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Ein Klassiker der historischen Kulturwissenschaften

  • Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Ernst Troeltschs »Historismus«. (Troeltsch-Studien 11) Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2003. 304 S. Kartoniert. EUR 39,95.
    ISBN: 3-579-00103-5.
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Seit einiger Zeit lässt sich in den historischen Kulturwissenschaften ein neuerwachtes Interesse an den Historismusdebatten des frühen 20. Jahrhunderts beobachten. Getragen wird dieses Interesse von der Einsicht, dass das Problem des Historismus – allen vermeintlichen Überwindungsversuchen zum Trotz – zur prägenden Signatur der Moderne gehört und während jener Jahre in einer bis heute unüberholten Weise gedanklich durchgearbeitet worden ist. Zu den führenden Repräsentanten zählt dabei vor allem der Berliner Theologe, Geschichtsphilosoph und Kulturtheoretiker Ernst Troeltsch (1865–1923), dessen unvollendet gebliebenes Spätwerk Der Historismus und seine Probleme weithin als die umfangreichste und anspruchsvollste zeitgenössische Analyse der mit dem modernen historischen Denken verbundenen Probleme gilt.

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Es erscheint daher nur folgerichtig, dass auch die Troeltsch-Forschung ihr Augenmerk verstärkt auf die späte Berliner Zeit Troeltschs richtet und sich darum bemüht, die zeitgeschichtlichen Verstrebungen und konzeptionellen Motive seines Historismusprogramms zu erschließen. So war nicht nur der jüngste Kongress der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft vom Februar 2004 dem Thema »Ernst Troeltsch in Berlin« gewidmet; zuvor beschäftigte sich bereits im September 1997 ein Kongress mit der werkgeschichtlichen Analyse des Historismusbandes. Die dort gehaltenen Vorträge wurden erstmals im Jahre 2000 publiziert und sind nun in zweiter Auflage erschienen.

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Um es vorweg zu sagen: Dieser Umstand ist durchgängig zu begrüßen. Denn der Sammelband dokumentiert nicht nur eindrücklich das hohe Niveau, welches die Troeltsch-Forschung mittlerweile erreicht hat; er bietet vor allem einen repräsentativen Überblick über den gegenwärtigen Forschungsstand zum Historismusband und lässt damit zugleich erkennen, wo bleibende Desiderate liegen und vielleicht auch neue Wege der Interpretation gesucht werden können.

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Grundlinien des Troeltsch’schen Historismuskonzepts

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In seiner »Einleitung« (9–22) skizziert Friedrich Wilhelm Graf die Grundlinien des Troeltsch’schen Historismuskonzepts. Angesichts der relativistischen Konsequenzen des historischen Denkens sei ihm daran gelegen, aus der Geschichte selbst Traditionsbestände zu gewinnen, die in Gestalt einer ›europäischen Kultursynthese‹ für die Gegenwart verbindliches Orientierungswissen zu begründen vermögen. ›Geschichte durch Geschichte überwinden‹, lautet entsprechend die von Troeltsch gebrauchte berühmt-berüchtigte Formel, mit der er seinen Programmentwurf beschließt. Zu dessen materialer Ausarbeitung ist es bekanntlich nicht mehr gekommen. In knappen Zügen informiert Graf sodann über die Entstehungsgeschichte des Historismusbandes. Er weise genau besehen den Charakter einer Sammlung verschiedener Vorträge und Aufsätze auf; dieser Charakter wiederum finde seinen Niederschlag in gravierenden inhaltlichen Spannungen und Aporien. Entsprechend lautet die Generalthese Grafs im Blick auf den Historismusband: »Der ›Historismus und seine Probleme‹ lässt sich auch als ein fragmentarisches Buch der Brüche und Widersprüche lesen« (22).

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»Troeltschs Dilemma«

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Der damit vorgezeichneten Interpretationsperspektive folgt der gewichtige Beitrag »Troeltschs Dilemma« von Otto Gerhard Oexle (23–64). Oexle bietet zunächst einen Überblick über das breite Spektrum der zeitgenössischen Historismusdebatten und weist darin Troeltsch eine herausragende Stellung zu. Der in einen reflexiven Historismus umgesetzte Problemaufriss der ›Krisis des Historismus‹ auf der einen sowie die beeindruckende Spannweite seiner historisch-systematischen Analysen auf der anderen Seite zeichneten Troeltsch als Klassiker der historischen Kulturwissenschaften aus. Freilich habe er das ihn bewegende Grundproblem, wie vom Historisch-Relativen aus der Weg zu ›geltenden Kulturwerten‹ zu finden sei, nicht überzeugend zu lösen vermocht.

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Um der von ihm aufgewiesenen Relativität des Historischen zu entkommen, greife Troeltsch auf vormoderne Theoriefiguren zurück und flüchte sich schließlich gar in die Kierkegaard’sche Metapher eines glaubenden Sprungs in das Absolute. Statt wie Max Weber den ›Problemen‹ den Vorzug vor den ›Lösungen‹ zu geben, habe er »noch einmal die Einheit und das ›Ganze‹ zu begründen versucht« (64) – und so das von ihm eröffnete Problemniveau zugleich wieder unterlaufen. Oexle bringt auf diese Weise eine Kritiklinie zur Geltung, die seit Siegfried Kracauer und Karl Mannheim die Rezeption des Historismusbandes begleitet. Ihr ist aufs Ganze gesehen zuzustimmen; um so dringlicher erscheint dann aber die Frage, ob und in welchem Sinne sich – über das historische Interesse hinaus – auch konstruktive Impulse aus der Beschäftigung mit dem Troeltsch’schen Theorieprogramm gewinnen lassen.

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Die nachfolgenden Studien gruppieren sich um drei Themenkreise. Ein erster Schwerpunkt liegt auf der Einbettung der Konzeption Troeltschs in die zeitgenössische geschichtsphilosophische, ideenpolitische und kulturpraktische Debattenlage. Im Anschluss daran wird nach der Rezeption des Historismusbandes in Großbritannien, Frankreich und den USA gefragt. Eine dritte Gruppe von Beiträgen schließlich befasst sich mit Fragen der inhaltlichen Konzeption und gedanklichen Plausibilität des Historismusbandes selbst. Darüber hinaus findet sich im Anhang ein von Friedrich Wilhelm Graf gemeinsam mit Christian Nees erstelltes »Verzeichnis der Rezensionen und Kritiken« zum Historismusband (285–298).

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Der Historismus und die zeitgenössische geschichtsphilosophische, ideenpolitische und kulturpraktische Debattenlage

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So untersucht zunächst Friedemann Voigt (»Inseln auf dem europäischen Kontinent. Georg Simmel in Troeltschs Historismusband«; 65–93) die intensive Auseinandersetzung Troeltschs mit der Geschichtsphilosophie Georg Simmels. Diesem komme für Troeltsch insofern exemplarische Bedeutung zu, als er mit seinem Übergang vom soziologischen Objektivismus zum ästhetischen Relativismus den rechten Weg zugleich gewiesen und verfehlt habe. Niklaus Peter (»Ernst Troeltsch auf der Suche nach Franz Overbeck. Das Problem des Historismus in der Perspektive zweier Theologen«; 94–122) rekonstruiert das schwierige Verhältnis Troeltschs zu Nietzsches Freund Franz Overbeck. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass beide »in der Wahrnehmung und Benennung des Historismusproblems [...] große Affinitäten aufweisen, in ihren Reaktionen auf dieses Phänomen jedoch diametral entgegengesetzte Wege gehen« (117).

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In einem erhellenden Beitrag arbeitet sodann Hartmut Ruddies (»Gelehrtenpolitik und Historismusverständnis. Über die Formierung der Geschichtsphilosophie Ernst Troeltschs im Ersten Weltkrieg«; 135–163) die zeitdiagnostische und zugleich handfest politische Dimension des Historismusbandes im Kontext des Ersten Weltkrieges heraus:

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Im Rahmen der zeitdiagnostischen Literatur der 20er Jahre war Troeltschs Geschichtsphilosophie ein Versuch, der großen kulturellen Orientierungskrise seit der Jahrhundertwende und den vielschichtigen politischen, sozialen, ideologischen und auch religiösen Orientierungsstörungen aus den Weltanschauungskämpfen des Krieges mit einem Konzept zu begegnen, das den Ausgleich des ›deutschen Geistes‹ mit der durch die Aufklärung initiierten westeuropäischen Moderne einleiten wollte. (137)
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Ergänzend dazu skizziert schließlich Gangolf Hübinger (»Ernst Troeltschs Berlin. Im ›Bund der Intellektuellen‹«; 164–180) das publizistische und politische Engagement Troeltschs in seiner Berliner Zeit. Troeltsch habe hier – zumal als Kolumnist der Zeitschrift ›Kunstwart‹ –»den überparteilichen Habitus des Gelehrtenpolitikers in den des Intellektuellen« (175) überführt und dabei zugleich ein besonderes Interesse an der »nicht abreißenden Verbindung der kulturprotestantischen mit der im weitesten Sinne freireligiösen Bildungsbewegung« (176) gezeigt.

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Die Rezeption des Historismusbandes in Großbritannien, Frankreich und den USA

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Eine anschließende Gruppe von Beiträgen beschäftigt sich mit der Wirkungsgeschichte des Historismusbandes. Mark D. Chapman (»Der Historismus in England und England in Der Historismus«; 181–199), Garrett E. Paul (»Der Historismus in North America«; 200–217) sowie Lutz Raphael (»Zwischen Positivismus und Existentialismus. Ernst Troeltschs Historismus-Analysen im Kontext der französischen Debatten um Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie in der Zwischenkriegszeit«; 218–242) heben dabei zunächst die auffallend zurückhaltende Auseinandersetzung mit Troeltschs Spätwerk in England, den USA und Frankreich hervor: »[A]n assessment of the reception of Troeltsch’s Der Historismus in England makes a very short and relatively uninteresting story« (181); »the North American reception of Der Historismus has largely been a non-reception«(200); »Troeltschs Historismus-Werk ist jenseits des Rheins wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden« (218). Allerdings dient ihnen dieser Befund nur als Ausgangspunkt, um in einem zweiten Zugriff die jeweiligen nationalkulturellen Unterschiede in der Aufnahme und Bearbeitung des Historismusproblems deutlich zu machen. Daraus ergibt sich ein faszinierender Überblick über die vielfältigen Vernetzungen, aber auch charakteristischen Divergenzen der national höchst unterschiedlichen Wahrnehmungen des Problems ›Geschichte‹.

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Zur inhaltlichen Konzeption und gedanklichen Plausibilität des Historismusbandes

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Zum Abschluss folgen drei Beiträge, die ihr Augenmerk auf die inhaltliche Konzeption des Historismusbandes selbst richten. Gregor Schiemann zunächst (»Entfernte Einheit. Geschichte und Natur in Ernst Troeltschs Geschichtsphilosophie«; 123–134) befasst sich mit Troeltschs Verhältnisbestimmung von Natur- und Geschichtserkenntnis. So habe Troeltsch an einer Gegenüberstellung beider Seiten festgehalten, zugleich aber den überkommenen strikten Dualismus relativiert: »Im Ergebnis wird die naturwissenschaftliche Erkenntnis einer Historisierung und die historische einer, vergleichsweise schwachen, Naturalisierung unterzogen« (129).

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In einer überzeugenden Studie nimmt sodann Jörg Dierken (»Individuelle Totalität. Ernst Troeltschs Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht«; 243–260) die an den Historismusband insgesamt zu richtende Frage wieder auf, »ob Troeltschs konstruktive Bemühungen seinen kritischen Einsichten standhalten« (245). Dieser Frage geht er am Beispiel des Troeltsch’schen Individualitätsbegriffs nach. Dabei hebe der Historiker Troeltsch auf die Einholung der freien Spontaneität geschichtlich-ethischer Personalität ab, während der Metaphysiker Troeltsch diese wieder »in einem die Geschichte durchwaltenden Leben des Absoluten verankert – und versenkt« (259). Entsprechend fordert Dierken über Troeltsch hinaus die Entfaltung einer »kritischen Metaphysik des Endlichen« (260); sie allein vermöchte einer solchen pantheistischen »Auflösung des individualitätszentrierten, pluralismusoffenen und seiner Relativität bewussten Kulturideals des Europäismus« (ebd.) entgegenzutreten.

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Christoph Schwöbel schließlich (»›Die Idee des Aufbaus heißt Geschichte durch Geschichte überwinden‹. Theologischer Wahrheitsanspruch und das Problem des so genannten Historismus«; 261–284) unternimmt den ehrgeizigen Versuch, den Historismusband auf eine ihm zugrunde liegende systematische Struktur des Gedankengangs hin durchsichtig zu machen, und stellt dabei »die Frage des theologischen Wahrheitsanspruchs« (264) in den Mittelpunkt. In kritischer Wendung gegen das Urteil vom fragmentarischen Charakter des Historismusbandes sucht er den Nachweis zu erbringen, dass Troeltschs Geschichtsphilosophie ein konsistentes und kohärentes Ganzes bildet: »Die Lösung des Maßstabproblems, die nicht zum geschichtslosen Rationalismus führt, die Lösung des Individualitätsproblems, die nicht zu Relativismus und Skepsis führt, und die Lösung des Entwicklungsproblems, die nicht wieder in den Streit von Lebens-Anschauern und Form-Denkern führt, ist eine theologisch begründete. Sie liegt im Gottesgedanken« (281). Ihm weist Schwöbel dabei keineswegs nur eine regulative, sondern vielmehr eine konstitutive Funktion zu, indem der Gottesgedanke »selbst an dem Prozess teil[nimmt], dessen Grund der Möglichkeit er formuliert« (282). Der Preis für eine solche Deutung wäre allerdings, dass Troeltsch letztlich doch die Flucht aus der Geschichte in den Glauben angetreten hätte.

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Mit seinem Versuch, Troeltschs Geschichtsphilosophie binnentheologisch einzuholen, rückt Schwöbel damit erneut das Grunddilemma im Umgang mit dem Historismusband in den Vordergrund: Wird die Kohärenz der Troeltsch’schen Konzeption betont, fällt sie hinter ihren eigenen Problemzugriff zurück; wird die Stärke des Troeltsch’schen Problemzugriffs betont, vermag die vorgeschlagene Lösung nicht mehr zu überzeugen. An dieser Alternative wird sich die Troeltsch-Rezeption auch in Zukunft abarbeiten müssen, sofern ihr an einer konstruktiven Aufnahme und Weiterführung Troeltsch’scher Einsichten gelegen ist.

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Perspektiven

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Um hier über den dokumentierten Stand hinaus einen Schritt voranzukommen, könnten sich zwei Impulse als fruchtbar erweisen: Zum einen wäre zu überlegen, ob sich Troeltschs ›Lösung‹ des Historismusproblems nicht als der Versuch entschlüsseln lässt, mit letztlich ungeeigneten Mitteln dem Problem selbst eine neue Fassung geben zu wollen – so dass die aufgewiesenen Spannungen und Ambivalenzen von daher erklärbar wären. Zum anderen könnte es vielleicht hilfreich sein, die geschichtsphilosophische Beschäftigung mit dem Problem des Historismus deutlicher auf das theologische Ausgangsinteresse Troeltschs zu beziehen, mit der Frage nach der ›Zusammenbestehbarkeit‹ von Christentum und moderner Wissenschaft zugleich die Aufgabe der dafür notwendigen ›Umbildung‹ der Theologie in Angriff zu nehmen.