Jens Kiefer

Frauen, Männer und Niklas Luhmann




  • Ursula Pasero / Christine Weinbach (Hg.): Frauen, Männer, Gender Trouble. Systemtheoretische Essays. (stw) Frankfurt / M.: Suhrkamp 2003. 300 S. Kartoniert. EUR 12,00.
    ISBN: 3-518-29237-4.


Inhalt

Ursula Pasero / Christine Weinbach: Vorwort | Niklas Luhmann: Frauen, Männer und George Spencer Brown | Elena Esposito: Frauen, Männer und das ausgeschlossene Dritte | Geschlecht im System. Die Ontologisierung des Körpers und die Asymmetrie der Geschlechter | Ursula Pasero: Gender, Individualität, Diversity | Dirk Baecker: Männer und Frauen im Netzwerk der Hierarchie | Christine Weinbach: Die systemtheoretische alternative zum Sex-und-Gender-Konzept: Gender als geschlechtstypisierte Form ›Person‹ | Lutz Ohlendieck: Gender Trouble in Organisationen und Netzwerken | Urs Stäheli: ›134 – Who is at the key‹ – Zur Utopie der Gender-Indifferenz | Andrea Leupold: Liebe und Partnerschaft: Formen und Codierungen von Ehen





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So recht scheinen Systemtheorie und Gender-Perspektive zunächst nicht unter einen Hut zu kriegen zu sein, und doch passen sie, wie dieser Band zeigt, ganz gut zueinander. Während die Genderforschung durch ihre Nähe zum Feminismus und ihre Analyse von Machtsstrukturen durchaus gesellschaftskritische Aspekte aufweist, gilt der Systemtheorie jede Form von Ideologie oder politischer Positionierung zunächst suspekt und als Mangel an theoretischer Reflexion. Da die Systemtheorie den Menschen nicht als eine Einheit, sondern als eine Kopplung verschiedener Systeme denkt und den Körper bisher weitestgehend aus ihrem Fokus verbannt hat, bietet sie sich auch nicht gerade an, in eine Forschungsrichtung zu gehen, in der der Körper ein zentrales Interessengebiet darstellt. Gleichzeitig ist diese Theorieentscheidung der Systemtheorie, anstelle von Identitäten auf Differenzen zu setzen, jedoch auch das Moment, das die Kombination mit der Gender-Perspektive erlaubt. Denn diese ist ja maßgeblich von einem Denken in Unterscheidungen geprägt.

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Asymmetrien
in Theorie und Praxis

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Der von Ursula Pasero und Christine Weinbach zusammengestellte Band versammelt neun Aufsätze und enthält mit Luhmanns bereits 1988 veröffentlichtem Aufsatz »Männer, Frauen und Georg Spencer Brown«, seine erste – wenn auch polemische – Auseinandersetzung mit Geschlechterfragen fernab der gerne untersuchten Liebessemantiken. Luhmanns Beitrag versucht daher auch weniger Geschlecht als einen blinden Fleck der Systemtheorie aufzuzeigen, als der Frauenforschung bzw. dem Feminismus theoretische Unterkomplexität nachzuweisen. Er greift dabei auf die Formlogik Spencer Browns zurück, deren Missachtung der Frauenforschung wohl schwerlich anzulasten ist, und zeigt wie Asymmetrien in Unterscheidungen eingebaut sind. Als parodoxieverliebtem Denker fällt es Luhmann nicht schwer, die Frauenforschung und Frauenbewegung auf ein Dilemma ihres Unterscheidungswesens hinzuweisen.

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Die typisch zugrunde gelegte Ideologie erfordert Gleichbehandlung von Männern und Frauen. Genau das rechtfertigt Ungleichbehandlung von Männern und Frauen zur Korrektur bestehender Ungleichheiten, nämlich zur Bevorzugung von Benachteiligten. 1
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Dieser Ideologie der Asymmetrieverkehrung (d.h. als Bevorzugung von Frauen etwa durch Quoten) kann Luhmann auf Theorieebene weder Brauchbarkeit bescheinigen, noch sie durch einen geeigneten Vorschlag ersetzen, sondern nur eine Differenz zwischen »Reflexionstheorien und Organisationsmöglichkeiten« (S.58), d.h. ein Übersetzungsproblem zwischen feministischer Theorie und Praxis, attestieren. Denn Luhmann wendet sich nicht an die Frauenbewegung und ihre Ziele, sondern an die Frauenforschung, die sich aus der Unterscheidung zwischen Männern und Frauen generiert und die Ziele der Frauenbewegung teilt. Der Rat, den er der Frauenforschung gibt, ist neben der Ausgliederung politischer Ambitionen, Distanz zu sich selbst und zur Unterscheidung Mann / Frau zu gewinnen.

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Dass die Frauenforschung diesen gut gemeinten Rat Luhmanns nicht gleich angenommen hat, mag nicht nur am nicht ganz einfachen Nachvollzug der Formlogik liegen, sondern zugleich auch an Luhmanns Sprachgestus, der der Frauenbewegung bei weiterer Untertheoretisierung in Sachen Unterscheidungsgebrauch vorhersagt, nur noch zwischen gefährlich oder lächerlich werden entscheiden zu können. Trotz aller berechtigter und nachvollziehbarer Kritik an ideologisch grundierten Forschungsprogrammen kommt der leise Verdacht auf, dass Luhmanns Bild dieses Forschungsansatzes auch nicht allzu differenziert ist (und außerdem der Genderforschung seit Butler Unterkomplexität nun wirklich nicht mehr zu bescheinigen ist). Denn wirft man einen Blick in seine Literaturliste, findet man zwar die üblichen systemtheoretischen Verdächtigen, aber nur wenig, was auf eine tiefere Auseinandersetzung mit diesem Forschungsansatz schließen ließe. Elena Espositos Beitrag schließt direkt an Luhmanns Überlegungen an, kontextualisiert diese jedoch im Zusammenhang des Alteritätsdiskurses französischer Ausprägung und der Frage nach dem Gewinn einer spezifisch weiblichen Logik.

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Ursula Pasero konzentriert sich nicht auf Asymmetrien der theoretischen Erfassung gesellschaftlicher Asymmetrien, sondern auf letztere selbst. Die Unterscheidung Mann / Frau erscheint ihr jedoch nicht zwingend und ist dabei, als Ordnungsmuster an Bedeutung zu verlieren. Den Fokus ihrer Überlegungen legt Pasero auf die Differenz zwischen Individualitätserwartungen und Geschlechtsstereotypen. Während Individualität unterstellt wird, wird Geschlecht zugeordnet. Erstere wird jedoch flexibel und ergebnisoffen gehandhabt, letztere basieren auf strikter Eindeutigkeit. Die wachsende Unzuverlässigkeit geschlechtstypischer Zuschreibungen, so die These, ist somit ein Ausdruck des Dilemmas von geschlechtstypischer Bestimmtheit und individueller Unbestimmtheit.

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Personen

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Folgt man der systemtheoretischen These der Ausdifferenzierung, so greift die Unterscheidung Mann / Frau nicht auf der Ebene der Funktionssysteme. Denn der Zugang zu Medizin, Recht, Kunst steht Frauen gleichermaßen wie Männern zu. Wieso, fragt Armin Nassehi, besteht dann eine Asymmetrie zwischen den Geschlechtern, wenn diese Differenz für die primäre Differenzierung keine Rolle spielt? Nassehis These, die auf Vorarbeiten von Hartmann Tyrell zurückgeht, lautet, dass Geschlechterunterschiede dann ins Spiel kommen, wenn nicht Kommunikationen, sondern Personen relevant werden. »Wo Personen als Personen vorkommen – ähnliches ließe sich für Organisationen zeigen – werden sie als solche sichtbar, und wo sie sichtbar werden, treten sie als Männer und Frauen auf.« 2 Es ist also die körperliche Wahrnehmbarkeit der Form Person in der Interaktion, die die Unterscheidung Mann / Frau immer wieder produziert. Die systemtheoretische Konzeption der Person als Erwartungsbündel und Kommunikationsadresse stellt somit den wichtigsten Knotenpunkt für Genderforschung und Systemtheorie dar.

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Auf das Konzept der Person setzt daher auch Christine Weinbach in ihrem äußerst interessanten Beitrag, der sich auf Erkenntnisse der Attributionsforschung stützt. An die Beobachtung anschließend, dass Personen in Interaktionssystemen geschlechtsspezifisch wahrgenommen werden, geht sie davon aus, dass Personen jeweils unterschiedlichen geschlechtsspezifischen Erwartungshaltungen unterliegen. Anhand der Differenz der jeweils im Bezug auf Männer und Frauen zugeschrieben kognitiven Schemata, kann die Autorin aufzeigen, warum Frauen in Führungspositionen vielen Männern wie Frauen weniger akzeptabel als Männer erscheinen. Christine Weinbachs Beitrag liefert somit nicht nur einen interessanten Bezug zur Kognitionsforschung, sondern zugleich eine vielversprechende Möglichzeit, das systemtheoretische Konzept der Person weiter zu entwickeln.

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Organisationen

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Dirk Baeckers und Lutz Ohlendiecks Beiträge thematisieren die Behandlung der Geschlechterdifferenz in Organisationen. Beide Autoren nehmen dabei auf den »glass ceiling effect« Bezug. Dieser Begriff bezieht sich auf die unsichtbare Linie, die Frauen in vielen Fällen von Spitzenpositionen innerhalb von Organisationen trennt. Baeckers These lautet, dass Frauen in Spitzenpositionen solange akzeptiert werden, solange ihnen ein Mann vorgeordnet ist und dass die Nicht-Akzeptanz von Frauen in leitenden Positionen untergeordnete Frauen wie Männer betrifft. Während Christine Weinbachs Beitrag für dieses Phänomen eine Erklärung aus kognitionspsychologischer Richtung unter dem Aspekt der Unsicherheitsabsorption bietet, dröselt Baecker es netzwerktheoretisch auf und erklärt es durch Eric M. Leifers Theorie der »ambiguity failures«.

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Diese geht davon aus, dass in Interaktionen versucht wird, möglichst mehrdeutig (inklusive zweideutig) miteinander umzugehen und dass bestimmte Rollenmuster erst dann ins Spiel kommen, wenn es nicht mehr anders geht. Das Zurückgreifen auf Rollenmuster zu ungunsten von Ambiguität sorgt dann wiederum dafür, dass sich Männer wie Männer und Frauen wie Frauen verhalten und so traditionelle Positionen in einer Hierarchie einnehmen.

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Der »glass ceiling effect« ist das Ergebnis von »ambiguity failures« auf breiter Front. Weder Männer noch Frauen gelingt es, in dem Moment, in dem eine Frau Anspruch auf eine Spitzenposition in einer Hierarchie erhebt oder nahegelegt bekommt, auf die Attribution der geschlechtlichen Identität zu verzichten. Sie erscheint als Frau, die in dieser Position keinen Mann mehr über sich hätte – und wird daran gehindert bzw. hindert sich selbst, diese Position zu erreichen. 3
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Lutz Ohlendieck behandelt ebenfalls den »glass ceiling effect« und erklärt diesen durch einen sogenannten »Konkurrenzunterbrecher«, der Frauen aus dem Wettbewerb ausschließt. Verantwortlich für diese Konkurrenzunterbrechung ist der Vorgang des »gendering«, der stereotypisierten Zuschreibung von Geschlecht und Tätigkeitsfeldern. Dieser Vorgang ist jedoch nicht auf organisationeller Ebene institutionalisiert, sondern geschieht im Rahmen innerorganisationelle Netzwerke, die für die jeweiligen Karrieremöglichkeiten von entscheidender Bedeutung sind. Ohlendieck und Baecker schlagen zur Erklärung des »glass ceiling effects« zwar unterschiedliches Vokabular vor, doch lässt sich das Fehlschlagen einer aufrecht zu erhaltenden Mehrdeutigkeit sicherlich auch als Konkurrenzunterbrecher beschreiben.

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Die Semantik der Liebe
und die der
körperlosen Kommunikation

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Während die meisten anderen Beiträge den Fokus auf Formen und Bedingungen sozialer Ungleichheit legen, agieren Andrea Leopold und Urs Stäheli eher im Bereich der Semantik als der Gesellschaftsstruktur. Andrea Leupolds Beitrag stellt die frühste Annäherung der beiden Theoriekomplexe Gender und Systemtheorie dar. In ihrem bereits 1983 erschienen Artikel »Liebe und Partnerschaft: Formen der Codierung von Ehen« behandelt sie anschließend an Luhmanns Liebesbuch die Relation zwischen romantischer Liebe und Partnerschaft und fragt nach den jeweiligen Konsequenzen dieser Konzepte für die moderne Ehe. Während die romantische Liebe als ein Konzept des ausgehenden 18. Jahrhunderts entsteht, handelt es sich bei der Semantik der Partnerschaft um eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Leopold verdeutlicht, dass die romantische Liebe eine Reaktion auf die Ausdifferenzierung darstellt. Denn Liebe hat in der Moderne die Aufgabe einen gesellschaftlichen Bereich herzustellen, in welchem eine Form höchstpersönlicher Kommunikation gewährleistet wird, die von den anderen Funktionssystemen nicht geboten werden kann.

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Wenn Personen im Spiel sind, dann sind es auch Körper, so der Tenor einiger vorangegangener Beiträge. Der Körper steht also irgendwie im Weg, wenn es um Gleichbehandlung geht. Die körperlose Kommunikation, wie sie von Verfechtern des Netz-Hypes gepredigt wird, enthält somit das Versprechen, Differenzen zu invisibilisieren, die in der wahrnehmbaren Interaktion Unterschiede sind, die höchstwahrscheinlich Unterschiede machen. Doch die körperlose Kommunikation ist keine Erfindung des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern findet mit der telegraphischen Kommunikation bereits einen semantischen Vorreiter. Urs Stäheli zeigt in seinem Beitrag, dass jedoch von einer geschlechtslosen Kommunikation im Falle des Telegrafierens keineswegs die Rede sein kann. Sein Beitrag wendet sich somit nicht nur gegen die Reduzierung von Gender auf körperliche Präsenz, sondern auch gegen die Annahme der Genderneutralität der Medien im Gegensatz zum geschlechtsfestgelegten Körper.

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Fazit

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Dass die Systemtheorie jetzt auch vor Genderfragen nicht mehr halt macht, zeigt wie lernfähig und andockbereit dieses Theoriegebilde ist. Die Annäherung von Systemtheorie und Gendertheorie bedeutet jedenfalls für beide Seiten Innovation. Verhandelt werden in dieser Theoriesymbiose nicht Frauen, sondern Frauen und Männer in ihrer Beziehung zueinander, und das ohne ideologische Vorentscheidungen, die die Theorie mit einer politischen Praxis zu verknüpfen suchen. Es ist sicherlich eine ideologische Entscheidung, ob man Geschlechterfragen von einer Theorie behandelt wissen will, deren Vertreter und Vertreterinnen sich lieber seitenlang über Codes und Paradoxien auslassen, als konkret Lösungsvorschläge für Situationen sozialer Ungleichheit zu liefern. Spannend, intellektuell herausfordernd und erkenntnisreich ist dieser Zugang jedoch allemal, wenn auch keine – wie das bei der Systemtheorie immer so ist – leicht verdauliche Kost.


Jens Kiefer
Universität Hamburg
Forschergruppe Narratologie
Edmund-Siemers-Allee 1
DE - 20146 Hamburg

Ins Netz gestellt am 23.02.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von der Redaktion IASLonline. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Jens Kiefer: Frauen, Männer und Niklas Luhmann. (Rezension über: Ursula Pasero / Christine Weinbach (Hg.): Frauen, Männer, Gender Trouble. Systemtheoretische Essays. Frankfurt / M.: Suhrkamp 2003.)
In: IASLonline [23.02.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=694>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Niklas Luhmann in Ursula Pasero / Christine Weinbach (2003), S. 51.   zurück
Armin Nassehi in Ursula Pasero / Christine Weinbach (Hg.), S. 90.   zurück
Dirk Baecker in Ursula Pasero / Christine Weinbach (Hg.). S. 138f.    zurück