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»Gesucht: die Lücke im Ablauf«
- nicht gerichtete Utopiekonzepte

  • Corinna Mieth: Das Utopische in Literatur und Philosophie. Zur Ästhetik Heiner Müllers und Alexander Kluges. Tübingen: Francke 2003. 403 S. Kartoniert. EUR 48,00.
    ISBN: 3-7720-3338-5.
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Utopisches Denken
– ein Auslaufmodell?

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Nicht von ungefähr stand nach dem Fall der Mauer die Zukunft der politischen Utopie wieder zur Diskussion, schien der Niedergang der etatistischen Staatsutopien im Osten doch all denen Recht gegeben zu haben, die den sozialistisch-kommunistischen Gesellschaftsentwurf schon immer als unfruchtbare Kopfgeburt utopischen Denkens abgelehnt hatten. 1 Die seitdem nicht mehr verstummte Kritik an den zu Politik geronnenen, angewandten Utopien allerdings ist – bei aller Berechtigung im jeweils konkreten Fall – dort nicht frei von reduktionistischen Verkürzungen, wo sie das utopische Denken gleich als solches zum ideologischen Restmüll der Geschichte erklärt.

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Sie übersieht nicht allein die Tendenz des utopischen Denkens zur Selbstkritik und die Möglichkeit einer negatorischen Beziehung der Utopie auf topische Herrschaftsstrukturen, sondern blendet auch die mögliche intentionale Bestimmung des utopischen Denkens aus, wie es sich in der Traditionslinie Landauer – Mannheim – Bloch als Hoffnung auf das Andere einer humanen Lebenswelt ausspricht. Noch allemal schlägt die Negation dessen, was der Fall ist (und was wäre utopisches Denken anderes), den Funken der Erinnerung an das, was der Fall sein könnte, öffnet die »gedankliche Außerkraftsetzung realer Lebensverhältnisse« der menschlichen Daseinsorientierung neue Denkräume, »in der dann Vorstellungen anderer Lebensverhältnisse als Ausdruck handlungsmotivierender Bedürfnisse nach Weltveränderung erscheinen können.« 2

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Ungegenständliche
Utopiekonzeptionen

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Hier kommen die künstlerischen Projekte Heiner Müllers und Alexander Kluges ins Spiel, die zwar auf die Ausformulierung expliziter Utopieangebote in der Form konkreter gesellschaftlicher Gegenentwürfe verzichten, andererseits aber von verschiedenen Ausgangspunkten her und in unterschiedlicher Gewichtung medialer Ausdrucksmittel dem utopischen Denken ex negativo Anschlussmöglichkeiten schaffen – und zwar durch ästhetische Praktiken, die an das Vermögen der Phantasie auf der Seite der Rezipienten appellieren.

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Corinna Mieth beschreibt in ihrer Tübinger Dissertation die Kunstpraxis beider Autoren, die in den neunziger Jahren wiederholt gemeinsam im Fernsehen aufgetreten sind, 3 von hier aus als Varianten einer »postteleologischen« Utopiekonzeption, die – bei durchaus verschiedener Akzentsetzung im einzelnen – Brechts theoretische Überlegungen zu einer eingreifenden Literatur durch das Prisma von Adornos Ästhetischer Theorie und des dort entwickelten Utopieverständnisses brechen und von hier aus die politische Wirkung von Kunst neu begründen: eine eher formbetonte Variante, bei der das utopische Denken sich in formal-künstlerischen Gestaltungsmitteln Ausdruck verschaffe (Müller), und eine indirekt rekonstruktive, die sich durch reflexive Strukturen entfalte (Kluge). Gemeinsam sei diesen Konzeptionen eine durch Fragmentarisierungen und Montage auf der Formseite des Kunstwerks unterstützte Strategie des »Entzugs von Bedeutung« (Müller), die dem Rezipienten breiten Raum lässt für die kreative Phantasie. Das utopische Potential der Kunst entfalte sich in ihren Werken nicht mehr auf dem Weg einer begrifflichen Erkenntnisvermittlung, wie sie Brechts dialektischem Theater zugrunde gelegen habe; dieses werde vielmehr durch die Herausforderung der Phantasietätigkeit des Rezipienten abgerufen.

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Ungegenständlich, so Mieth, sei diese Utopiekonzeption, mit der sich ein Paradigmenwechsel im Hinblick auf das Verhältnis von ›engagierter‹ und ›autonomer‹ Kunst abzeichne. In der Tat: Die Kunst Müllers und Kluges schafft dem ›ganz Anderen‹ zwar keine ästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten mehr, erfindet aber (im Sinne Lyotards) »Anspielungen auf ein Denkbares [...], das nicht dargestellt werden kann«. 4 Insofern ist Mieths Beobachtung auch zutreffend, wonach die spezielle Rezeptionstheorie Müllers und Kluges »nicht mehr auf eine Umsetzung der Utopie als Ziel der Geschichte« verweise, »auf das in Brechts teleologischer Utopiekonzeption auch die Kunst hinwirken soll. Gerade durch die Opposition zur gesellschaftlichen Realität wehrt sich die Kunst gegen jegliches Umgesetzte. Das Utopische bleibt in seiner Gegenbildlichkeit bloße Möglichkeit und stellt die scheinbare Unabänderlichkeit der Wirklichkeit in Frage.« (S. 12)

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Als Erben gleichermaßen der politischen Kunst und der kritischen Theorie verwandeln Müller und Kluge, so Mieth, das utopische Denken solcherart zum diagnostischen Instrument. In der Müller-Forschung wird dies schon seit längerem diskutiert, von Mieth nun aber erstmals systematisch analysiert und mit Alexander Kluges Ästhetik in einem vergleichbaren ›West‹-Modell gespiegelt.

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Die Entwicklung
des utopischen Denkens

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Mieth schärft die Konturen dieser Konzeptionen vor dem Hintergrund der Entwicklung des utopischen Denkens von der Staatsutopie, die ein Gegenbild zum Bestehenden entwirft, zur Geschichtsphilosophie und Geschichtsteleologie, mit der – über die Zwischenstationen der neuzeitlichen Wissenschaftsutopie (Bacon) und des Idealismus – im 19. Jahrhundert die »Geschichte zum Ort der Einlösung der Erwartungen an konstruktive Entwicklungen« (S. 40) wird und Utopie sich schließlich in Strategie verwandelt (»Das Verhältnis von Kunst und Gesellschaftsutopie«).

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Teleologische Utopien liegen nach Mieth dann vor, wenn der Begriff sich mit zeitlichen Vorstellungen verbindet:

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Der Begriff der teleologischen Utopie verdankt sich [...] der resoluten Verzeitlichung der Wirklichkeit und der meist dialektischen Konzeption, mit der sie sich auf ein Telos zubewegt, das zwar als solches nicht gesetzmäßig und planungssicher erreicht werden kann, das aber am ›Ende‹ auf eine Schwelle zuläuft, an welcher das Utopische, also Ortlose, als Ziel der Geschichte verwirklicht wird.
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Dieses »Telos wartet nicht irgendwo im Dunkel der Geschichte, sondern es hat eine Stelle in einer Zukunftsgeschichte als Fortschrittsgeschichte, an der man mit ihm rechnen darf« (S. 13) – und, so wäre zu ergänzen: zu dem sich der Einzelne durch Standpunktbildung zu verhalten aufgefordert ist. Postteleologische Utopiekonzeptionen sind demgegenüber zeitlos, nicht Entwurf eines Anderen, sondern in ihrem Kern regulative Idee. Von vorteleologischen Utopien (Utopien sind nicht notwendigerweise teleologisch!) unterscheidet sie, dass sie gleichsam durch teleologische Erwartungen hindurchgegangen sind, wie sie insbesondere der materialistischen Geschichtsphilosophie zugrunde liegen.

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Die Entwicklung der Utopie vom Gegenbild (Staatsutopien) zum Standpunkt, von der Fiktion zur Antizipation wiederum bleibt nicht ohne Einfluss auf die Literatur und die ästhetische Theorie, wie Mieth im Blick auf die Genese der Utopie des Ästhetischen im 18. Jahrhundert schlüssig herausarbeitet. Die Literatur beginnt sich in dieser Zeit aus der Verzahnung mit der Philosophie (Literatur als philosophische Begründung der besten Staatsordnung oder Präsentation des Idealstaatsentwurfs als rationales Gedankenexperiment) zu lösen und utopisches Denken neu als experimentelles Spiel mit Möglichkeiten zur Sprache zu bringen.

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Adornos Kunstphilosophie nimmt für Mieth im Hinblick auf die Weiterführung dieses Utopieansatzes in der Kunst des 20. Jahrhunderts eine wichtige Mittlerrolle ein, insofern seine Ästhetik aus dem Verständnis der Geschichte als Katastrophenzusammenhang (und eben nicht als Fortschrittsgeschichte) heraus eine Gegenbewegung zu den ästhetischen Utopien vollziehe. Adorno hole den Begriff der Utopie in eine – allerdings ins Negative gewendete – Geschichtskonstruktion hinein, deren Defizitäres die Kunst aufdecke (S. 75). Durch ihre »praktischen Zwecken entäußerte Zweckmäßigkeit« (Adorno), durch Autonomie mithin – und nur dadurch und nicht etwa durch explizite Utopieangebote – übten die Kunstwerke Kritik am Bestehenden.

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Müller und Kluge, so Mieth, knüpften mit ihren Überlegungen zu einer Kunst jenseits der Ideologien am postteleologischen Charakter dieser Kunstkonzeption an, gingen aber durch die Aufwertung der Rolle des Publikums als Ko-Autor oder Ko-Produzent innerhalb eines kollektiven (gesellschaftlichen) Selbstverständigungsprozesses in entscheidender Weise gleichsam mit Brecht (dessen Erbe hier weiterwirkt) über Adorno hinaus (S. 78). Müller – und das stützt Mieths These – hat selbst verschiedentlich von seinem Traum eines Theaters als »Bewegung, in einen Raum mit Fragen« 5 gesprochen, dies verstanden wiederum als Stimulanz dialektischen Denkens, das die Tradition als Erfahrungsraum produktiv zu machen, in Müllers Worten so in einen »Dialog mit den Toten« 6 einzutreten sucht.

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Im Vergleich zu den ästhetischen Utopien, aber auch zu der politischen Kunst Brechts, die das Telos der Geschichte in der Vermittlung eines Standpunkts zu antizipieren versucht, deutet sich hier bereits die entscheidende Veränderung der Blickrichtung in den Werken Müllers und Kluges an: Nicht die Antizipation einer besseren Zukunft steht in ihnen zur Diskussion, sondern die Wiedergewinnung der Vergangenheit, zu der »das Handeln in der Gegenwart stets neu in Bezug zu setzen ist« (S. 79), wobei es Müller – diese Akzentsetzung wiederum markiert für Mieth einen zentralen Unterschied zwischen den Kunstkonzeptionen beider Autoren – »immer mehr um eine ›Aufsprengung des Kontinuums‹ der Katastrophengeschichte« gegangen sei, »durch die die unverwirklichten geschichtlichen Möglichkeiten verdeutlicht werden sollen«, während es Kluge »auf die Gewinnung der Gegenwart durch deren Befreiung von der Last der Vergangenheit in Form einer Trauerarbeit« (S. 80) ankomme.

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Müllers und Kluges postteleologische
Utopiekonzeptionen

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Im Einzelnen belegt wird diese These von Mieth im zweiten (»Das Verhältnis von Kunst und Gesellschaftsutopie in Heiner Müllers Ästhetik«) und dritten (»Die Wiedergewinnung der Vergangenheit als [postteleologischer] utopischer Bezugspunkt bei Alexander Kluge«) Teil ihrer Untersuchung anhand genauer Analysen ausgewählter Texte und Filme, die das Verhältnis von Kunst und Gesellschaftsutopie auf einer Metaebene selbst zum Gegenstand machen.

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Eingehend beschreibt Mieth in einem ersten Schritt den Wechsel der Leitreferenzen, der Müllers lebenslanges Projekt eines Umbaus des Theaters zum Instrument des Utopischen begleitet: von Brechts Lehrstücktheorie als »Situationsanalytik im Horizont des Telos der Weltrevolution« (S. 102) hin zu Adornos Ästhetik mit ihrer Vorstellung der Kunst als »Korrektiv jeglicher strategischen Herrschaftspraxis« (S. 211). Müllers Theater, das noch in der Negation bezogen bleibt auf die Vorstellung von der notwendigen »Erlösung aus dem Leben in der Tiefe«, 7 stelle im Unterschied zu Brecht nicht mehr das Revolutionsparadigma als Lösungsmöglichkeit gesellschaftlicher Konflikte in den Vordergrund, sondern konfrontiere unter dem Hinweis auf die Opfer der Geschichte Ideologien mit dem Einspruch des Körpers und verweise von hier aus auf das Unerledigte im Geschichtsgang.

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Müller übe eine »genuin ästhetische Kritik an den politischen Optionen und an der politischen Praxis in Ost und West« (S. 88). In seinen Werken teile sich das utopische Ziel »nicht mehr in Form der ›Antizipation‹ einer geschichtlichen Entwicklung mit, sondern vielmehr als ästhetischer Gegenentwurf zum Bestehenden, der sein utopisches Potential in der Ermöglichungsstruktur des Ästhetischen selbst entfaltet.« (S. 128) Die Widerständigkeit der Kunst erfülle sich für Müller im Aushalten der Widersprüche, im Standhalten angesichts des Leidens. Diese kontemplative Bedeutung der Kunst wiederum wird auf der anderen, der politischen Seite seines Werks durchkreuzt, das hat Mieth treffend herausgearbeitet, durch eine »kommunikative Praxis, die sich eigentlich eher als eine Art Angebot ans Publikum versteht, weil sie durch dessen Rezeption erst jenes Profil erhält, das ihr auch den Namen ›Kunst‹ gibt.« (S. 377)

[22] 

In Müllers Wende zur Körperlichkeit sieht Mieth die im Vergleich zu Alexander Kluges Kunstkonzeption entscheidende Akzentsetzung seines Theater. In Kluges Medientheorie und Ästhetik, deren Kern Mieth in dem »Versuch der Auffindung des Rationalen im Irrationalen« (S. 236) bestimmt, findet Mieth auf der anderen Seite allerdings auch ein Pendant zu Müllers indirekter Gesellschaftskritik in der Kunst (eigentlich müsste man sagen: indirekter Utopie). Eine thematische Verbindung zwischen der Kunstpraxis und -theorie Müllers und Kluges stelle das Themenfeld der deutschen Geschichte, insbesondere die Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg dar.

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Weitere Gemeinsamkeiten sieht Mieth »im Hinblick auf die Verfahrensweisen der Montage und des synthetischen Fragments [...], die jeweils aus der Erfahrung der als Katastrophengeschichte bewerteten Vergangenheit hervorgehen« (S. 231), und im Rezipientenbezug beider Ästhetiken, die jeweils auf den kofabulierenden Zuschauer setzen (und damit, wie bereits angedeutet, bei aller Abgrenzung in gleicher Weise an Brecht anknüpfen). Während Müller in seinem Schreiben zumindest filmische Schreibweisen zulasse, dem Medium selbst aber reserviert gegenüber stehe, versuche Kluge gerade im Medium Film den didaktischen Impuls des politischen Theaters fortzuschreiben.

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Fazit

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Der Gewinn von Mieths Arbeit besteht in dem Vergleich von Müllers und Kluges Kunst-Konzeptionen mit Verfahrensweisen Brechts – was zumindest für Kluge in der systematisierenden Form neu ist – und der Ästhetik Adornos – was zumindest für Müller noch nicht erschöpfend geleistet worden ist (wenn es dafür durchaus auch, was Mieth entgeht, Vorarbeiten gibt 8 ). Hier hat Mieth in weiten Teilen Neuland betreten. Das entschädigt für einige Längen (insbesondere im ersten Teil der Arbeit) und Redundanzen durch Absichtserklärungen und Zusammenfassungen (zum Teil in Kombination). Bedenklich stimmt die Neigung der Autorin, insbesondere in den Teilen ihrer Arbeit, die sich mit Heiner Müller beschäftigen, zum Beleg ihrer Thesen immer wieder auf zum Teil Jahrzehnte nach der Entstehung der behandelten Dramen entstandene Interviewäußerungen zurückzugreifen, was Konstanz unterstellt und den Blick auf mögliche Varietäten und Brüche in der ästhetischen Konzeption verstellt. Nichtsdestoweniger hat Corinna Mieth mit ihrer Untersuchung Das Utopische in Literatur und Philosophie eine ebenso kluge wie materialreiche Arbeit vorgelegt, die der Forschung neue Wege aufzeigt.



Anmerkungen

Vgl. dazu den von Richard Saage herausgegebenen Sammelband »Hat die politische Utopie eine Zukunft« (Darmstadt 1992).   zurück
Jörn Rüsen: Utopie und Geschichte. In: Wilhelm Vosskamp (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Bd. 1. Stuttgart 1982, S. 356–374; S. 507.   zurück
Vgl. dazu die beiden Gesprächsbände »›Ich schulde der Welt einen Toten‹. Gespräche« (Hamburg 1995) und »Ich bin ein Landvermesser. Gespräche. Neue Folge« (Hamburg 1996).   zurück
Jean-François Lyotard: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? In: Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Hg. von Wolfgang Welsch. Weinheim 1988, S. 193–203; S. 203.   zurück
Heiner Müller: Gesammelte Irrtümer. Interviews und Gespräche. Frankfurt / Main 1986, S. 57.   zurück
Heiner Müller: Gesammelte Irrtümer 2. Interviews und Gespräche. Hg. von Gregor Edelmann und Renate Ziemer. Frankfurt / Main 1990, S. 64.   zurück
Heiner Müller: »Zur Lage der Nation«. Berlin 1990, S. 53.   zurück
Vgl. insbesondere Ernst Grohotolsky: Ästhetik der Negation – Tendenzen des deutschen Gegenwartsdramas. Versuch über die Aktualität der »Ästhetischen Theorie« Theodor W. Adornos. Diss. Masch. Graz 1982.   zurück