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Universalhumanismus

Zu Jörg Roberts glanzvoller Dissertation
über Konrad Celtis

  • Jörg Robert: Konrad Celtis und das Projekt der deutschen Dichtung. Studien zur humanistischen Konstitution von Poetik, Philosophie, Nation und Ich. (Frühe Neuzeit 76) Tübingen: Max Niemeyer 2003. XVIII, 564 S. 6 Abb. Gebunden. EUR 124,00.
    ISBN: 3-484-36576-5.
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Die neuen Celtis-Studien sind
in vollem Zuge – aber wo bleibt die
kritische Werkausgabe?

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Die Forschung über den nicht ganz unbedeutenden Konrad Celtis hat durch eine Reihe von Beiträgen, die in wenigen zurückliegenden Jahren in dichter Folge erschienen sind, einen unerwarteten Aufschwung genommen, den man wohl als glänzend bezeichnen darf. Während der letzten Jahrzehnte ragten einzelne wertvolle Spezialarbeiten sowie groß angelegte und thesenstarke Überblicke hervor, etwa von Raimund Kemper, Franz Josef Worstbrock, Dieter Wuttke oder Peter Luh. 1 Aber die blockierte oder aus verschiedenen Gründen jedenfalls nie zustande gekommene kritische Werkausgabe blieb der Hauptgrund für die anhaltend und notorisch defizitäre Forschungslage und tauchte viele dieser Bemühungen, so imponierend und plausibel sie für sich genommen sein mochten, in das trübe Licht hoffnungsloser Vorläufigkeit. Oder wie sollten alle diese ehrgeizig formulierten Thesen von Kemper oder Wuttke jemals geprüft und wirklich diskutiert werden können ohne eine zuverlässige, nach gleichartigen kritischen Prinzipien erarbeitete, ›gesicherte‹ Textgrundlage? Wie man weiß, besteht diese Verlegenheit weiter. Doch wie in der großen Politik scheint es auch in der Philologie unterhalb des Niveaus eines ewig fehlenden integralen Reformkonzepts Wege zu einzelnen Verbesserungen zu geben, die für kurz- oder mittelfristige Entlastung sorgen können.

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Die hier zuerst zu nennende Publikation, Gernot Michael Müllers 2001 erschienene Monographie über Celtis’ Germania generalis, 2 hat auch die Editionslage spürbar verbessert. Müller hat nämlich die erste kritische Edition des 283 hexametrische Verse umfassenden Gedichts nach dem Erstdruck von 1498 / 1500, im Anhang zu Celtis’ Edition der Germania des Tacitus, vorgelegt, mit einem Variantenapparat, einer dem lateinischen Text gegenüber plazierten Neuübersetzung in Prosa, einem Zeilenkommentar und ausführlichen Darstellungen der Text- und Überlieferungsgeschichte, die insgesamt kaum etwas zu wünschen übrig lassen. Der zweite Teil umfaßt weitläufige Abhandlungen über die Konzepte und Doktrinen, mit denen in dem Text gearbeitet wird.

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Es folgte 2002 die vielbeachtete Ausstellung aus Anlaß des 500jährigen Druckjubiläums von Celtis’ Amores (April 1502) in der Bibliothek Otto Schäfer in Schweinfurt, zu der ein außergewöhnlich gehaltvoller Katalog erschienen ist, mit hervorragendem Bildmaterial und mit Textbeiträgen von Würzburger lateinkundigen Germanisten und klassischen Philologen aus dem Kreis um Ursula und Günter Hess und von diesen selbst. Von Jörg Robert, der die Ausstellung maßgeblich gestaltet hatte, stammt der einleitende Essay über »Die Amores in der Tradition der antiken Liebesdichtung«, Einführendes zur Astrologie in den Amores sowie über einzelne zu den Elegien in Beziehung stehende Werke. Claudia Wiener schreibt über die Quatuor latera Germaniae und Gernot Michael Müller über die unrealisierte Germania illustrata. 3 Der Band ist auch eine kompetente Einführung in die Kontexte und Facetten der aktuellen Celtis-Forschung, mit den Amores auch hier im Zentrum des Interesses.

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Das opus elegiacum
als Hauptwerk eines integralen
Literaturprogramms

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Und nun also die Druckfassung der Würzburger, von Günter Hess betreuten Dissertation Jörg Roberts, die nicht mehr und nicht weniger versucht, als die Perspektiven der Forschung sowohl zusammenzuführen als auch erstmals in weitläufigen Werkanalysen zu fundieren. Der Konvergenzpunkt in Celtis’ Werk ist dabei der neulateinische Elegienzyklus der Amores: Quatuor libri Amorum secundum quatuor latera Germaniae, wie der volle Titel des Zyklus lautet, der von einem noch immer nicht identifizierten Drucker 1502 in Nürnberg im Rahmen eines Sammelbandes mit Opera des Celtis für die Sodalitas Celtica publiziert wurde. Dies ist eben die »unvollendete Werkausgabe«, über die Peter Luh unlängst gehandelt hat. 4

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Die Formulierung des Titels verrät bereits einen Sektor des komplex geknüpften Netzwerks aus Themen und Korrelationen, das aus dem opus elegiacum, dem poetischen Hauptwerk, das ehrgeizige Dokument eines vorreformatorischen ›Universalhumanismus‹ macht. Man kann diesen Anspruch überanstrengt nennen, aber dann nicht als Vorwurf, sondern als Kennzeichnung eines Typs kultureller Aspiration, deren Symptomatik und Motivationsbedingungen historisch zu eruieren und zu interpretieren sind. Jedenfalls ist sie einmalig im europäischen Humanismus um 1500, Ähnliches dürfte auch im Italien des Quattrocento nicht zu finden sein, wohl nicht einmal bei Giovanni Pico.

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Um die Bedeutung der Amores als Zentrum und Höhepunkt des mehrdimensionalen Programmentwurfs nachzuweisen, stellt Robert den Zyklus in die Reihe der anderen Werke des Celtis, auf die er systematisch bezogen und deren Fluchtpunkt er ist. Das Thema der Studie ist mithin die Rekonstruktion des Aufbaus und der schrittweisen Realisierung des Programms, von der ›theoretischen‹ Begründung seit der Ars versificandi mit der Apollo-Ode (1486), der Ingolstädter Inauguralrede mit der Panegyris ad duces Bavariae (1492) über die Germania und Norimberga bis zu Dürers Philosophia-Holzschnitt und »der poetischen Einlösung in den Elegien, die als wegweisendes Werk humanistisch-neulateinischer Dichtung um 1500 den natürlichen Fluchtpunkt der Untersuchung bilden.« (S. 7) Daß es sich bei Celtis’ »Lebensprojekt« (S. 4) um die fortschreitende Konstitution einer nationalhumanistischen Poesie handelt, die explizit und bis in einzelne Gedichte hinein mit Doktrinen einer erneuerten Poetik und einer Reform des Universitäts-Curriculums, mit (Natur)philosophie (physiologia), einer Art vorchristlich-poetischer Prototheologie und national-geographischer Topographie verwoben ist – auch Magie und Astrologie (Pseudo-Apuleius: De mundo) sind zu nennen – das ist die entschiedene Prämisse dieser Arbeit. Sie ist der Grund dafür, daß »integral« und »integrativ« zu ihren Lieblingsadjektiven gehören, und sie ist verantwortlich für ihren Aufbau, der notwendig das Gesamtwerk umfaßt. Lediglich das Oden-Buch (gedruckt 1513) und die Epigramme scheinen dabei ein wenig in den Hintergrund zu treten.

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Elegische Liebespoesie,
Geographie, Memorialprojekt

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Die Lektüre der Amores versteht sich demgemäß als Integration dreier Untersuchungsperspektiven, die sie in der Sache selbst angelegt sieht. Sie beruft sich also bei der Selektion und der Konstruktion ihres Gegenstandes auf die Struktur des Gegenstandes selbst, deren eigentümlicher Systematik es Rechnung zu tragen gelte: 1. der Gattungstradition der römisch-neulateinischen Elegie und der neuplatonischen Liebestheorie, einer »literarische[n] Phänomenologie des Eros« (S. 517), einer elegischen Topik, die über die gelehrt-humanistische imitatio (besonders des Properz) hinaus einen Spielraum für »Karnevalisierung« ermögliche; 2. in der Deutschlandbeschreibung der Topik des Städtelobs und des nationalen Diskurses; 3. im Memorialprojekt der Idealbiographie des Poeten Celtis, seiner »pseudo-biographische[n] Selbstdarstellung« (S. 517). Auch die Forschung sei schon immer, wie in dem konzisen Überblick im Einleitungskapitel 1 deutlich wird, an diesen drei Perspektiven orientiert gewesen: an der »Philosophie-«, der »Erlebnis-« und der »National«-Hypothese (S. 8).

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Die Arbeit ist dann in zwei Hauptteile gegliedert: »Von der Ars versificandi et carminum zu den Amores« (Kapitel 2–4) und »Tractatio amoris: Die Welt der Amores« (Kapitel 5–7). Kapitel 2 behandelt die »Grundlegung des poetischen Diskurses« in der Poetik samt deren Begleittexten, Kapitel 3 das »Verhältnis von Philosophie und Dichtung in Celtis’ Denken« (sapientia et eloquentia) und Kapitel 4 konzentriert sich auf die bedeutende Widmungsvorrede (an Maximilian I.) zu dem Sammelband und den Amores, in der nicht nur das Konzept von Celtis’ spezieller ›Musa iocosa‹ (nach der wegweisenden Studie gleichen Titels von Heinz Schlaffer, 1971), einer erotisch-elegischen Poesie mit Affinitäten zu Epigramm, Ode, Roman, Schwank, Novelle und Satire exponiert und legitimiert, sondern auch die Verbindung zur Maximilian-Panegyrik und zu dem landeskundlichen Germania-Projekt hergestellt wird.

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Die Kapitel 5–7, das text- und diskursanalytische Kernstück der Untersuchung (S. 251–511), erschließen dann die Elegien sowohl ›von innen heraus‹ als auch in Hinsicht auf die systematischen Bezüge, Korrelationen und ›Rückkoppelungen‹ mit den genannten Wissensfeldern von Celtis’ spezifischer ›docta poesis‹: »In die Amores werden die philosophischen, landeskundlichen und historischen Einschlüsse somit stets zu den Bedingungen der Gattung Elegie integriert. [...] Die von Celtis verhandelten Wissensbereiche werden so subjektiviert, d. h. an Person und Augenhöhe des elegischen Ichs und seiner ›peregrinatio‹ gebunden« (S. 516) – so eine treffende Charakterisierung im zusammenfassenden 8. Kapitel, das mir besonders gelungen scheint und das man durchaus zuerst lesen kann, bevor man sich unter seiner Anleitung auf das weite Feld der einzelnen Themenkomplexe begibt.

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Neues zur Apollo-Ode
und zu einem germanistischen
Anachronismus

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Um den Umfang der Besprechung in Grenzen zu halten, hier anstelle einer ausführlichen Diskussion der Prämissen, der Methode und der Ergebnisse dieser Arbeit nur einige kurze Hinweise: Literarhistorisch besonders interessant scheint mir der Themenkomplex, der die Gattungsspezifik der Elegien betrifft, in einem Raum zwischen den antiken Mustern, den neulateinischen Parallelen besonders der Italiener, unter anderem im Bereich des sogenannten Petrarkismus, und den vielfältigen Übergängen und Funktionsüberschneidungen zu benachbarten Genres und Schreibweisen, traditionell vor allem der Komödie. Stichworte für den experimentellen, spielerisch offenen Charakter dieser Art Liebeselegie sind hier ›Jokoseriosität‹ und ›Karnevalisierung‹ der Stereotype und Konventionen.

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Als Schritt über den Status quo der Forschung hinaus ist auch der energische Versuch einer neuen Präzisierung von Celtis’ Auffassung der ›translatio artium‹, besonders der ›aemulatio Italorum‹ in der Apollo-Ode zu werten, die ja zu den am häufigsten untersuchten Texten des Dichters gehört. In einer sorgfältigen Argumentation, für die erstmals auch der poetische Briefwechsel mit dem Italiener Pighinutius herangezogen wird, kommt Robert zu dem Ergebnis, daß es sich in der Ode keinesfalls schon um eine polemische Zurücksetzung und Kritik ›Renaissance-Italiens‹ handle. Diese Einstellung, auch als Reaktion auf das italienische Barbarenverdikt, habe sich erst nach 1491 im Anschluß an den Aufenthalt in Italien ergeben. Auch wenn man die ältere These nicht geradezu für »gegenstandslos« (S. 92) halten will, lohnt es sich unbedingt, die Frage auf diesem verbesserten Niveau erneut zu bedenken.

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Weniger scheint mir dies für die Titelthese der Einleitung zuzutreffen: Celtis um 1502, und nicht erst Opitz 1624, sei der authentische Anfang einer »Konstitution der deutschen Nationalliteratur« (S. 1). Auf diese These, die glücklicherweise im Verlauf der Untersuchung keine nennenswerte Rolle mehr spielt, scheint den Verfasser zuletzt Heinz Schlaffers Kurze Geschichte der deutschen Literatur (2002) gebracht zu haben. So treffend darin die germanistische Konzeption der deutschen Literaturgeschichte attackiert wird, so sehr teilt Schlaffer meines Erachtens noch zu viele ihrer Anachronismen. Daß jemand eine ›deutsche Nationalliteratur‹ konstituiert habe, mag das dominante Sinnprojekt der Germanistik seit dem frühen 19. Jahrhundert gewesen sein. Dies aber wortwörtlich auf Opitz oder gar auf Celtis zurückzuprojizieren, ist einer der germanistischen Ladenhüter, die nun wirklich gegenstandslos sind. Dieser ›Aufhänger‹, der sich leider im Buchtitel niedergeschlagen hat (»das Projekt der deutschen Dichtung«), ist dem Niveau von Roberts Studie eigentlich völlig fremd. Diese ist im Gegenteil so überreich an glänzend formulierten Einsichten und einer Fülle von achtbaren Ergebnissen, daß man sich immer wieder fragt, was der Celtis-Forschung, rebus editorialibus sic stantibus, danach überhaupt noch zu tun bleibt.



Anmerkungen

Vgl. R. Kemper: Die Redaktion der Epigramme des Celtis. Kronberg i. T.: Scriptor 1975, und weitere Einzelbeiträge Kempers; F. J. Worstbrock: Translatio artium. Über die Herkunft und Entwicklung einer kulturhistorischen Theorie. In: Archiv f. Kulturgeschichte 47 (1965), S. 1–22; F. J. W.: Über das geschichtliche Selbstverständnis des deutschen Humanismus. In: W. Müller-Seidel et al. (Hg.): Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. München 1974, S. 499–519; F. J. W.: Die Ars versificandi et carminum des Konrad Celtis: Ein Lehrbuch eines deutschen Humanisten. In: B. Moeller et al. (Hg.): Studien zum städtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Göttingen 1983, S. 462–498; F. J. W.: Konrad Celtis. Zur Konstitution des humanistischen Dichters in Deutschland. In: H. Boockmann (Hg.): Literatur, Musik und Kunst im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Göttingen 1995; Dieter Wuttke: Celtis. In: Killy Literatur-Lexikon. Bd. 2 (1989), S. 395–400; D. W.: Conradus Celtis Protucius. In: S. Füssel (Hg.): Deutsche Dichter der frühen Neuzeit (1450–1600). Berlin 1993, S. 173–199; mehrere bedeutende Beiträge zu Celtis, Dürer, Nürnberg in D. W.: Dazwischen. Kulturwissenschaft auf Warburgs Spuren. 2 Bde. Baden-Baden 1996; Peter Luh: Kaiser Maximilian gewidmet. Die unvollendete Werkausgabe des Conrad Celtis und ihre Holzschnitte. Frankfurt / Main 2001 (vgl. dazu die Rezension von Joachim Gruber in IASLonline: URL: http://www.iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/gruber2.html [10.06.2002]); P. L: Der Allegorische Reichsadler von Conrad Celtis und Hans Burgkmair. Ein Werbeblatt für das Collegium poetarum et mathematicorum in Wien. Frankfurt / Main 2002 (vgl. dazu die Rezension von Joachim Gruber in IASLonline: URL: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/gruber3.html [26.02.2003]).   zurück
G. M. Müller: Die Germania generalis des Conrad Celtis. Studien mit Edition, Übersetzung und Kommentar. Tübingen 2001.   zurück
Amor als Topograph. 500 Jahre Amores des Conrad Celtis. Katalog zur Kabinettausstellung 7. April – 30. Juni 2002. Bibliothek Otto Schäfer. Hg. von C. Wiener, J. Robert, G. und U. Hess. Schweinfurt 2002 (vgl. dazu die Rezension von Joachim Gruber in IASLonline: URL: http://www.iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/gruber.html [07.05.2002]).   zurück
Peter Luh: Kaiser Maximilian gewidmet. Die unvollendete Werkausgabe des Conrad Celtis und ihre Holzschnitte (Anm. 1).   zurück