Kerstin Stüssel

Autobahnen und Neubaustrecken der Bahn als Wege der Naturerfahrung




  • Thomas Zeller: Straße, Bahn, Panorama. Verkehrswege und Landschaftsveränderung in Deutschland von 1930 bis 1990. (Deutsches Museum. Beiträge zur Historischen Verkehrsforschung 3) Frankfurt / M.: Campus 2002. 461 S. 10 s/w Abb. Kartoniert. EUR 45,00.
    ISBN: 3-593-36609-6.


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Seitdem Bauern davon träumen, als Landschaftspfleger ihr Auskommen zu finden, seitdem Spätfolgen der Industrialisierung durch Renaturierungsmaßnahmen beseitigt werden sollen, sind Landschaft und historische Landschaftsveränderungen in ein breiteres Bewußtsein gedrungen. Es zeigt sich, daß das Verhältnis von Natur und Kultur ein stets prekäres, historisch variables, von je unterschiedlichen Wertmaßstäben geprägtes kulturelles und durchaus auch politisches Phänomen ist: Es ist ja nicht von vornherein klar, daß und welche Ausprägung einer Kulturlandschaft oder einer vermeintlich unberührten Natur bewahrt oder aber neu- und wiederhergestellt wird. ›Landschaft‹ changiert historisch stets zwischen den hypothetischen Extrema technischer Interventionen und intakter Natur; Natur und Kultur erscheinen nie substantiell rein, sondern immer als Kontaminationseffekte.

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Verkehrstechnische Innovationen
als propagandistisches Instrumentarium
moderner Diktaturen

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Wie verkehrstechnische Innovationen die Wahrnehmungen von Natur, Raum und Landschaft verändern, daß ›Landschaft‹ als Komponente einer spezifisch ›deutschen‹ ›Hoch-‹ und ›Populär‹-Kultur in Erscheinung tritt, daß die raumstrukturierende und raumerschließende Entwicklung des Verkehrs im 20. Jahrhundert eng mit den propagandistischen Anstrengungen modernen Diktaturen verknüpft war, all dies ist durch die grundlegenden Arbeiten von Wolfgang Schivelbusch, Friedmar Apel und Erhard Schütz 1 zur Antizipation einer Kulturwissenschaft geworden, die sich jüngst rühmt, den Raum in seinen kulturgezeugten und kulturerzeugenden Dimension entdeckt zu haben. 2 Die technisch unterstützte oder allererst ermöglichte Bewegung von Dingen und Menschen im Raum ist Basis von Kultur genauso wie eine ihrer zentralen Wirkungen. Im 20. Jahrhundert zieht vor allem die Konkurrenz zwischen Schienen- und Autoverkehr, schließlich auch zum Luftverkehr, die Aufmerksamkeit auf sich. Hier positioniert sich die vorliegende Arbeit zum Autobahnbau und zu den Schnellstrecken der deutschen (Bundes)Bahn.

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Landschaftserfahrung als
kulturgeschichtliches Konzept

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Die Arbeit profitiert produktiv und rezeptiv vom spatial turn der Kulturwissenschaften und vom cultural turn der Geschichtswissenschaften: Was vormals eher in die Schubladen einer Technik- und Verkehrswissenschaft oder der politikwissenschaftlichen Forschung einsortiert worden wäre, wird heute mit kulturwissenschaftlicher Perspektivierung und für eine breitere Leserschaft geschrieben. Thomas Zeller untersucht die Geschichte des deutschen Autobahnbaus in den 1930er Jahren und in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte sowie schließlich der Neubaustrecken der Bundesbahn sowohl unter politikwissenschaftlichen wie auch kulturwissenschaftlichen Vorzeichen. Allerdings läßt sich eine gewisse Unentschiedenheit im methodischen Zugriff nicht übersehen.

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Zeller beansprucht vor allem, die Wandlungen des Konzeptes ›Landschaft‹, die sich zwischen Politikern, Beamten, Ingenieuren, Naturschützern, Landschaftsplanern, Architekten und schließlich ›betroffenen‹ Bürgern abspielen, nachzuvollziehen und zu analysieren, ohne seinerseits einen wertenden Begriff von Landschaft vorauszusetzen. ›Landschaft‹ ist für ihn kein philosophischer, kunsthistorischer oder geographischer Begriff, sondern emergiert als Bestandteil seines Gegenstandsbereiches. Damit verselbständigt sich ein politikwissenschaftlicher Zugriff, der schließlich kaum noch durch kulturhistorische und begriffsgeschichtliche Beobachtungen korrigiert wird.

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Metaebene der Untersuchung –
Konkurrenz und Nebeneinander
von Straße und Schiene

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In allen drei Teilkapiteln, die jeweils mit ausführlichen, sich aber gelegentlich verselbständigenden allgemeinen Darstellungen zur Verkehrspolitik beginnen, legt Zeller mit seiner Quellenauswahl und -analyse das Hauptaugenmerk auf persönliche und / oder institutionelle Friktionen: Hier spielt die Konkurrenz und das Nebeneinander von Straße und Schiene stets eine besondere Rolle. Schon die Arbeitsteilung zwischen dem Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen und der Eisenbahntochter ›Reichsautobahn‹ führte zu Konflikten und wird eingeordnet in die Geschichte der führerunmittelbaren Zentralorgane außerhalb der Reichsorgane. Die Institutionalisierung der Landschaftsarchitektur und der Landschaftsplanung ist ein weiterer Faktor, der im Kräftespiel um den frühen Bau der Autobahnen wichtig wird.

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Der Autobahnbau:
Diskurs zwischen »Landschaftsanwälten«
und Ingenieuren

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Als Paradigma einer antisemitisch konnotierten deutschen Technik, die eine bloß zivilisatorische, ökonomische Funktion überwindet und für die ›Volksgemeinschaft‹ nützlich ist, als das er ideologisch und propagandistisch zum Mythos wird, gerät der Autobahnbau in das Konfliktfeld zwischen ›Landschaftsanwälten‹ und Ingenieuren. Quellenmaterial liefert der umfänglich ausgewertete Nachlaß von Alwin Seifert: Der von der Wandervogel- und Heimatschutzbewegung geprägte Architekt und autodidaktische Gartenarchitekt konnte sich ab Oktober 1933 als Berater Fritz Todts in Stellung bringen. Die unvollständige Institutionalisierung dieses Amtes und der Landschaftsanwälte und die daraus erwachsenden Konflikte mit Technikern und Ingenieuren werden von Zeller detailliert geschildert, wobei unter dem biographischen und organisationspolitischen Zugriff das Konzept der Landschaft in seinem Wandel und seinen Funktionalisierungen gelegentlich allzusehr aus dem Blick gerät. Im System der Landschaftsanwälte stehen der Status der Garten- und Landschaftsarchitekten ebenso zur Debatte wie die Kompetenzen der Tiefbauingenieure und die Nähe zum Machthaber Todt. Interne gruppendynamische Prozesse werden ebenso untersucht wie der Kampf gegen die Marginalisierung von Naturschutz und Raumordnung beim Autobahnbau. Die Landschaftsanwälte geraten in eine Mittlerposition zwischen Naturschützern und Ingenieuren, sie beharren zwischen Konservierung und Zerstörung auf ihrer positiven Gestaltungskompetenz (S. 141).

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Faszination des Autobahnerlebnisses
als »visueller Konsum«

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Im Gegensatz zur Eisenbahn wird der Autobahn idealiter zugeschrieben, eine landschaftsnähere und genußreiche Fahrt zu ermöglichen, andererseits werden die Sicherheitsansprüche der – normalerweise männlichen – Kraftfahrer ins Feld geführt. An den Konfliktfeldern der Linienführung und der Bepflanzung von Mittelstreifen und Rändern werden diese Themen zwischen Ingenieuren und Landschaftsanwälten verhandelt, wobei Todt, der immer wieder auf das Primat des Auftraggebers verweist, die Definitionsmacht über das behalten habe, was »angemessene Straßen« (S. 152) sein sollten, die den »visuellen Konsum« und die Faszination des Autobahnerlebnisses zu steigern vermochten. Die Vorstellungen von idealer, technisch veränderter oder gar hergestellter Natur und vermeintlich naturnaher Technik emergieren als ideologische Konzepte aus diesen ausführlich und gelegentlich ermüdend beschriebenen Zuständigkeitskonflikten.

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Die inzwischen topische Frage nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert wird von Zeller durch die anschließende Betrachtung des bundesrepublikanischen Autobahnbaus im Kontext der westdeutschen Verkehrspolitik gestellt; daß handelnde Personen wie Alwin Seifert in der Bundesrepublik nur mit kurzer Unterbrechung wieder restituiert werden, wird kaum überraschen: Föderalisierung und Verwissenschaftlichung, d.h. Mathematisierung, sind die bestimmenden Dimensionen, ganz allmählich verschiebt sich der Kreis der Betroffenen von den Autofahrern, deren reale oder unterstellte Sicherheitsbedürfnisse technische Interventionen, z.B. das Baumfällen an deutschen Straßen, legitimieren sollte, auch auf die Anwohner und deren finanzielle und psychische Interessen.

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Parallelität von Straße und Schiene
im Fokus der westdeutschen Verkehrspolitik

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Dies wird unübersehbar in den Planungen und in den Auseinandersetzungen um den Neubau von Schnellstrecken für die Deutsche Bundesbahn seit 1973. Die Konkurrenz von Straße und Schiene gerät hier in den Mittelpunkt der westdeutschen Verkehrspolitik: Das Defizit der Bahn durch die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Straße und der Shinkansen-Schock führten zu Diskussionen um Hybridlösungen, die auf den bestehenden Strecken Individual- und Massenverkehr zu integrieren und den Straßen- und Zugverkehr durch Huckepackverfahren zu kombinieren versuchten. Dagegen setzte sich aber letztlich eine Argumentationsfigur durch, die die engen Grenzen des alten, noch aus der Vorkriegszeit stammenden Streckennetzes betonte und dagegen die Vorteile eines autobahnanalogen Schnellbahnnetzes in den Vordergrund rückte.

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Damit wurde zum einen das Landschaftserlebnis der Reisenden selbst verändert, zum anderen wurden die Anlieger in neuer Art und Weise Aktanten im Planungsprozeß, da sich die Neubaustrecken unmittelbar ökonomisch und psychisch auf den Grundstückswert, die Wohnumgebung und das Landschaftserlebnis auszuwirken drohten. Die Bürgerinitiativen gegen die Neubaustrecken der Bahn werden zum einen als ein Beispiel des neueren Protestes gegen technische Großprojekte geschildert, die in der bekannten Mischung aus genereller ökologischer Skepsis und individueller Betroffenheit agieren, zum anderen machen sie den Begriff und den Wert von Landschaft in neuer Weise geltend; die Lärmimmissionen und der Landschaftsverbrauch werden hier ebenso ins Feld geführt, wie die als unerfreulich und defizitär beschriebenen Veränderungen des Landschaftserlebnisses Eisenbahnreise. Weitere Aktanten sind in den detailliert dargestellten Auseinandersetzungen um die Strecken Hannover Würzburg und Mannheim-Stuttgart die Naturschutzverbände neuerer Prägung, die sich mit den Bürgerinitiativen kurzfristig und punktuell verbünden.

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Ambitioniertes Forschungsdesign
und Verhaftung in der traditionellen
»politischen« Perspektive

[18] 

Zellers Untersuchung hebt sich im Forschungsdesign, anders als es die Einleitung nahelegt, dann doch deutlich von den Arbeiten ab, die die Mythen deutscher Landschaft und die Mythen der modernen Verkehrswege und -techniken Eisenbahn und Autobahn diskursgeschichtlich aus literarischen, propagandistischen oder protestgeprägten Quellen heraus beschreiben; in der vorliegenden Untersuchung stehen die politisch-organisatorischen Vorgänge, die handelnden Personen und Gruppen sowie die dort festzustellende je unterschiedliche Funktionalisierung und Konstruktion von Landschaftsidealen im Vordergrund. Deren spezifische langfristige Geschichtlichkeit bleibt letztlich zugunsten einer traditionellen ›politischen‹ Perspektive ausgeklammert, so daß vor allem die Erwartungen solcher LeserInnen erfüllt werden, die nach Personen und Institutionen der machtgeschützen, machtgestützten und machtgemachten Landschaftlichkeit in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts suchen.


PD Dr. Kerstin Stüssel
Technische Universität Dresden
Institut für Germanistik
Mommsenstr. 13
DE - 01062 Dresden

Ins Netz gestellt am 09.11.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserer Fachreferentin Prof. Dr. Christine Haug. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Kerstin Stüssel: Autobahnen und Neubaustrecken der Bahn als Wege der Naturerfahrung. (Rezension über: Thomas Zeller: Straße, Bahn, Panorama. Verkehrswege und Landschaftsveränderung in Deutschland von 1930 bis 1990. Frankfurt / M.: Campus 2002.)
In: IASLonline [09.11.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=727>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. München / Wien: Hanser 1990. – Friedmar Apel: Deutscher Geist und deutsche Landschaft. München: btb bei Goldmann 2002. – Erhard Schütz: Mythos Reichsautobahn. Berlin: Links 1996. Vgl. Andreas Busch: Die Geschichte des Autobahnbaus in Deutschland bis 1945. Bad Langensalza: Rockstuhl 2002, und den apologetischen Fotoband von Arend Vosselman: Reichsautobahn. Kiel: Arndt 2002.   zurück
Vgl. Sigrid Weigel: Zum ›topographical turn‹. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften. In: KulturPoetik 2/2 (2002). Vgl. Rudolf Maresch, Niels Werber (Hg.): Raum, Wissen, Macht. Frankfurt / M.: Suhrkamp 2002.   zurück