Frauke Berndt

Performativität und ästhetische Erfahrung




  • Lothar van Laak: Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit. Historisch-systematische Studien zur Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. (Communicatio 31) Tübingen: Max Niemeyer 2003. 309 S. Kartoniert. EUR 46,00.
    ISBN: 3-484-63031-0.


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Ästhetik und Anthropologie
literarischer Sinnlichkeit

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Keine Frage, die theoretisch avancierte Literaturwissenschaft hat in den letzten Jahren einen Paradigmenwechsel vollzogen, der dem allgemeinen ›cultural turn‹ philosophischer und historischer Diskurse Rechnung trägt: Performanz bzw. Performativität heißen die neuen Zauberworte, die nun die rezenten Philologien im Verbund der Kulturwissenschaften systematisch integrieren sollen. Diese theoretische Trendwende hat das allmähliche Verblassen solcher Verdikte ermöglicht, die eine mehr oder weniger differenzierte Rezeption von Positionen des Post- oder Neostrukturalismus sowie der Dekonstruktion nach sich gezogen hat. In der vorliegenden Arbeit rücken mit dem neuen Paradigma der »›Performativität‹« daher Phänomene in den Blick, 1 die unter solche (Denk-)Verbote gefallen sind: die Unmittelbarkeit und Ereignishaftigkeit, die Literatur aufgrund ihrer Sinnlichkeit als Erfahrungspotential bereithält. Diese Sinnlichkeit meint nicht die subjektive, ästhetische »Präsenzerfahrung« im allgemeinen (S. 3), »die wir mit dem Kunstwerk und an ihm machen«, sondern fragt sowohl historisch als auch medial differenzierend: »Inwiefern kann Literatur sinnlich sein? Was also bedeutet ästhetische ›Erfahrung‹ am literarischen Text?« (S. 2).

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Wenn die Sinnlichkeit von Literatur als Gegenstand der ästhetischen Erfahrung aufgefaßt und gleichzeitig der Textwissenschaft ein Schnippchen geschlagen werden soll, dann knüpft die Literaturwissenschaft an Fragestellungen der Rezeptionsästhetik an, die in den letzten Jahren wieder an Boden gewonnen hat. In den Mittelpunkt des germanistischen Interesses rücken dabei die Vertreter der sogenannten Wirkungsästhetik, die für eine kulturwissenschaftlich annoncierte Diskussion auf- bzw. umgerüstet werden können. Unter dem Stichwort der Performativität hat daher beispielsweise zeitgleich mit van Laak auch Caroline Torra-Mattenklott ein vergleichbares Textkorpus für ihre »Metaphorologie der Rührung« verhandeln können. 2

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Ausgangspunkt der »Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit« ist die Kritik an semiotischen Beschreibungsmodellen von Literatur, die nach van Laaks Einschätzung an wesentlichen Aspekten des Literarischen scheitern, weil sie diese in ein einfaches Modell stellvertretender Repräsentation nicht integrieren können. »In der ästhetischen Erfahrung« solcher Phänomene, erläutert van Laak, »liegt eine besondere Vollzugsqualität. Diese ist nicht primär diskursiv und nicht in einem engen semantischen und semiotischen Sinn zu fassen« (S. 3). Diese Präsenzerfahrung ist den Bedingungen der Schriftkultur unterworfen, die mit den neuen Modellen von Subjektivität und Kunst bzw. Ästhetik um 1750 aufs engste zusammenhängt. »›Denn Literatur soll nun auch das leisten, was die orale Lesesituation nicht mehr bietet, nämlich die Qualität eines literarischen Erlebnisses zu vermitteln‹« (S. 5). Zur Diskussion steht daher, auf welche Weise der schriftlich niedergelegte »Text selbst sinnliche Qualitäten entwickelt« (S. 6). Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Differenzierung übernehme die literarische Erfahrung die Funktion von Entdifferenzierung. Sie gewährleiste »literarisch und ästhetisch ›Unmittelbarkeit‹ [...], auch wenn Mittelbarkeit, Vermittlung, Medialität literarische Produktion wie Rezeption ganz grundsätzlich charakterisieren« (S. 9).

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Weder phänomenologische noch rezeptionsästhetische oder semiotisch-rhetorische Ansätze könnten den Anteil der Sinnlichkeit an Prozessen der Sinngebung angemessen beschreiben. Deshalb proklamiert van Laak eine um pragmatische, ja ›lebensweltliche‹ Aspekte erweiterte Hermeneutik:

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In ihr bietet sich die Sinnlichkeit des Sinns weniger diskursiv als vielmehr präsentativ dar. Sie hält die subjektiven Leistungen der Fantasie, der Assoziation und der Gestaltbildung intersubjektiv vermittelbar und erweist sich schließlich deutbar in ihrem kulturellen Zusammenhang. Die Hermeneutik der Sinnlichkeit argumentiert also notwenig immer zugleich ästhetisch, rezeptionshermeneutisch und kulturanthropologisch, ohne den einen gegen den anderen Aspekt zu setzen. (S. 15)
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Systematik und Geschichte
literarischer Sinnlichkeit

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Das Kürzel ›literarische Sinnlichkeit‹ faßt also den Prozeß der sinnlichen Erfahrung von Literatur unter den Bedingungen und Möglichkeiten der Schriftkultur zusammen. Susanne K. Langers Symboltheorie in »Philosophy in a New Key« (1942) und John Deweys Theorie ästhetischer Erfahrung in »Art as Experience« (1934) bilden die systematische Grundlage für van Laaks hermeneutisch orientiertes Verständnis dieses Prozesses. Sie basiert auf der Tatsache, daß die Wahrnehmung nicht als bloßes Sinnesdatum verstanden wird, sondern als sensitive Gestaltung, aus der die symbolische Form eines Objekts in einem (als Repräsentationskraft) verstandenen Bewußtsein entsteht. Dieser gestalteten Form kommen in der Diskursgeschichte von Baumgarten bis Cassirer verschiedene Attribute zu, die den subjektiven Aspekt des Gestaltens mit dem objektiven der Gestaltung korrelieren.

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Den rationalen Strukturen von Literatur stellt van Laak die Gestaltung durch das »Sinnenwissen« nicht gegenüber, sondern er faßt die »vollzugsorientierte Gegenständlichkeit« als integralen Bestandteil von Bedeutung auf (S. 7). Deshalb bevorzugt er die Ansätze der Gestaltpsychologie, weil sie »expressive und repräsentative Funktionen von Äußerungen« als gleichwertige Bestandteile einer dann dynamischen Bedeutung verstehen. Wenn also innerhalb der »Prozeß- und Vollzugshaftigkeit« Bedeutung entstehe (S. 282), dann stelle sich diese »präsentativ, protosymbolisch und pragmatisch« ein (S. 3).

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Daß diese protosymbolische, nicht mehr semiotisch zu beschreibende Gestaltung gleichzeitig als eine Form von Handlung begriffen werden kann, führt dazu, daß van Laak sie als »spezifisches Paradigma von Performativität« begreift, das er mit Erika Fischer-Lichte in systematischer Hinsicht als »Theatralität« bezeichnet (S. 84). 3 Dieser Handlungsbegriff erhält eine »hermeneutisch-pragmatische Dimension«, die jede subjektive Gestaltung prinzipiell auf »kommunikatives Handeln« in einem gesellschaftlichen Raum und d.h. auf die von van Laak betonten ›lebensweltlichen‹ Zusammenhänge hin öffnet (S. 30), so daß Gestalt, Vollzug und Handlung die Hermeneutik der Sinnlichkeit konzeptuell begründen.

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Als ästhetische hat auch die literarische Erfahrung – wie kann es anders sein – einen Gegenstand, der erst und nur im Prozeß der sinnlichen Wahrnehmung entsteht und dort als »Darstellung« (selbst-) reflexiv wird (S. 46). Diese Gegenständlichkeit vermittelt zwischen Text und erfahrendem Subjekt – ein Prozeß, den van Laak an den Vollzug der Lektüre bindet. In ihr erlebt der Rezipient die sogenannte »›Bildlichkeit‹« und den »›Rhythmus‹« bzw. ihr synästhetisches Zusammenspiel (S. 3), die seit alters her für die Wirkung, nicht selten die Täuschung durch eine Rede verantwortlich gemacht und schon in der antiken Rhetorik in den Konzepten von ›enargeia‹ (Anschaulichkeit) und ›energeia‹ (Bewegung) affektrhetorisch grundiert werden.

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Dabei kommt es van Laak darauf an, die systematischen (und historischen) Konzepte von Bildlichkeit auf ihre performative Wende hin zu befragen. Die energetischen Aspekte der Ästhetik zielen – im Gegensatz zur rhetorisch-ornamentalen enargetischen Herausstellungen und hypotypotischen Ausprägung – darauf ab, die »Verlebendigung« des Gegenstands zu bewirken (S. 74). Die Abschnitte über Bildlichkeit (2.1 bis 2.3) diskutieren Aspekte der Bewußtseins- und Gestaltpsychologie, der Emblematik, Allegorie- und Metapherntheorie, der Phänomenologie, Sprachphilosophie und Pragmatik, auf deren Grundlage van Laak am Ende festhalten kann: »In die literarischen Evidenz-Modelle gelangen jedoch auch zunehmend performative Bestimmungen, die sich die Vermischung des ›enargeia‹- mit dem ›energeia‹-Begriff zunutze machen« (S. 70).

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Ihre Lebendigkeit erhält die sinnliche Darstellung des Gegenstandes aber vor allem durch den zeitlich indizierten Rhythmus, den van Laak (in Abgrenzung vom räumlichen Metrum) für die prozessuale Erfahrung von Bedeutung stark macht. In den Abschnitten über den Rhythmus (2.4 bis 2.6) hält er interessante und vielversprechende (Be-)Funde im Hinblick auf die nach wie vor offene Theorie des Rhythmus bereit: »So läßt sich auch der Rhythmus als eine Gestaltungsweise ästhetischer Gegenständlichkeit verstehen. Eher als die Bildlichkeit betrifft er dabei die Medialität und Geschichtlichkeit des Sinnlichen, weil Zeitlichkeit im Rhythmus anders präsent wird« (S. 75), erläutert er und ergänzt: »Rhythmus ist also auch semantisch« (S. 76).

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Den historischen Durchgang verbindet van Laak in sehr durchdachter Weise mit seinen beiden systematisch profilierten Gegenständen der literarischen Erfahrung. Er integriert diesem Durchgang darüber hinaus drei Exkurse zum Verhältnis von Hermeneutik und Anthropologie (Haller), zum Erhabenen (Burke-Rezeption) und – als Ergänzung der Systematik – noch einmal zum Rhythmus (G. F. Meier, Klopstock, Lessing). In der Anlage unterscheidet van Laak die Vor- von der Hauptgeschichte literarischer Sinnlichkeit nach dem Modell einer durchaus teleologisch grundierten Verlaufsgeschichte, die vom Paradigma der Repräsentation zu demjenigen der Performativität und d.h. bei van Laak von einer Produktions- bzw. Werkästhetik hin zu einer Repräsentationsästhetik führt; deren Grenze haben die Autoren »schon« (pass.) oder eben noch nicht überschritten.

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Die Darstellung beginnt mit Gryphius’ Trauerspielen, an denen van Laak exemplarisch die barocken Konzepte literarischer Bildlichkeit durchspielt. Die Argumentationsschwerpunkte des 18. Jahrhunderts bilden zwei systematische und drei autorenbezogene Kapitel. Die Arbeit verfolgt die Konzeption von »Sinnlichkeit im Aufklärungsdiskurs« bei den Schweizern, Baumgarten und G. F. Meier (2.) sowie das Verhältnis von »Sinnlichkeit und Semiotisierung« bei Mendelssohn, Lessing und Engel (5.) Mit Klopstock (3.) und Wieland (4.) behandelt van Laak zwei Autoren, deren poetische Texte die Probe aufs Exempel ihrer jeweiligen Poetik machen, Klopstock auf diejenige der Darstellung, Wieland auf diejenige der Imagination. Herders (6.) historische bzw. historisierende Konzeption von Sinnlichkeit rundet den Durchgang ab. Die Arbeit endet mit einem Ausblick auf Schiller, markiert also den Übergang von den Diskursen der Aufklärung / Empfindsamkeit zu denjenigen des Klassizismus.

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Wen kümmert’s,
wer erfährt?

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Für seine materialreiche Arbeit greift van Laak sowohl auf breit angelegte Kenntnisse der Quellen als auch der Forschungsdiskussion(en) zurück; von Anfang an ist die Fragestellung klar umrissen, die Systematik auf sinnvolle und sachlich einschlägige Schwerpunkte begrenzt und sind die Autoren gezielt sowie repräsentativ ausgewählt. Die Stärke der Arbeit liegt zweifellos in van Laaks Fähigkeit, komplexe historische und systematische Zusammenhänge zu disponieren und dabei das Tableau des 18. Jahrhunderts noch einmal dicht zu umstellen.

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Ihre grundsätzlichen Probleme erbt die Arbeit indessen von dem Modell der ästhetischen Erfahrung. Die folgenden Anmerkungen verstehen sich deshalb auch nicht (nur) als Kritik an der »Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit«, sondern als kritisches Nachdenken, welches das Verhältnis von Philologie i.S.v. Textwissenschaft und Kulturanthropologie streift. Denn mit der Entscheidung für seinen Ansatz handelt sich van Laak einen argumentativen Fluchtpunkt ein, den er bezeichnenderweise in anthropologischer Schwebe halten muß: »wir« und der »Mensch« sind die Platzhalter einer Position, die historisches und systematisches Interesse verschaltet oder etwas schlichter ausgedrückt: einer Position, die »uns« mit denjenigen verbindet (pass.), die um 1750 »ästhetische Erfahrungen [...] an Literatur machen« (S. IX).

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Von Anfang an wehrt sich van Laak gegen die Gefahr, das Modell der ästhetischen Erfahrung bloß »vage, tastend und [...] metaphorisch« zu verstehen (S. 2) und bietet dagegen das ganze theoretische Spektrum auf. Das ganze? Tatsächlich schließt er die textwissenschaftlichen Beschreibungsmodelle aus – dazu zählen sowohl die strukturalistischen jedweder Provenienz als auch die rhetorischen und semiotischen. Doch van Laak beschränkt sein Interesse keineswegs auf die Wahrnehmung, auf die sinnliche (sensitive) Erkenntnis eines Gegenstandes, wie sie auf der Grundlage der Leibniz-Wolffschen Schulphilosophie Baumgarten in der »Aesthetica« (1750/58) diskursiv begründet hat und die das Attribut ›sensitivus‹ (sinnlich) sowohl für Medium (Sinne) und Modus des Vorstellens (Seelenvermögen), Qualität und Quantität der Vorstellung als auch für die Affekte vorsieht. 4 Hätte er sein Interesse darauf beschränkt, er wäre zwangsläufig auf die erkenntnistheoretischen Grenzen der Rede über ›Präsenz‹ oder ›Ereignis‹ gestoßen, die dann Kant in der dritten »Kritik der Urteilskraft« (1790) in seiner Analyse des ästhetischen Urteils zusammenfaßt.

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Doch van Laak fragt: »Was ist an einem ›literarischen‹ Text schön, was ›vollkommen‹, ›lebendig‹, ›anschaulich‹?« (S. 2). Seine Quellen sind weder metaphysische, erkenntnistheoretische noch (vermögens-)psychologische Diskurse, sondern vor allem rhetorische, die ab 1750 zu ›modernen‹ poetologischen avancieren, indem sie die Fragestellungen der anderen Diskurse integrieren und d.h. stets in Beziehung zu textuellen Verfahren setzen. Obwohl van Laak ausdrücklich vor der (Denk-) Falle solcher Dichotomien wie derjenigen von Subjekt und Objekt warnt, kann er in der eigenen Argumentation die Kluft zwischen Text und Subjekt nicht überbrücken, auch wenn er den Gegenstand literarischer Sinnlichkeit natürlich längst auf der Seite der wahrnehmend-gestaltenden Erfahrung verortet hat. Nach dem (räumlichen) Modell ›da – wo‹ schreibt van Laak dabei der Prädikation ›Literatur ist sinnlich‹ bezeichnenderweise einen Ortswechsel ein: »Literatur ist da sinnlich, wo der Text uns – mit Schiller – anrührt, sich uns vorstellt und unsere Sinne umstrukturiert oder bekräftigt, wo sich in der Rezeption die Welt für die Sinne verfremdet, neu schafft und beglaubigt« (S. 282).

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Tatsächlich verbietet die starke Akzentuierung der »Literalität« die Vernachlässigung der Materialität und Medialität des Textes (S. 2). Wie kann das Verhältnis von Schrift und medialer Transformation zu Bild und Rhythmus überhaupt diesseits semiotischer bzw. textueller Modelle und der von ihnen konzeptualisierten oder vorausgesetzten Subjektfunktionen gedacht werden – noch dazu, wenn diese Gegenständlichkeit ausdrücklich »zwischen Werk und erfahrendem Subjekt« platziert ist (S. 40)? Für die Diskussion solcher Transformationsprozesse reicht es einfach nicht aus, darauf zu vertrauen, daß ›wir‹ diese Gegenstände ›irgendwie‹ gestalten. Daß sie Produktion, Rezeption und Produkt, daß sie Autor, Leser und Text als austauschbare Variablen voraussetzten, die über Substitutionen, Verschiebungen und Inversionen füreinander einstehen, ist eine der Besonderheiten, ja Absonderlichkeiten der sich formierenden ›modernen‹ Diskurse rhetorischer Provenienz. Daß die zitierten Textbeispiele in ihrem eigenen Reflexionsniveau deshalb in der vorliegenden Arbeit dasjenige der Analyse oft übersteigen, mag als Symptom des aufgeworfenen Problems gelten.

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Aus diesen Überlegungen folgt, daß das konzeptualisierte Subjekt, daß das ›Wir‹ der ästhetischen Erfahrung viel stärker historisiert und in die Abhängigkeit spezifischer Argumentationszusammenhänge – und d.h. um 1750 in Abhängigkeit von Modellen der Textualität – gestellt werden muß, als es van Laak vorschlägt. Möglicherweise taugt das Paradigma der Performativität dazu, die Abhängigkeit der Aussagen über die literarische Erfahrung von den materialen Gegebenheiten des Textes und seiner poetischen Funktionen zu vermitteln. Die differenzierte Diskussion läßt jedenfalls vermuten, daß einige ›alte‹ Aporien nicht notwendigerweise wiederholt werden müssen, weil Performativität nämlich durchaus semiotisch angebunden werden, in diesem Fall freilich nicht mehr als Gegenbegriff des Semiotischen herhalten kann. Denn es gibt solche Funktionsstellen des Zeichens, an denen ›Präsenz‹ oder ›Ereignis‹ vorgesehen sind – ohne daß diese Phänomene in den in Frage kommenden Theorien jemals positiv gedacht werden. 5

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Auf diese Interferenz von Performativität und Semiotizität stößt van Laak selbst immer wieder (5.1 und 5.2), wenn er auf »die semiotische Fassung der Sinnlichkeit ästhetischer Erfahrung« in Zeichenkonzepten eingeht, aber stets auf die Überschreitung des Semiotischen durch das Ästhetische, der Vermittlung durch die »Unmittelbarkeit« abzielt (S. 203). Erst jedenfalls, wenn der Ortswechsel der Sinnlichkeit systematisch begründet, wenn erklärt werden könnte, warum – zu den (stets erkenntnistheoretisch grundierten) Bedingungen und Möglichkeiten welchen ›Sprachspiels‹ – um 1750 der Ort des Subjekts am Ort des Textes verhandelt wird, dann stände van Laaks globale Aussage wirklich auf sicheren Füßen: Ästhetische Erfahrung »konstituiert Lebenswelt, in der sich der Mensch bewegt, in der er sich verstehen und in der er handeln kann« (S. 282).


Prof. Dr. Frauke Berndt
Eberhard Karls Universität Tübingen
Deutsches Seminar
Wilhelmstr. 50
DE - 72074 Tübingen

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Ins Netz gestellt am 23.02.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Martin Stingelin. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Frauke Berndt: Performativität und ästhetische Erfahrung. (Rezension über: Lothar van Laak: Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit. Historisch-systematische Studien zur Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen: Max Niemeyer 2003.)
In: IASLonline [23.02.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=721>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Kursivierte Fachbegriffe und fremdsprachliche Begriffe sowie Hervorhebungen im Original sind in einfache, kursivierte Titel in doppelte Anführungszeichen transkribiert.   zurück
Vgl. Caroline Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung. Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert. München: Fink 2002; dazu meine Rezension: Von Mixern und Seelen. Caroline Torra-Mattenklotts Studien zur physikalischen Grundierung ästhetischer Modelle in der Aufklärung. In: Literaturkritik.de, 5 (2003), Ausgabe 2, http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=5712    zurück
Van Laak referiert auf Erika Fischer-Lichte: Theater als kulturelles Modell. In: Germanistik. Disziplinäre Identität und kulturelle Leistung. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1994. Weinheim: Beltz, Athenäum 1995, S. 164–184.   zurück
Vgl. Johann Gottfried Herder: Kritische Wäldchen. Oder: Betrachtungen über die Wissenschaft und Kunst des Schönen. Viertes Wäldchen über Riedels Theorie der schönen Künste. In: J. G. H.: Werke. Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1761–1781. Hg. von Gunter E. Grimm. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1993, S. 377f.   zurück
Einen hervorragenden Überblick gibt Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002. Zum Verhältnis von (Post- / Neo-)Strukturalismus und Performativität vgl. insbesondere die Monographien von Dieter Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München: Fink 2002; D.M.: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002; davor (und danach) seine zahlreichen Aufsätze.   zurück