IASLonline

Eine musterhafte Schriftstellerbiographie

  • Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 2003. 2048 S. Gebunden. EUR (D) 78,00.
    ISBN: 3-498-00891-9.
[1] 

Ein Plädoyer
für dicke Bücher

[2] 

Biographien haben die Potenz zum Bestseller, sie spielen innerhalb der philologischen Gattungen die Rolle der Unterhaltungsliteratur. Die vorliegende Besprechung betrachtet seinen Gegenstand aus genügend zeitlichem Abstand, um aus dem ersten Jahr nach dem Erscheinen des Buchs im September 2003 von großer Zustimmung berichten zu können. Mehr als hundert durchwegs lobende Besprechungen in den Printmedien und im Internet bezeugen dies ebenso wie angesichts des Preises bemerkenswert hohe Verkaufszahlen. Dass eine Biographie zu Robert Musil (geboren 1880 in Klagenfurt, gestorben 1942 in Genf), der als eben nicht leicht zugänglicher Autor gilt und als unbequemer Mensch galt, zu einem Markterfolg auswächst, mag ebenso mit dem ›Musil-Effekt‹ zu tun haben wie mit der Darstellungsstrategie des Verfassers Karl Corino. Als Musil-Effekt sei das Phänomen der angeblich schwer genießbaren Bücher bezeichnet, die dennoch in jeder einigermaßen repräsentativen Bibliothek zu finden sind. Schwer Genießbares geschrieben zu haben, darf man Karl Corino freilich nicht vorwerfen.

[3] 

Der promovierte Germanist 1 und langjährige Redakteur beim Hessischen Rundfunk ging an den Fall Musil mit den Mitteln des Historikers und des Journalisten heran. In seit 1966 mit der allergrößten wissenschaftlichen Akribie ausgeführter Forschung hat er das Leben des österreichischen Schriftstellers bis in seine Tiefen und Untiefen ausgeleuchtet und dabei alles zu Tage gefördert, was zur lückenlosen Rekonstruktion sowohl der spröden Dichterbiographie als auch der Hintergründe und Kontexte des erzählerischen und dramatischen Œuvres tauglich und notwendig ist. Sensationell sind Corinos Entdeckungen allein deshalb nicht zu nennen, weil er selbst in den letzten dreißig Jahren bereits einen guten Teil davon in etlichen kleineren Aufsätzen beziehungsweise in seinem Bildband veröffentlichte. 2 Was er dort praktizierte, nämlich die optische und plastische Inszenierung der historischen, biographischen und werkgeschichtlichen Realien, trieb er nun ohne Fotografien auf das Niveau eines stilistisch vollendeten Wissenschaftsjournalismus. Bei der Kommentierung der biographischen Daten und Fakten zieht Corino die vielen Register seiner multidisziplinären Bildung; die Darstellung begeht weder den Fehler, in romanhafte Erzählung auszuarten, noch erstarrt sie in trockener unkommentierter Wiedergabe der Information; vielmehr zwingt sie die Leserschaft durch unermüdliche Bereitschaft zu erklären, zu vergleichen, zu erinnern und auch zu widersprechen in ihren Bann.

[4] 

Die Darstellung ist nach lebenschronologischen und thematischen Gesichtspunkten in 45 Kapitel gegliedert, die insgesamt 1.400 Seiten ausmachen. Daran schließt sich ein Anhang mit knapp 400 Seiten Anmerkungen, welche nicht bloß dem Quellennachweis dienen, sondern etliche Exkurse zu Randereignissen und Nebenpersonal der Musil-Biographie bieten. Weiters enthält der Anhang noch 70 Seiten mit einer Zeittafel und einem Itinerar und 40 Seiten mit einem Literaturverzeichnis, das keine Bibliographie der Musil-Forschungsliteratur zu sein beansprucht, sowie ein ausführliches Register. An der Wissenschaftlichkeit von Corinos Arbeit ist nicht zu zweifeln, zu jeder im Darstellungsteil angeführten Einzelheit findet sich im Anhang der Beleg. Auffallend häufig hat sich Corino mit Dokumenten geholfen, die dem Literaturhistoriker als entlegen gelten: mit Adressbüchern, städtischen Meldeverzeichnissen, Nachlässen von Privatpersonen, die erst aufzufinden waren, und sogar mit meteorologischen Auskünften. Corinos Rekonstruktionsarbeit bleibt so für die Leserschaft nachvollziehbar, der Unterhaltungswert der Lektüre besteht zu einem Teil just darin: dass Corino seine Entdeckungsfahrten transparent macht. Die Aufdeckung der realen Begebnisse hinter den literarischen Fiktionen gerät zum Detektivspiel, das man bei der Lektüre amüsiert nachverfolgt, ob es sich um Basini im Törleß, die stille Veronika in den Vereinigungen, Alpha im Vinzenz oder den Frauenmörder Moosbrugger aus dem Mann ohne Eigenschaften handelt, um nur wenige Beispiele zu nennen.

[5] 

Ein Plädoyer
für Robert Musil

[6] 

Karl Corinos Buch trägt bestimmt zur Verstärkung der fruchtbaren Rezeption des Werks Robert Musils bei. Von Marcel Reich-Ranicki literarisch schon totgesagt, 3 feiert der große Roman Der Mann ohne Eigenschaften ja zurzeit eine bemerkenswerte Auferstehung. Man denke an die beiden neuen Produktionen zweier deutscher öffentlich-rechtlicher Radioanstalten – Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, gelesen von Wolfram Berger 4 und Der Mann ohne Eigenschaften, Remix. 5 Das spezielle Verdienst der Biographie Corinos für das neu angefachte Interesse an Musils Opus Magnum liegt darin, die vielfältigen geschichtlichen und kulturhistorischen Verflechtungen offen gelegt zu haben, zwischen denen es ruht. Darüber hinaus wird bei der Lektüre aber auch deutlich, wie hoch die Bedeutung der Rolle Robert Musils als kulturpolitischer Akteur und Funktionär sowie als kultursoziologischer Beispielfall zu bewerten ist. An so manchen Entwicklungen hatte Musil aktiv Anteil, am Expressionismus als Fischer-Redakteur 1914 beispielsweise ebenso wie an aktionistischen Bestrebungen in Österreich zur Zeit nach dem Kriegsende 1918. Indem Corino die Verflochtenheit von Biographie und Geschichte so perfekt ausgestaltet, gelingt ihm mit den Mitteln der biographischen Darstellung ein großartiges kultursoziologisches Panoptikum der Epoche, übertroffen vielleicht nur von Friedbert Aspetsbergers in der Differenziertheit der literatursoziologischen und -psychologischen Deutung alles überragenden Arnolt-Bronnen-Biographie. 6

[7] 

Auch Musils scheinbar resignative Abwendung von der Politik in den Dreißiger Jahren, die Klaus Amann jüngst in einem weiter führenden Aufsatz exakt motiviert hat, 7 vollzieht Corinos Darstellung nach, ebenso wie den vermeintlichen »Zusammenbruch eines Erzählers« 8 in den späten Wiener (1933–1938) und Schweizer Jahren (1938–1942), mit einer schaurig-tragisch anmutenden weltfernen Konzentration auf das Werk, an dessen nie erreichtem Ende denn auch ein Kollaps stehen sollte, nämlich der Zusammenfall des »Zusammenbruchs der Kultur anno 1914« mit dem »der letzten Liebesgeschichte«. 9 Selbst das von Corino so ausführlich rekonstruierte Private (frühe erotische Erfahrungen, Syphilis, die Geschichte der Ehe mit Martha Musil) wird zum Bestandteil eines kulturgeschichtlichen Zusammenhangs. Es stellt sich beim Leser nie das Gefühl ein, dass hier intime Dinge in peinlicher Weise ausgeschlachtet werden; vielmehr offenbart der Blick ins Intime durch die reflektierte Darstellung Einsichten in das Geschichtliche von Liebesverhältnissen. Robert Musil ist dem Biographen ein historischer Diskurskonnektor, so wie Ulrich im Mann ohne Eigenschaften die Rolle des Diskurskonnektors innehat. Die nimmermüde Ausforschung aller nur denkbaren Bezüge und ihre Verhandlung in Exkursen – häufig im Anmerkungsteil – mag für die Leser der Biographie den Effekt haben, dass sie den Gegenstand, die Persönlichkeit Robert Musils, in den fast fünfzehnhundert Seiten manchmal beinah aus den Augen verlieren. Musil mutiert in dem Buch über ihn zu einem ›Mann ohne Eigenschaften‹ wie Ulrich im Roman, und mit Ulrich hat Musil, auch das macht Corino deutlich, auch sonst noch viel zu tun.

[8] 

Ein Plädoyer
für die Wahrheit

[9] 

Die gesammelten Ergebnisse der Corino’schen Erforschung von Musils Leben werden in der Musil-Philologie künftighin einen gewichtigen Platz einnehmen. Das Skelett an Daten und Fakten geht unmittelbar in die Kommentierte digitale Gesamtausgabe sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften Robert Musils ein, dessen Mitherausgeber Karl Corino ist. 10 Welche Bedeutung biographische Einzelheiten für die Interpretation von Musils Texten haben, wird von Corinos Darstellung in aller Regel unberührt gelassen. Zwar scheint Corinos biographische Methode zuweilen auch autobiographische Deutungen von Musils poetischen Texten nahe zu legen, vor allem wenn es um so grundsätzliche Fragen geht wie um die, weshalb der Mann ohne Eigenschaften nicht zu Ende geführt werden konnte. Zu dieser Frage bietet Corinos Buch natürlich eine ganze Menge von biographischen Anhaltspunkten – gesundheitliche, finanzielle, literatursoziologische und psychologische Hemmnisse – an, ohne aber auf einer monokausalen Erklärung zu bestehen.

[10] 

In seinen Anfängen war Karl Corino der Musil’schen Schreibhemmung noch mit Sigmund Freud zu Leibe gerückt. 11 Nun kehrt er Autoritäten den Rücken, schreibt ohne Theorie im Rucksack und lässt diejenige zu Wort kommen, der Musil selbst am meisten Glauben schenkte, nämlich Alfred Adlers Individualpsychologie in der Vermittlung von Musils persönlichem Therapeuten Hugo Lukács. Das Kapitel 29 –»eine ›gedrosselte‹ Persönlichkeit?« –, in dem Corino Musils Neurose behandelt, stellt einen der faszinierendsten Abschnitte des gesamten Buchs dar, weil es dem heiklen Kernthema der (oder jeder?) Schriftstellerbiographie, den Autor beim Schreiben vorzuführen, in einer schon unglaublichen Nähe am Material und in strenger Enthaltung eines Urteils gerecht zu werden vermag.

[11] 

Corino beschreibt Transformationsprozesse von Realität zu Literatur, ohne die Ergebnisse – die fiktionalen Texte – zu interpretieren. Dieses Verfahren, das auf einem festen, von konstruktivistischen Zweifeln nicht angekränkelten Geschichtskonzept ruht, schließt auch mit ein, dass umgekehrt literarische Texte dazu heran gezogen werden, um anders nicht belegbare biographische Tatsachen zu rekonstruieren. Corinos Vertrauen in den Wahrheitsgehalt von Musils Fiktionen gründet sich auf zahlreiche Einzelbeobachtungen, die belegen, wie exakt Musil Realität in einen fiktionalen Rahmen überführte. Das klassische Beispiel dafür ist die Behandlung des Falls Christian Voigt, der im Herbst 1911 die Öffentlichkeit bewegte, im Mann ohne Eigensschaften als Fall Moosbrugger, doch ließe sich eine Unmenge von anderen Beispielen anführen. Die Korrektheit der Wiedergaben in vielen Fällen verleitet Corino dazu, auch in anderen Fällen, in denen die nicht-literarischen Dokumente fehlen, den literarischen oder den literarisierten Text in die biographische Konstruktion einzusetzen.

[12] 

Das Paradebeispiel dafür liefert die Liaison mit Herma Dietz, dem Vorbild für die Figur Tonka in der gleichnamigen Novelle. Zum Brünner Arbeiter- oder Kleinbürgermädchen, das 1901–07 die Geliebte Robert Musils war und ihn 1902 nach Stuttgart und 1903 nach Berlin begleitete, vermochte Corino trotz allen Bemühens keine amtlichen Dokumente aufzutreiben; die Existenz von Musils Begleiterin ist allein aus Tagebuchnotizen Musils und der Novelle Tonka (veröffentlicht 1923) sowie den Nachlass-Vorstufen dazu verbürgt. Wahrscheinlich starb Herma Dietz im Herbst 1907 in Berlin an den Spätfolgen eines Abortus, der möglicherweise von einer Ansteckung durch den Lues-infizierten Musil herrührte. Das alles sind allerdings Hypothesen, deren Indizien Corino aus Musils vorliterarischen Aufzeichnungen und aus der Novelle zusammen sammelte. Der Prozess des Schuldigwerdens an dem Mädchen Herma / Hanka / Tonka, das ausgebeutet, betrogen, angesteckt und verlassen wurde, findet sich in Musils nachgelassenen Heften und Blättern in einer literarisierten Form wieder – bis zur Szene am Totenbett: »Ein hartnäckiger Schmerz saß tief, […] – und er trieb Robert durch das Zimmer und ließ ihn mit den Zähnen in die Kleider beißen, die Herma noch an der Wand hatte hängen lassen«. 12 Die Situation markiert in Corinos Augen den moralischen Tiefpunkt im Leben Robert Musils; der Kommentar des Biographen lautet: »Die später, in der Novelle, unterdrückte Schilderung der Abschiedsszene gehört zu den eindrucksvollsten aus Musils Feder überhaupt« (S. 284).

[13] 

Ob die Schilderung, in der Musil nicht als ›Ich‹, sondern als ›Robert‹ erscheint, allerdings der ›Wahrheit‹ entspricht, das heißt ob sie alles so wiedergibt, wie es geschehen ist, müsste doch fraglich bleiben. Es lässt sich der Eindruck nicht verkennen, dass in der Gestaltung der Totenbettszene bereits das Zwischenstadium eines ästhetischen Verarbeitungsprozesses abgebildet ist. In einer von Corino nicht weiter beachteten Studie zu Tonka hat die schweizerische Germanistin Villö Huszai, indem sie sich völlig auf die Dimension des Literarischen beschränkte, die Existenz einer Erzählschicht in der Novelle heraus gearbeitet, die sie als ›fiktive Realität‹ bezeichnet. 13 Im Welt- und Musil-Bild Karl Corinos scheinen ›historisch-biographische‹ und ›fiktive‹ Realität zusammen zu fallen. Oder anders gesagt, der Biograph unternimmt den Vorstoß zur Wahrheit ›mit‹ dem Text, nicht ›gegen‹ den Text, das heißt ohne ihn auszubuchstabieren.

[14] 

Ohne eine richterliche Entscheidung treffen zu wollen, sei damit auf die Kluft zwischen der biographischen Methode Corinos und dem Realitätsbegriff der aktuellen Literaturtheorien hingewiesen, die sich bei der Lektüre der großen Biographie von Zeit zu Zeit auftut.



Anmerkungen

Corino promovierte 1969 in Tübingen zu Musil; veröffentlicht wurde die Dissertation als: Karl Corino: Robert Musils »Vereinigungen«. Studien zu einer historisch-kritischen Ausgabe (Musil-Studien 5) München: Fink 1974.   zurück
Karl Corino: Robert Musil. Leben und Werk in Texten und Bildern. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1988, 500 Seiten, ca. 750 Abbildungen.   zurück
Marcel Reich-Ranicki: Der Zusammenbruch eines großen Erzählers. In: M. R.-R.: Sieben Wegbereiter. Stuttgart, München: Deutsche Verlags-Anstalt 2002, S. 155–202.   zurück
35 Stunden 40 Minuten auf 2 MP3-CDs, erschienen im April 2004 bei Zweitausendeins.   zurück
Produziert vom Bayerischen Rundfunk in 20 Teilen (Gesamtlänge: 20 Stunden) in Zusammenarbeit mit: Robert-Musil-Institut Klagenfurt / Hörverlag / belleville Verlag, November 2004.   zurück
Friedbert Aspetsberger: ›arnolt bronnen‹. Biographie. Wien: Böhlau 1995.   zurück
Klaus Amann: »Nieder mit dem Kulturoptimismus«. Robert Musil und der ›Kongreß zur Verteidigung der Kultur‹ (1935) in Paris. In: Studi Germanici 43 (derzeit im Druck).   zurück
Marcel Reich-Ranicki (Anm. 3), S. 155.   zurück
Wie Musil dies im Konzept des letzten von ihm verfassten Briefs an Henry Hall Church darlegt. Robert Musil: Briefe 1901–1942. 2 Bände. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1981, Bd. 1, S. 1418.   zurück
10 
Die Kommentierte digitale Gesamtausgabe wird am Robert-Musil-Institut für Literaturforschung an der Universität Klagenfurt vorbereitet. Mit dem Erscheinen in Form einer DVD ist 2007 bzw. 2008 zu rechnen.   zurück
11 
Karl Corino: Ödipus oder Orest? Robert Musil und die Psychoanalyse. In: Uwe Baur / Dietmar Goltschnig (Hg.): Vom Törleß zum Mann ohne Eigenschaften (Musil-Studien 4) München: Fink 1973, S. 123–236.   zurück
12 
Corino zitiert Robert Musil: Tagebücher. 2 Bände. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1976, Bd. 2, S. 879 f.. Im Nachlass findet sich die entsprechende Stelle auf einem Blatt mit der Musil’schen Sigle AN 125 und dem Incipit »Schlußszene« (Nachlassmappe IV / 2, S. 478).   zurück
13 
Villö Huszai: Ekel am Erzählen. Metafiktionalität im Werk Robert Musils, gewonnen am Kriminalfall Tonka (Musil-Studien 31) München: Fink 2002.   zurück