Willi Goetschel

Moritz Lazarus ein Klassiker der Kulturwissenschaft?




  • Moritz Lazarus: Grundzüge der Völkerpsychologie und Kulturwissenschaft. Hg. von Klaus Christian Köhnke. (Philosophische Bibliothek 551) Hamburg: Felix Meiner 2003. XLII, 294 S. Gebunden. EUR 42,00.
    ISBN: 3-7873-1632-9.


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Moritz Lazarus ein Klassiker? Das Neuerscheinen einiger seiner Schriften macht die Wiederentdeckung eines Denkers möglich, dessen Namen nur wenige gehört haben dürften. Und dennoch: nachträglich – und vom gegenwärtigen Interesse aus gesehen, Kultur in theoretisch differenzierter Weise zu verstehen – erscheint Lazarus’ philosophisches Projekt als ein bahnbrechender Beitrag im Kontext des sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts artikulierenden Bemühens um eine kritische Erfassung und Bestimmung von Kultur, wie es sich im Spannungsfeld zwischen Hegel und neukantianischer Kritik entfaltet.

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Lazarus stellt dabei eine typische Übergangsfigur dar, die aber gerade darum für die Weichenstellung eine entwicklungsgeschichtlich zentrale und deshalb auch wieder historisch aufschlussreiche Position einnimmt. Mag sein Projekt der Begründung der Völkerpsychologie und ihr Anwendungsbereich in vielem überholt anmuten, so stellt anderseits sein kulturtheoretischer Ansatz eine kritische Alternative zum schulphilosophischen Diskurs des 19. Jahrhunderts dar, dessen Fruchtbarkeit erst im Licht der neusten Diskussionen um die Kulturwissenschaft in seiner ganzen Bedeutung deutlich zu werden vermag.

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Insofern markiert Lazarus’ Denken eine historisch bemerkenswerte Position als es einerseits die Dynamik des Zeitgeists um die Mitte des 19. Jahrhunderts widerspiegelt, in dessen Rahmen er sein philosophisches Projekt artikuliert, und diesen andererseits auch kritisch reflektiert und um Differenzierungen bereichert, aufgrund derer Lazarus selbst als Philosoph sich in den deutschen philosophischen Diskurs einzuschreiben sucht. Mag es auch zutreffen – wie Köhnke in seiner Einleitung notiert –, dass gerade die frühen Jahre der Formulierung des Projekts der Völkerpsychologie in Lazarus’ Leben eine Phase darstellen, in denen das Bemühen um »Assimilation« besonders ausgeprägt erscheint, so ist – wie er gleichzeitig zurecht bemerkt – das Projekt der Begründung der Völkerpsychologie nicht von der Tatsache zu trennen, dass gerade der Gedanke, die Bedingungen der »Assimilation« prinzipiell zu durchdenken, der entscheidende Beweggrund von Lazarus’ theoretischem Bemühen darstellen dürfte. Köhnke weist dabei allerdings darauf hin, dass Lazarus’ eigene explizite Stellungnahmen zu dieser Frage aus einer Zeit stammen, als er längst zu einem bewussten Judentum zurückgekehrt war (S. XXXI).

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Was Lazarus im Alter rückblickend in einer Antwort an die Lehrerbildungsstätte des liberalen amerikanischen Judentums, das Hebrew Union College in Cincinnati, als ein Projekt beschrieb, das »aus den letzten Tiefen des Judentums entspringe«, gilt so ungemindert auch dann, und gerade dann, wenn wir annehmen, dass der junge Lazarus zunächst bestrebt war, sich zu »assimilieren«. Aber »Assimilation«, wie sie nicht nur Lazarus, sondern deutsche Juden überhaupt im 19. Jahrhundert verstanden, bedeutete alles andere als ein rest- und selbstloses Aufgehen im Paradigma einer apriori festgeschriebenen deutschen Kultur. Vielmehr bestand die Begeisterung des deutschen Judentums darin, an der Bildung der neu entstehenden modernen deutschen Kultur ebenso schöpferisch mitarbeiten zu können wie seine nichtjüdischen Zeitgenossen.

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Kultur als »Inbegriff der Differenzen
verschiedener Kulturen«

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Die lebenspraktische wie theoretische Herausforderung aber bestand darin, ein solches Selbstverständnis, welches das akademische Schuldenken gerade ausschloss, und dessen kritischer Ansatz noch bis heute von der Geschichtsschreibung in seiner ganzen Konsequenz aufzuarbeiten bleibt, überhaupt erst einmal als philosophische Problematik vorstellig zu machen. Genau dies sollte Lazarus’ Völkerpsychologie mit ihrem neuen Ansatz, Kultur theoretisch zu erfassen, leisten. Bereits Durkheim begriff, dass es sich bei dem, was Lazarus und sein Mitarbeiter und Schwager Heymann Steinthal als Völkerpsychologie inaugurierten, eigentlich um Sozialpsychologie handelte. Zwischen Herbart, dem sich Lazarus in vielem verpflichtet sah, dem Zeitgenossen Dilthey, dem er in der Jugend nahe stand, und seinem Schüler Georg Simmel, der von ihm entscheidende Impulse aufnahm, steht Lazarus als derjenige Philosoph, dessen Theorie des objektiven Geistes die philosophische Grundlage dafür geschaffen hat, Kultur theoretisch als dasjenige Phänomen zu erfassen, das über die engen Grenzen hochkultureller Bildungsbürgerlichkeit hinausreichend, das Leben in seiner Alltäglichkeit bis in die feinsten Innervationen hinein prägt.

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Damit aber konnte gerade die alltäglichste Lebenswelt zum Thema systematischer wissenschaftlicher Reflexion werden und den blinden Fleck des kulturellen Selbstverständnisses erhellen, das seinerseits ja wiederum diktierte, was als Wissenschaft gelten konnte und was nicht. Das heißt Kultur – und das ist die eigentliche Pointe, die der Begriff einer Völkerpsychologie anzeigt – ist immer schon als Plural zu denken. Denn Kultur ist für Lazarus der eigentliche »Inbegriff der Differenzen verschiedener Kulturen« (Köhnke, S. XXVIII). In der unauffälligen, aber gleichwohl distinkten Differenz zu all dem, was ein Singular hier implizieren würde, signalisiert Lazarus’ Begriffsprägung »Assimilation« als ein Programm, das Emanzipation immer schon voraussetzt, wenn auch in wohltemperierter Form.

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Mit dem Begriff des objektiven Geistes, den er im Gegenzug zu Hegel definiert, thematisiert Lazarus das Wechselverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, und gibt damit einem Phänomen soziologische Dignität, das bisher kategorisch nicht zu fassen war. Damit kann nun aber die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft als ein fruchtbarer und für die Herausbildung der Kultur konstitutiver Prozess erkannt und damit dessen Wechselseitigkeit in unverkürzter Form Gegenstand der wissenschaftlichen Erforschung werden.

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Nation als sozial-
psychologische Kategorie

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Bereits der frühe programmatische Essay von 1851 »Ueber den Begriff und die Möglichkeit einer Völkerpsychologie« des 27-jährigen formuliert in prägnanter Weise, um was es der neu zu begründenden Disziplin einer Völkerpsychologie geht (S. 3–25). Was hier allerdings noch Volksgeist genannt wird, wird Lazarus später mit dem Begriff »objektiver Geist« bezeichnen. In der Verwendungsweise des Begriffs »Volksgeist« für das von ihm namhaft gemachte Phänomen als einer sozialpsychologischen Kategorie lässt sich aber bereits eine kritische Wendung erkennen, die den Volksgeist im kritischen Gegenzug zum Zeitgeist soziologisiert und damit entnationalisiert, und dies gerade unter durchaus selbstbewusster Verwendung von Nation – als einer sozialpsychologischen Kategorie. Lazarus’ Pointe besteht also darin, Nation als soziokulturelles Konstrukt herauszustellen. Indem Lazarus Volksgeist hier als einen Begriff verwendet, der resolut wertneutral, und frei von normativen sowie teleologischen Besetzungen bestimmt ist, macht er den metaphysisch aufgeladenen Begriff wissenschaftlich verwendbar.

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Diese Umpolung dokumentiert im Detail den kritischen emanzipatorischen Impuls, der Lazarus’ Projekt eingeschrieben ist. Die gängigen Mechanismen von Ausschluss und Binnendifferenzierung, welche den Volksbegriff gerade in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem tief problematischen Unternehmen machen, werden bei Lazarus auf diese Weise methodisch kaltgestellt. Ihm geht es primär um die Schaffung von wissenschaftstauglichen Beschreibungsinstrumentarien, um soziologische Bewegungen objektiv beschreiben zu können. Dabei gewinnt der Begriff der Wechselwirkung zentrale Bedeutung. Durch ihn lässt sich der reziproke Konstitutionszusammenhang von Gesellschaft und Individuum als ein Prozess beschreiben, der von Hegels Begriff der Dialektik gerade ausgeblendet blieb.

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Zeitschrift für Völkerpsychologie
und Sprachwissenschaft

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Ein Jahrzehnt später erhält das philosophische Projekt von Lazarus mit der von ihm gemeinsam mit Steinthal begründeten Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft auch ein akademisches Organ. In dieser Zeitschrift erscheinen in der Folge Lazarus’ regelmäßige Beiträge zu theoretischen wie angewandten Fragen der Völkerpsychologie und Sozialpsychologie. Hier erscheinen auch die drei Texte »Verdichtung des Denkens in der Geschichte« (S. 27–38), »Ueber das Verhältniß des Einzelnen zur Gesammtheit« (S. 39–129) und »Einige synthetische Gedanken zur Völkerpsychologie« (S. 131–238). In diesen Texten entwickelt Lazarus die Unterscheidung zwischen “objektivem” und “subjektivem” Geist in systematischer Weise weiter.

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Geschichtlichkeit als Sedimentierung
kultureller Leistungen

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Während die Bildung des Einzelnen als ein Prozess von Aneignung und Verarbeitung der Begriffe beschrieben werden kann, werden Kultur und Sprache als historische Konstrukte gesellschaftlicher Praxis beschreibbar, die den Einzelnen in gewisser Weise emanzipieren, aber gleichzeitig die konzeptionelle Vorgabe darstellen, die die subjektive Existenz des Einzelnen noch bis in den gewöhnlichsten Alltag hinein färbt: »fern von seinem Beginn und unerwartet schlingt sich der Faden höchster Geistescultur in die Formen der alltäglichsten Dinge« (S. 33). So arbeitet zwar die Geschichte für das Individuum, wie Lazarus formuliert, »aber sie kann es seiner eigenen Arbeit nicht überheben« (S. 36).

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Damit wird das Leben in der Moderne erkennbar als die ständige Bewegung, in der die »objectiven Verdichtungen der Cultur durch die Kenntniß ihrer Geschichte in subjective verwandelt werden« (S. 36). Geschichtlichkeit wird somit beschreibbar als Sedimentierung kultureller Leistungen. Diese erscheinen nicht länger als Kraftakte der Tätigkeit einzelner Individuen, sondern werden in ihrer Funktion begreifbar, die dann als spezifisch soziologische erkannt werden kann.

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Verhältnis von Individualität und
Allgemeinem als Prozess

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Stellen diese Texte den Ort dar, wo der Übergang von der Philosophie zur Soziologie abgelesen werden kann, wo die Weichen von der nachhegelschen Position zur modernen Soziologie bei Simmel gestellt werden, so ist der philosophisch originellste Beitrag Lazarus’ sein Ansatz, das Verhältnis zwischen dem Besonderen und Allgemeinen zu denken. In kritischer Distanz gegenüber jeder Form kausal bestimmter Erklärungsmuster erkennt Lazarus gerade in der Frage, wie das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu denken ist, eine prinzipielle Herausforderung an die traditionellen Kategorien philosophischen Denkens. Die Originalität von Lazarus’ Ansatz besteht nun darin, dass er jenseits der Logik kausaler Bestimmung und einfacher Wechselwirkung ein Modell entwirft, das es erlaubt, die Spannung zwischen Individualität und Allgemeinem als einen Prozess zu begreifen, aufgrund dessen nicht nur Individualität sich stets dem Allgemeinen verdankt, das es bildet, sondern auch umgekehrt das Allgemeine durch die schöpferische Individualität als mitgeschaffen verstanden wird.

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In Lazarus’ Sicht kann so das Allgemeine in einer Weise konzipiert werden, welche es erlaubt, das Allgemeine dynamisch als durch die Intervention des Einzelnen jeweils neu und anders konstituiert zu denken, und in dieser Erweiterung und Neukonstituierung des Allgemeinen gerade den eigentlichen kulturellen Fortschritt zu erkennen. Lazarus fordert eine Betrachtungsweise ein, welche die Logik als nur begrenzt geltende Denkform erkennt, und an ihre Stelle die Bedeutung der psychologischen, das heißt völkerpsychologischen oder sozialpsychologischen Betrachtungsweise als einen alternativ weiterführenden Ansatz herausstellt (S. 106–110; 225 f.).

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So stellt das wissenschaftliche Projekt von Lazarus einen Versuch dar, genau diejenige Problematik von Differenz und Alterität philosophisch zu erfassen, die heute zu einem so dringenden Anliegen geworden ist. Dass Lazarus dabei gleichzeitig auch unleugbar historisch geworden ist, könnte gerade als eine Herausforderung dafür genommen werden, unsere eigenen Diskurse auf ihre historische Kontingenz hin kritisch zu durchleuchten.


Prof. Willi Goetschel
University of Toronto
St. Michael's College
50 St. Joseph Street
CA - Toronto, ON M5S 1J4

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Ins Netz gestellt am 07.05.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Willi Goetschel: Moritz Lazarus ein Klassiker der Kulturwissenschaft? (Rezension über: Moritz Lazarus: Grundzüge der Völkerpsychologie und Kulturwissenschaft. Hg. von Klaus Christian Köhnke. Hamburg: Felix Meiner 2003.)
In: IASLonline [07.05.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=713>
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