Walter Fanta

Musil aus galaktischer Entfernung




  • Herbert Kraft: Musil. Wien: Paul Zsolnay 2003. 360 S. Gebunden. EUR 23,50.
    ISBN: 3-552-05280-1.


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Titel, Ausstattung und Verlagsankündigung verraten nicht, was dieses Buch ist. Eine neue literaturwissenschaftliche Einführung in das Œuvre des Schriftstellers Robert Musil (1880–1942) neben den mehr oder weniger bewährten, die schon am Markt sind? 1 Eine weitere Musil-Biographie neben dem monumentalen Grundlagenwerk aus der Feder Karl Corinos? 2 Oder der erste Musil-Roman? Das Buch ist weder das eine, noch das andere. Am ehesten noch das dritte, aber auch das nicht, zumindest im strengen Sinn nicht. Aber Herbert Kraft schrieb sein Buch gewiss vor allem für sich selber, um seinen langjährigen persönlichen Dialog mit den Texten Robert Musils zu dokumentieren, mit der vagen Hoffnung, dass es den einen oder anderen Musil-Kenner geben mag, der sich an Krafts Querlesen der Musilschen Texte wenigstens auch ein wenig delektiert. Ein Literatur-Professor am Übertritt in den Ruhestand darf das, oder? 3

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Krafts Methode

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Das Buch hat einen doppelten Rahmen: Den Einstieg bildet eine dreiseitige Reflexion auf einen Vorabdruck (1921) des Kapitels »Leona« aus dem Mann ohne Eigenschaften (1930) unter dem Titel »Anders und Leona«. Daran schließt der Abschnitt »Porträt« an; er setzt mit Musils Ehe, mit seiner Frau Martha ein, um dann auf ca. 50 Seiten ein Porträt des Schriftstellers aus Zitaten und Kommentaren zu entwerfen. Am Ende (»Vom Allein-Sterben. Versehen mit den Tröstungen des Lebens und der Literatur«) stehen der Bericht von Musils Tod (»15. April 1942«) und Begräbnis (»17. April 1942«) und schließlich wieder die Zuwendung zur um sieben Jahre älteren Martha Musil, die ihren Mann noch um sieben Jahre überlebte. Im Binnenteil des Buchs behandelt Kraft unter dem Titel »Vom Anders Schreiben. In geschichtlichen Parabeln, Reportagen aus der Gesellschaft, Reflexionen einer Individualphilosophie« das literarische Werk Robert Musils. Angeordnet sind die abschnittsweisen Werkkommentierungen nach der Chronologie ihrer Entstehung; besonders berücksichtigt ist auch hier das Biographische. Die Rahmen- und Binnenstruktur, die Titel und Untertitel zeigen schon an, dass Kraft mit seinem Buch einem literarisch-essayistischen Anspruch Genüge tun will, nicht dem, zu informieren oder wissenschaftlich zu erklären.

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Das Arrangement dient einem ausgeprägten Deutungswillen. Kraft sagt in seinem Buch, was Musils Texte denn bedeuten, vor allem eines nämlich: sie sind ein Abdruck der großen Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Um seine Deutung zu formulieren, verwendet Kraft ein eingängiges Verfahren: Er zitiert Texte von Martha und Robert Musil aus Briefen und Manuskripten, und die überlieferte Kolportage über Musil, und natürlich vor allem aus Musils literarischem Werk, stets kursiv gesetzt, und kombiniert dieses Amalgam mit seinen eigenen Assoziationen, Reflexionen, seinem persönlichen Musil-Verständnis. Die Kraftschen Kommentare sind dialektisch, indem sie Widersprüche aufdecken und Bezüge zur historischen Realität herstellen wollen. Sie sind literarisch, indem sie dies in einer oft lakonischen, aphoristisch zugespitzen Weise tun. Sie sind nicht wissenschaftlich, weil sie oft die Kontexte verstellen und verschweigen – wie auch die Quellen für die Musil-Zitate nicht im Einzelnen belegt werden – und die Diskussionen, die es um die jeweiligen Texte, die ja Kraft meist nicht als erster kommentiert, bereits gab, nicht referieren.

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Musils Werke sind bekanntlich während der letzten dreißig Jahre einer sehr gründlichen literaturwissenschaftlichen, philosophischen und literaturtheoretischen Rezeption unterzogen worden. Darüber geht Kraft hinweg, er offeriert eine in mehrfacher Hinsicht vereinfachte Musil-Lektüre. Das ist unzulässig und erfrischend. Unzulässig erscheint es, weil Kraft seine Sicht auf Musil und auf seine Texte nicht argumentiert, sondern behauptet. Das Buch enthält zwar 271 Anmerkungen; in ihnen wird aber nur äußerst sporadisch auf die Musil-Sekundärliteratur Bezug genommen. Großteils liefern die Endnoten die nötigen Quellenbelege zu den Bildungs- und Geschichts-Kontexten, die Kraft von Musils Texten aus herstellt. Außerdem bietet Krafts Buch ein zwanzigseitiges Literaturverzeichnis, das aber natürlich in Bezug auf Musil nicht vollständig ist, ebenso wenig wie es sich auf jene Sekundärliteratur beschränken würde, mit der Kraft gearbeitet hätte (Kraft hat mit der Musil-Sekundär-Literatur nicht ›gearbeitet‹ im biederen germanistischen Sinn). Erfrischend wirkt Krafts Vorgangsweise, weil sie aus der Babylonischen Begriffsverwirrung der Musil-Interpretation zu einer sehr kompakten Deutung der Prosa des österreichischen Schriftstellers gelangt.

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Krafts Obsession

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In der Porträtierung von Herbert Kraft ist Musil eine Persönlichkeit mit vielen Widersprüchen und Defiziten. Wer sich aus dem Überlieferten aus Briefen, privaten Aufzeichnungen und unfertigen Manuskripten sowie nachträglicher Kolportage bedient, ohne die zitierten Äußerungen immer in ihrem genauen Kontext abzuwägen, dessen Nachfabrikation läuft leicht Gefahr, ins Denunzierende abzugleiten. Die Zitatmischung erzeugt ein »Vexierbild« Musils, meint der Biograph Karl Corino. 4 Die Person Robert Musil nach Kraft war empfindlich im Nehmen und hart im Geben, oft ungerecht und dünkelhaft in seinem Urteil. Entscheidend für Krafts Gesamtlinie werden jenseits des Persönlichen die Defizite, die er dem Schriftsteller nachweist: mangelhafte Ausbildung und Bildung, auch ein Mangel an schriftstellerischer Grundausstattung durch die Verhaftung in einem österreichischen Provinzialismus.

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So wenig wie die Austriazismen in seiner Prosa (vgl. S. 299) vermochte Musil seine bürgerliche Gesinnung abzustreifen, aus ihr resultiert ein eklatanter Mangel an gesellschaftlichem Bewusstsein, eine Neigung zu Realitätsverlust (S. 202 ff.). Das betrifft die Person. Musils publizistische und literarische Texte dagegen zitiert Kraft als gelungene Abbilder der Wirklichkeit und Wahrheit des 20. Jahrhunderts. Diese besteht in Krafts Augen in der umfassenden Dehumanisierung aller Lebensbereiche und in dem Durchbruch brutaler, nackter Gewaltverhältnisse. Alle Texte Musils deutet Kraft in obsessiver Weise als Ausdruck des kulturellen Verwahrlosungsprozesses, der zu den Weltkriegen und zum Nazitum führte. Musil vollziehe allerdings in seiner literarischen Produktion Krieg und Faschismus nicht nach, nein, er sah sie voraus. Zwischen der hilflos scheiternden Schriftsteller-Person Musil und der grandiosen Prophetie seiner Dichtung gibt es bei Kraft ein Missing link: Musils wahrsagende Prosakunst taucht aus dem Nichts auf. Oder wird sie das nicht erst durch Krafts Deutungskunst?

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Die Zauberformel: Beispiele

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1. Musil selbst sah seine beiden Novellen unter dem Titel »Vereinigungen« als frühe Emanationen des Expressionismus; 5 die spätere Rezeption erkannte an ihnen vor allem das Solipsistische, das Psychogrammatische und das Künstliche. Kraft gesteht ihnen zu, von »Identität« zu handeln. Wenn Claudine in der »Vollendung der Liebe« sich schließlich einem Ministerialrat hingibt, zeigt sich Kraft darin eine »psychische Disposition«, »eine Begierde nach Erlebnissen«, die er einschlägig als Vorausdeutung liest: »so verlangten die Vielen bald nach dem starken Mann«. »Später erkannten sie den Führer gar als einen der Ihren, wie Claudine denkt, daß der Fremde gewiß nur ein alltäglicher Mensch sei, […]« 6 (S. 95). – Der Ministerialrat gerät so überraschend zur Präinkarnation Hitlers.

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2. In der berüchtigten kurzen Erzählung Robert Musils Der Vorstadtgasthof ereignet sich ein sexueller Gewaltdurchbruch, ein jüngerer ›Er‹ durchbeißt einer ›Sie‹ im mittleren Alter beim Küssen die Zunge. Kraft ist der erste, der diesen Exzess historisch deutet. Die beiden letzten Sätze in der Erzählung lauten: »Der Sturm einer großen Tat wirbelte ihn empor. In seinen Kreiseln riß er die weiße, blutende, in einer Zimmerecke um sich schlagende, um einen hohen, heiser kreischenden Ton, um den taumelnden Rumpf eines Lauts sich drehende Masse der unglücklichen Frau hinweg.« Kraft assoziiert: »Indes kann es sein, daß der Bürger überrollt wird, von dem, was auf ihn zukommt. Wenn er auch die Angst bekämpft, indem er selber Gewalt ausübt, in das Räderwerk der Geschichte wird er nicht eingreifen, das stellt er sich bloß vor.« (S. 146) Jeden ›Sturm der Tat‹ gleich mit Krieg und Faschismus zu assoziieren scheint doch billig. Bei Kraft ist die männliche Figur in der Erzählung eine Allegorie des Täters ist gleich Bürgers und die Frau die des herabgewürdigten, schicksalsergebenen Opfers. Anders kann er Vorstadtgasthof gar nicht deuten. (Was er nicht weiß: in Musils Nachlass-Vorstufen ist die Frau auch noch Jüdin! 7 )

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3. Selbstverständlich verknüpft Kraft das letzte Kapitel zum Mann ohne Eigenschaften, an dem Musil Anfang des Jahres 1942 noch arbeitete, mit der Situation, welche die Schweiz und die Stadt Genf, wohin sich Musil geflüchtet hatte, damals umgab. In den Traum Agathes vom ›Tausendjährigen Reich‹, in »die Erzählung vom Anderen« sei, meint Kraft, »die reale Geschichte eingebrochen«, wo »diejenigen die Macht ausüben, die das Tier und sein Bild angebetet, den Stempel auf ihre Stirn und in ihre Hand genommen haben. Oder seit einiger Zeit unter ihren Arm (wo die SS-Angehörigen die Blutgruppenbezeichnung hatten) oder wenigstens auf den Ärmel (die Armbinde mit dem Hakenkreuz wurde zur Partei- und SA-Uniform oder zum ›großen SA-Gesellschaftsanzug‹ getragen).« (S. 283) Das Kapitel »Atemzüge eines Sommertags« bildet in mehrfacher Weise die Resultante des Musilschen Schreibens am Roman, es sind zentrale Motive und Erzählkomplexe des Mann ohne Eigenschaften in ihm angesprochen; dieses Innenleben des Romans ignoriert Kraft völlig, er verbindet den Diskurs um ›Anderssein‹ und Eigenschaften / Eigenschaftslosigkeit willkürlich mit dem Außenleben außerhalb der Schweizer Grenzen zur Abfassungszeit.

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4. Kraft fasziniert an Musils Texten das Implizite, das er ihnen vermeintlich zu entlocken vermag. Mit Musils expliziten öffentlichen Äußerungen zur Politik und zum Verhältnis zwischen Politik und Kultur weiß er relativ wenig anzufangen. Es gelingt ihm zum Beispiel nicht, die Position nachzuvollziehen, die Musil in seiner Rede am Internationalen Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur in Paris 1935 vertrat; in seiner Wahrnehmung schwankt Musils Haltung zwischen Opportunismus und Politikferne (vgl. S. 202 ff.). Er stellt die Behauptung auf, dass Musils »Bücher das Gegenteil von dem enthielten, was er in Paris vorgetragen hatte. Mit seinen literarischen Texten schuf er die genauen Abbildungen, erkannte aber manchmal in ihnen die Wirklichkeit nicht mehr, die sie abbildeten.« (S. 206) So lautet Krafts Zauberformel.

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Ausblick

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Für welchen Leser sind Krafts Musil-Deutungen nun geschrieben? Es wird sich wohl nicht vermeiden lassen, dass sie zuhauf in germanistischen Seminararbeiten auftauchen, dafür sind sie prägnant und plastisch genug; obwohl Seminarleiter/innen mit den herandräuenden studentischen Verkürzungen der Kurzschlüsse Herbert Krafts ihre liebe Not haben werden. Auf die Neugierde neuer Leser auf das Werk Robert Musils dürfte Krafts Zugang, der häufig andere Deutungsmöglichkeiten abschneidet, eher dämpfend wirken. Vielleicht ist das Buch einer künftigen Leserschaft bestimmt? Musils Texte als historische Abbilder der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so wie man die altägyptische Poesie für das alte Ägypten nimmt? Aus größerer zeitlicher Entfernung wird in der Erinnerung der Menschheit von dieser Zeit vielleicht tatsächlich nichts übrig bleiben als Totalitarismus, Massenmord und Ideologie.


Dr. Walter Fanta
Robert Musil-Institut für Literaturforschung an der Univesität Klagenfurt
Musil-Haus
Bahnhofstraße 50
AT - 9020 Klagenfurt

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Ins Netz gestellt am 05.11.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.

Empfohlene Zitierweise:

Walter Fanta: Musil aus galaktischer Entfernung. (Rezension über: Herbert Kraft: Musil. Wien: Paul Zsolnay 2003.)
In: IASLonline [05.11.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=725>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Vgl. Wilfried Berghahn: Robert Musil (rororo-Monographien 50081) Reinbek: Rowohlt, 21. Aufl. 2004; Gerhart Baumann: Robert Musil. Ein Entwurf (Rombach Litterae 50) Freiburg: Rombach 1997; Matthias Luserke: Robert Musil (Sammlung Metzler; Realien zur Literatur 289) Stuttgart: Metzler 1995; Eckhard Heftrich: Musil. München: Artemis 1986.   zurück
Vgl. Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek: Rowohlt 2003.   zurück
Herbert Kraft ist emeritierter Ordinarius für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Münster.   zurück
In einem Vortragsmanuskript, das Karl Corino dem Verfasser der Besprechung freundlicherweise überlassen hat.   zurück
Es »leitete dieses Buch, vielleicht durch Irrtum, den literarischen Expressionismus in Deutschland ein« (Robert Musil: Der literarische Nachlaß. CD-ROM-Edition. Hg. v. Friedbert Aspetsberger, Karl Eibl, Adolf Frisé. Reinbek: Rowohlt 1992. Mappe III/3, S. 1).    zurück
Die Kursivsetzung der Musil-Zitate ist von Kraft übernommen, auch in den folgenden Zitaten.   zurück
Nachlass, Mappe IV/2, S. 494 (s. Anm. 5).   zurück