktion oder -verknüpfung« (ebd.), ist für ihn möglich, aber nicht notwendig. Zur näheren Klassifizierung dieses semiotischen Prozesses stützt er sich auf den dreigliedrigen Zeichenbegriff von Charles S. Peirce und bedient sich dessen Differenzierung von ikonischen, indexikalischen und symbolischen Beziehungen zwischen Zeichen und bezeichnetem Objekt. Seine theoretischen Überlegungen und begrifflichen Festlegungen sind kein Pflichtprogramm, sondern bilden die Grundlage für seine späteren Analysen, in denen er immer wieder auf die Trias der Zeichen-Objekt-Relation zurückkommt.

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Das gilt nicht in gleicher Weise für den »libidinöse[n] Modus des Hörens« (S. 52), den Strauß mit Bezug auf Roland Barthes noch kontrastiv zu dieser semiotisch entziffernden Rezeption von Musik heranzieht und der sich darin äußere, dass der Hörer im Moment des Hörens vor allem sich selbst und sein Hören erlebe, ein Modus, der zum Jazz eine besondere Affinität habe. Das klingt reizvoll, nur dass sich dieser Modus im literarischen Jazzdiskurs kaum niederschlagen kann, liegt auf der Hand: Er führt zu einem Schweigen über die Musik und allenfalls zum Sprechen über das Ich. Dementsprechend greift Strauß diese bereits bei Barthes eher vage formulierte Theorie später auch nicht wieder auf.

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Jazzästhetik
und Primitivismusverdikt

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Um die spezifische Ästhetik des Jazz zu bestimmen, arbeitet Strauß zunächst einmal wesentliche formale Charakteristika dieser Musik heraus: den durch rhythmische Akzentuierungen und Verzögerungen erzeugten swing, das um »unsaubere« Zwischentöne erweiterte Tonmaterial, die Improvisation, welche »Formkunst anstatt Inhaltskunst« (S. 23) sei und die sich vor allem dem Werkbegriff der bürgerlichen europäischen Kunst widersetze, sowie die Oralität, die sich darin zeige, dass Instrumente (allen voran das Saxophon) wie die menschliche Stimme, die Stimme hingegen im nonverbalen Gesang wie ein Instrument eingesetzt würden.

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Für die Rezeption der in dieser Weise verfahrenden afroamerikanischen Musik sei außerdem wichtig, dass sie in Europa im Kontext avantgardistischer Strömungen wahrgenommen worden sei, mit denen sie eine Reihe von Kriterien gemeinsam habe. 7 Selbst eher eine undogmatische Kunstrichtung, werde sie von einer programmatischen Ästhetik der Moderne überlagert und intellektualisiert, woran die Literatur einen nicht unerheblichen Anteil hat, wie die späteren Analysen zeigen. Der Jazz werde benutzt, um sich im ästhetischen Diskurs als avantgardistisch zu positionieren, ohne dass die Musik selbst von den Zeitgenossen als avantgardistisch wahrgenommen worden sei. Denn dem stehe das »Primitivismusverdikt« (S. 38) entgegen, dem die afroamerikanische Musik unterliege. Von Beginn an, so Strauß, sei der Jazzdiskurs bestimmt von dem Topos, »daß die Jazzkunst aus dem Leben erwachse und daß die Musik förmlich Erfahrungen und Passionen von Körper und Lebenssituation ihrer Produzenten widerspiegele« (S. 41), Zuschreibungen, die ganz offensichtlich daher rührten, dass die schwarzen Musiker zu edlen Wilden stilisiert worden seien, die naturhaft und unbewusst ihre Kunst hervorbringen.

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Drei-Phasen-Modell
der Jazz-Rezeption

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Wie hartnäckig sich dieser Topos in der literarischen Auseinandersetzung mit dem Jazz hält, zeigt Strauß im Hauptteil seiner Arbeit, in dem er nacheinander die Literaturen Dänemarks, Schwedens und Norwegens durchforstet und deren Texte über den Jazz analysiert. Den Verlauf dieser Auseinandersetzung unterteilt er in drei Rezeptionsphasen, deren scharf gezogene Grenzen zunächst willkürlich anmuten: Die Zeit vor 1930 bezeichnet Strauß als »Initialphase«, in der erste Erfahrungen mit der neuen Musikrichtung formuliert werden, den Zeitraum von 1930 bis 1950 als »Etablierungsphase«, in der sich der Jazz vor allem als Tanz- und Unterhaltungsmusik einen festen Platz im kulturellen Leben erobert, und die Zeit nach 1950 als »Ästimationsphase«, in welcher der Kunstcharakter dieser Musik immer stärker wahrgenommen und wertgeschätzt wird.

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Diese Einteilung suggeriert zumindest im Groben eine Gleichartigkeit des historischen Verlaufs, so als sei die Entwicklung in allen drei Ländern gleich, getragen von jeweils nur unterschiedlichen Akteuren, doch dieses Bild trügt: Es geht Strauß nicht darum, die Geschichte des literarischen Jazzdiskurses zu normieren, vielmehr erweist sich die Phaseneinteilung als ein gemeinsamer Nenner, der die drei Literaturen vergleichbar macht. Mit der jeweiligen zeitlichen Grenzziehung hält es Strauß flexibel: Nicht das Erscheinungsjahr, sondern der Inhalt eines Textes entscheidet letztlich, welcher Phase er zuzurechnen ist.

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Varianzen des Verlaufs

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Jede der drei Phasen wird in einem eigenen Kapitel behandelt, das jeweils mit einem musikhistorischen Überblick über den untersuchten Zeitraum im jeweiligen Land eingeleitet wird, da der Jazz, seine Produktions- und Rezeptionsbedingungen sich in dem Untersuchungszeitraum ebenso verändert haben wie der Diskurs über ihn: Eine Literaturgeschichte des Jazz ist ohne eine Geschichte des Jazz nicht zu haben. Das Schreiben über den Jazz ist von der Präsenz dieser Musik in den einzelnen nationalen Kulturen, vor allem aber auch in den Unterhaltungslokalen und Konzertsälen der Städte abhängig. Doch ob die Literatur den ästhetischen Impuls der Musik aufnimmt, ist eine andere Sache und wiederum abhängig von der Beschaffenheit des literarischen Feldes im jeweiligen Land. Obwohl nämlich die Musikentwicklung in den einzelnen skandinavischen Ländern recht ähnlich ist, verläuft die literarische Entwicklung unterschiedlich.

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In allen drei Ländern breitete sich der Jazz zunächst in der Weise aus, dass einzelne Elemente, vor allem die synkopierten Rhythmen, in Schlager und Tanzmusik integriert wurden, doch nur in Dänemark und Schweden fand diese neue Musik auch gleich ihren literarischen Niederschlag. In Dänemark wurde der Jazz vor allem zunächst als neu- und fremdartiges Alltagsphänomen beschrieben, während sich in Schweden bereits früh experimentelle Poesie mit dem musikalischen Phänomen befasste. In Norwegen hingegen bleibt der Jazz bis weit in die 1950er Jahre hinein nur vereinzelt und am Rande Thema. Von einer Etablierungsphase mag Strauß hier kaum sprechen, zum einen, weil die als Jazz bezeichnete Tanzmusik der 1920er Jahre bald an Popularität verlor, zum anderen, weil die Literatur mit anderen Dingen beschäftigt war: hier wurden vor allem soziale und nicht ästhetische Fragen diskutiert. Erst lange nach dem Zweiten Weltkrieg und einer die Herausbildung neuer poetischer Verfahren lähmenden Wertedebatte schließt Norwegen an die Entwicklung in den anderen Ländern an, sowohl musikalisch als auch literarisch.

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Untersuchte Textsorten

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Die Einzelanalysen widmen sich vor allem Erzähltexten. Gedichte werden nur dann als Einzeltexte in den Blick genommen, wenn mehrere Jazz-Gedichte in einer Sammlung veröffentlicht wurden. Darüber hinaus beschäftigt sich Strauß auch mit nicht-fiktionalen Prosatexten zum Jazz, wenn diese eine große Bedeutung für den Jazz-Diskurs hatten oder wenn sie von Autoren stammen, die auch literarische Jazz-Texte geschrieben haben. Die Erzähltexte und die Lyrik werden sowohl in der Originalsprache als auch in deutscher Übersetzung dargeboten. Sachtexte dagegen werden ausschließlich in deutscher Übersetzung zitiert, eine Entscheidung, die ich für anfechtbar halte, weil sie eine unnötige Differenzierung in der Bewertung des Jazzdiskurses mit sich bringt: warum sollte der Originalwortlaut bei essayistischen Texten keine Rolle spielen, warum interessiert bei diesen Texten nur der Inhalt, nicht die Sprache? Ich vermute, dass hier praktische Erwägungen eine Rolle gespielt haben: Wahrscheinlich sollte der Umfang des immerhin bereits 577 Seiten starken Werks in Grenzen gehalten werden. Dies ist wohl auch der Grund dafür, dass die Gedichte zwar mit markiertem Zeilenwechsel, nicht aber mit originalem Zeilenumbruch, sondern als Fließtext zitiert werden. 8 Das spart zwar einige Seiten, ist aber unfreundlich gegenüber den Lesern und den Gedichten: die typographische Gestaltung ist nun einmal wesentlicher Bestandteil von lyrischer Sprache! Da der Autor ansonsten mit großem ästhetischen Gespür zu Werke geht, darf man vermuten, dass ihm diese Entscheidung nicht leicht gefallen ist.

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Lyrik als zentrale Gattung – marginalisiert

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Wegen der großen Menge an Gedichten, die nicht alle einzeln in der Untersuchung besprochen werden können, behandelt Strauß die Jazzlyrik in den einzelnen Sprachen am Ende des jeweiligen Kapitels über die ›Ästimationsphase‹, da sie zum Großteil dieser Zeit entstammt. Gemessen an der Tatsache, dass »die textmengenmäßig größte Auseinandersetzung mit dem Jazz« (S. 88) in der Lyrik nach 1950 stattfindet und dass diese sich »als die zentrale Gattung für das Jazzthema herausbildet« (S. 548), wird ihr nur wenig Platz eingeräumt: nicht einmal 20 Seiten sind es für alle drei Länder insgesamt, hinzu kommt die katalogische Erfassung im Anhang. Dabei wird die Lyrik in den drei Sammelkapiteln vor allem statistisch in Hinblick auf Erscheinungszeitraum und behandelte Themen ausgewertet, einzelne Texte werden nicht herausgehoben.

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Kompensation soll ein gesondertes Kapitel über »Jazzkünstler in skandinavischen Gedichten seit 1950« (S. 519–544) bieten, in dem am Beispiel dieses eingegrenzten Textkorpus zunächst historische Verläufe und wiederum statistische Verteilungen (samt einer Hitliste der meistgenannten Jazzmusiker) dargestellt werden, bis schließlich am Beispiel der Gedichte über Louis Armstrong Einzelanalysen erfolgen. Dennoch ist das Missverhältnis zwischen zugesprochener Bedeutung der Lyrik und ihrem Stellenwert in der Arbeit etwas irritierend. Hat dem Autor der Mut zur Auswahl exemplarischer Texte gefehlt?

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Polysemie und
Fortschreibungen von Klischees

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Überzeugend wird die anfangs formulierte These belegt, dass der Jazz keine vorab festgelegten Botschaften transportiert und dass die Semiose, der die Musik unterzogen wird, sobald die Texte nicht nur rein deskriptiv über sie sprechen, ein breites Spektrum von Semantisierungen ermöglicht. So kann – um nur einige wenige Beispiele zu nennen – Tom Kristensen den Jazz zum »Symbol eines narzisstischen Rausches und damit der Verweigerung sowohl von ideologischer Weltanschauung als auch von sozialem Engagement« (S. 129) erheben, Poul Henningsen kann funktionalistisch argumentieren, »[d]ie Synkopierung der Jazzmelodie unterstütze die Herausbildung eines funktionalen, gesprochenen Dänisch« (S. 151), während der Jazz bei Artur Lundkvist zum Fanal für »die dionysische Entindividualisierung, das Löschen von Geschichte und Erfahrung zugunsten eines quasi religiösen […] Ursprungserlebnisses« (S. 274) wird und bei Axel Jensen »Teil einer libidinösen, konsumierenden, enttabuisierenden Selbstverwirklichung« (S. 464) ist. Neben derartigen spezifischen Funktionalisierungen und Semantisierungen ist Jazz dagegen in anderen Texten bloßes Kolorit für »Entwicklungsgeschichten von musikalisch begabten jugendlichen Helden« (S. 387) oder »Urbanitätsindiz [des] seiner periphären Lage bewußte[n] Kristiania« (S. 409).

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Bei aller Offenheit der Bedeutungszuweisung für ein an sich asemantisches Medium hält sich zugleich aber auch der Topos vom Jazz als Lebensäußerung hartnäckig, wenngleich er historischen Wandlungen unterliegt: Die Unbekümmertheit, mit denen die farbigen Musiker anfänglich oft als tierische oder halbwilde, gerade erst dem Urwald entsprungene und nicht wirklich kulturfähige Wesen dargestellt werden, vergeht im Laufe der Zeit. Die Wahrnehmung ihrer Musik als etwas, was aus den Tiefen des Körpers hervordringt, als Ausdruck des Triebhaften, bleibt jedoch bestehen. Ebenso topisch ist die Semantisierung des Jazz als Ausdruck von Sexualität, was, verbunden mit dem Bild vom barbarischen Neger, mitunter grellfarbene Blüten treibt.

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Die Beurteilung des in dieser Weise wahrgenommenen Jazz schwankt zwischen Kulturpessimismus und Attraktion durch die exotistische Verlockung: entweder ist man davon abgestoßen, wie sich eine dekadente Bourgeoisie den wilden Negerrhythmen hingibt, oder man gibt sich selbst hin und swingt mit im Off-beat des Dschungels. Emanzipatorischer scheint dagegen zunächst eine andere literarische Lesart des Jazz zu sein: Die Musik spricht von den Leiden der Farbigen, sie ist Ausdruck des geschundenen Körpers. Doch Strauß legt dar, dass dieser Auffassung ebenfalls der Topos vom Jazz als Lebensäußerung zugrunde liegt, und sie ist daher unterschwellig ebenso rassistisch wie die offeneren Ausfälle gegen die wilde Negermusik.

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Gelungene Verbindung von
Musik-, Diskurs- und Literaturgeschichte

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Nicht nur wegen ihres großen zeitlichen und geographischen Untersuchungsbereichs, sondern auch wegen der gelungenen Bewältigung der intermedialen Problemstellung ist diese Studie für Nordisten, Komparatisten und auch Musikwissenschaftler eine Empfehlung. Für die musikoliterarische Intermedialitätsforschung ist sie richtungweisend. Wer künftig als Skandinavist über literarische Ästhetik der Moderne schreibt, sollte diese Arbeit kennen.

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Die vielen Textanalysen einzeln zu würdigen, ist hier kein Raum. Generell ist zu sagen, dass Strauß ein großartiger Interpret und Historiograph ist, der einerseits abstrahierend Entwicklungslinien aufzeigt, andererseits intensive und überzeugende Einzelanalysen leistet. Dabei verliert er niemals den dreifachen Rahmen aus dem Auge, in dem seine Ausführungen über den Jazzdiskurs stehen: den Bezug auf den Gesamttext (denn die Ausführungen über den Jazz nehmen in den untersuchten Texten oft nur einige Seiten ein), auf die historische Entwicklung des Diskurses und auf die historische musikalische Praxis. Außerdem verbindet Strauß semiotischen Scharfsinn mit einer angenehm lesbaren, glänzend formulierten Wissenschaftsprosa, die trotz mancher Ironisierungen sowie einem Sinn fürs Wortspiel und für gute Pointen niemals in Manieriertheit umschlägt. Seine Darstellung hat analytischen und sprachlichen drive. In ihrer Ausgewogenheit zwischen der Würdigung von Einzeltexten und dem Herausarbeiten großer Linien setzt sie Maßstäbe.

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Anschlussfähigkeit

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Strauß’ literarische Diskursgeschichte regt dazu an, das Material auch medienhistorisch zu perspektivieren. Deutlich wird in seiner Untersuchung beispielsweise die große Bedeutung des Jazz für die Wahrnehmung der Großstadt. Gerade in sehr frühen Texten wie in den dänischen Romanen der Initiationsphase 9 erscheint der Jazz als Ausdruck urbaner Musik schlechthin (insofern stellt die Arbeit auch einen sehr wichtigen Beitrag zur Ästhetik der Großstadt und deren Literarisierung dar, da die urbane Kultur bisher vor allem auf der bildlichen Ebene als Ansammlung visueller Zeichen in den Blick genommen wurde). Die Semantisierung als Großstadtphänomen verliert allerdings in dem Maße an Bedeutung, wie der Jazz auch die Radioprogramme erobert und über Tonträger verfügbar wird. Damit dringt die Musik zunehmend vom öffentlichen in den privaten Raum vor. Derartige Vermittlungsaspekte werden von Strauß zwar in den jeweiligen jazzhistorischen Einleitungsabschnitten angesprochen, jedoch nicht systematisch vertieft, weil dafür in der Anlage der Arbeit auch kein Raum ist und sich der Autor aus gutem Grund für eine andere Anordnung seines Materials entschieden hat.

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Auch die zunehmende Auseinandersetzung mit formalen Aspekten des Jazz in der Lyrik seit den späten 1950er Jahren und die Entwicklung einer musikalisch inspirierten Metapoesie lässt sich als Folge der Veränderung in der medialen Vermittlung dieser Musik begreifen: Sie resultiert nicht nur aus dem Aufkommen neuer, experimentellerer Jazz-Stile und den sich wandelnden Rezeptionsweisen im Zuge der Verlagerung des Jazz aus den Tanzsälen in Konzerthallen und Clubs, sondern auch aus der fortschreitenden Verfügbarkeit der Musik auf Schallplatten, die wiederum eine weitere Ausdifferenzierung der musikalischen Spielarten und der Personalstile befördert. Es bedarf des häuslichen Plattenschranks, um über Charlie Parker, Louis Armstrong und Billie Holliday und deren Musik schreiben zu können. Die Gedichte beziehen sich zum Großteil auf Schallplatten als Teil eines privaten Archivs, in dem die ursprünglich gegenwartsbezogene, ›orale‹ Musik musealisiert wird. Dies erklärt auch die Rückwärtsgewandtheit moderner Jazz-Poesie, die Strauß immer wieder konstatiert. Diese Musealisierung und Kanonisierung vergangener Jazz-Stile wird wiederum durch die Literarisierung noch zusätzlich vorangetrieben.

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Ein nachdenkliches Finale?

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Gerade angesichts der Tatsache, dass sich die moderne Literatur eher retrospektiv mit dem Jazz beschäftigt, ist das hier anfänglich zitierte, scheinbar optimistische Schlusswort der Arbeit doppelbödig, spricht Strauß darin doch lediglich von den »kreativen Möglichkeiten des Jazz«, die »weiterhin enorm« seien (S. 549) – vom ästhetischen Potential der Literatur spricht er dagegen nicht. Mag sein, dass sie zurücksteht hinter dem freien Spiel und dem Formenreichtum einer »improvisierende[n] Meta-Musik, die alle anderen Klangcodes aufgreifen kann« (ebd.), mag sein, dass die Literatur in der Begegnung mit dem Jazz mehr Impulse empfängt als sie selbst aussendet (was allerdings noch zu prüfen wäre!) – dennoch zeigt Strauß mit seiner bravourösen Studie, wie fruchtbar und wie profilbildend der Kontakt mit dem Jazz für die literarische Moderne war – und vermutlich bleiben wird.


Prof. Dr. Joachim Grage
Albert-Ludwigs-Universität
Skandinavisches Seminar
Platz der Universität 3
DE - 79085 Freiburg i.Br.

Ins Netz gestellt am 06.11.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserer Fachreferentin Prof. Dr. Annegret Heitmann. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Julia Ebeling.

Empfohlene Zitierweise:

Joachim Grage: Die Sublimierung wilder Urwaldrhythmen. Eine skandinavische Literaturgeschichte des Jazz. (Rezension über: Frithjof Strauß: Soundsinn. Jazzdiskurse in den skandinavischen Literaturen. Freiburg im Breisgau: Rombach 2003.)
In: IASLonline [06.11.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=670>
Datum des Zugriffs:

Zum Zitieren einzelner Passagen nutzen Sie bitte die angegebene Absatznummerierung.


Anmerkungen

Was Strauß dann allerdings selbst aus so einem trivialen Text wie dem Groschenroman Jazz-Djævlen (Der Jazz-Teufel, 1924) herauszuholen vermag, ist ebenso fesselnd wie vergnüglich zu lesen (S. 107–113) – man bedauert geradezu, dass dem Verfasser nicht noch mehr derartige Literatur in die Finger gekommen ist.   zurück
Bo Everling: Blå toner och svarta motiv. Svensk jazzlyrik från Erik Lindorm till Gunnar Harding. Stockholm: Östlings bokförl. Symposion 1993.   zurück
Walter Baumgartner / Per Erik Ljung / Frithjof Strauß (Hg.): Skriva om jazz – skriva som jazz. Artiklar om ord och musik. Lund: Litteraturvetenskapliga institutionen i Lund 2001.   zurück
Zentrum der skandinavischen Intermedialitätsforschung ist Lund, wo sich eine Forschergruppe seit nunmehr einigen Jahrzehnten diesem Bereich der Komparatistik widmet. Vgl. zum Beispiel Hans Lund (Hg.): Intermedialitet. Ord, bild och ton i samspel. Lund: Studentlitteratur 2002; Ulla-Britta Lagerroth / Hans Lund / Erik Hedling: Interart Poetics. Essays on the Interrelation of the Arts and Media (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 24) Amsterdam / Atlanta, GA: Rodopi 1997; Ulla-Britta Lagerroth u. a. (Hg.): I musernas tjänst. Studier i konstarternas interrelationer. Stockholm / Stehag: Symposion 1993.   zurück
Vgl. Lawrence Kramer: Musical Meaning. Toward a Critical History. Berkeley, Calif.: University of California Press 2002; Werner Wolf: The Musicalization of Fiction. A Study in the Theory and History of Intermediality (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 35) Amsterdam / Atlanta: Rodopi 1999; die Tagungen der WMA, die regelmäßig eine Sektion »Defining / Surveying the Field« mit Beiträgen zur Theorie und Methodologie der Intermedialität von Musik und Sprache enthalten, sind dokumentiert in folgenden Bänden: Walter Bernhart: Word and Music Studies. Defining the Field. Proceedings of the First International Conference of Word and Music Studies at Graz 1997 (Word and music studies 1) Amsterdam: Rodopi 1999; Walter Bernhart / Werner Wolf: Word and Music Studies. Essays on the Song Cycle and on Definig the Field. Proceedings of the Second International Conference on Word and Music Studies at Ann Arbor, MI, 1999 (Word and music studies 3) Amsterdam: Rodopi 2001; Suzanne M. Lodato / Suzanne Aspden / Walter Bernhart (Hg.): Word and Music Studies. Essays in Honor of Steven Paul Scher and on Cultural Identity and the Musical Stage. Third International Conference on Word and Music Studies at Sydney, 2001 (Word and music studies 4) Amsterdam: Rodopi 2002.   zurück
Werner Wolf: Intermediality Revisited. Reflections on Word and Music Relations in the Context of a General Typology of Intermediality. In: Suzanne M. Lodato: Word and Music Studies (Anm. 5), S. 13–34.   zurück
Strauß stützt sich in seiner Bestimmung der Avantgarde auf Peter Bürgers Theorie der Avantgarde (1974 u.ö.).   zurück
Eine Ausnahme macht Strauß lediglich bei den lyrischen Texten Artur Lundkvists, die nicht in Versen, sondern in größeren Prosaabschnitten verfasst sind (S. 267–274).   zurück
Strauß behandelt unter anderem die ›Københavnerromane‹ von Jørgen Bast (Den store revue, 1920), Aage Hansen (Ebba Berings Studentertid, 1929), Tom Kristensen (Hærværk, 1930) und Knud Sønderby (Midt i en jazztid, 1931).   zurück