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Satirisches Sprichwort-Buch und metaphorische Inversion

  • Andreas Bässler: Sprichwortbild und Sprichwortschwank. Zum illustrativen und narrativen Potential von Metaphern in der deutschsprachigen Literatur um 1500. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 27) Berlin / New York: Walter de Gruyter 2003. XI, 403 S. 40 s/w Abb. Gebunden. EUR (D) 98,00.
    ISBN: 3-11-017629-7.
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Die Heidelberger Dissertation ist ein in mehrfacher Hinsicht interessantes Buch. Es führt den Leser an manchen Stellen tief in die Besonderheiten der Sprichwort-, Narren- und Schwankliteratur aus der Zeit um 1500 ein, und es fordert ihn dabei immer wieder zum kritischen Nachdenken über die literaturwissenschaftliche Kategorienbildung heraus. Es geht um Phänomene in den hier nur vorläufig und stichwortartig benannten Literaturbereichen, die zu den besonderen Charakteristika der Kultur des 15./16. Jahrhunderts gehören und sich zusammen genommen immer noch einer schlanken literarhistorisch-literaturtheoretischen Einordnung versagen.

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Thesen der Arbeit

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Die Arbeit wird im Kern von zwei Thesen getragen: Es gibt um 1500 die Gattung des »satirischen Sprichwort-Buchs«, und in dieser Gattung läßt sich das literarische »Verfahren« der »metaphorischen Inversion« dingfest machen. Alle weiteren mit Scharfsinn und literarhistorischem Aufwand betriebenen Ausführungen der Abhandlungen beziehen sich auf diese Kernthesen.

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Dreh- und Angelpunkt der Überlegungen ist die Kategorie des »Sprichworts«. Ihr widmet Bässler sein erstes Hauptkapitel (Kap. III). Zwar sei »die Abgeschlossenheit des Sprichworts als Satz« in der »Forschung weithin anerkannt« (z.B. Redensarten, Redewendungen, Sentenzen, pythagoreische Symbola, Flüche usw.), auch im Rahmen historischen Sprichwortsammlungen werde dies so gesehen (S. 155), doch zeigten die historischen Textsammlungen, daß dieses »modern-kompakte« Verständnis durch das »frühneuzeitlich offene«, das sich in »infiniten Formen« zeige, in Frage gestellt werde; daher sei eine »Historisierung des Sprichwortbegriffs« unvermeidlich (S. 26 f.). Diese Position hat zwar für die praktische Analyse in der Abhandlung einige Vorteile, bringt aber doch eine Reihe methodisch-theoretischer Probleme mit sich. Der Vorteil ist, daß mit einem »offenen« Sprichwortbegriff ziemlich viel (z.B. Bildliches) in die Analyse einbezogen werden kann.

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Der Nachteil besteht darin, daß man ohne klares, aus den Quellen gewonnenes Strukturmodell des Sprichworts, in Beliebigkeit oder Widersprüchlichkeit abdriftet. Auf den Sprachgebrauch der Zeitgenossen kann man sich dabei jedenfalls nicht berufen, denn das würde voraussetzen, daß man um 1500 in der Literatur wohldefinierte Termini verwendet hätte, mit denen moderne Wissenschaft arbeiten kann. Der Verzicht auf eine strukturelle Festlegung, von der aus man dann die historischen Varianzen hätte beobachten und einordnen können, hat Folgen: Die Arbeit kann mit ihrem kategorialen Verzicht nicht die Differenz von »Sprichwort« als Ausdruck historisch-kulturellen Wissens (S. 220 ff.), das in der Renaissance plötzlich so großes Sammler- und Gelehrteninteresse fand, und den literarischen, ganz neu geschaffenen, rhetorisch artifiziell konstruierten »Sentenzen« als Figuren in Texten herausarbeiten (was sich als Differenzfrage etwa auf den S. 91 ff., 113, 118 f., 181, 239 aufdrängt). 1

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Auch die bisweilen vorkommende Berufung auf den zeitgenössischen Begriffsgebrauch wird dann hinfällig, weil die historischen Ausdrücke solchen terminlogischen Rekurs eben nicht gestatten. Insofern sind Verweise auf die zeitgenössische Bedeutung des Wortes »Proverbium« argumentativ problematisch (etwa auf S. 186), denn Proverbium kann sehr viel bedeuten (vgl. z.B. S. 31) und in der Ars dictandi auch einen bestimmten Briefteil bezeichnen, 2 was in eine völlig andere Richtung führt. Man kann sich eben bei der Untersuchung historischer Strukturphänomene nur selten oder sehr begrenzt auch auf begriffsgeschichtliche Argumentationen stützen. Auch gerät Bässler trotz seines historisch »offenen« Begriffskonzepts ständig in Abgrenzungsnöte, etwa zum Konzept »Idiom« (S.19, vgl. auch 125). Hier scheint sich mir ein methodisch-theoretisches Defizit zu zeigen.

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Untersuchungskorpus:
Brant, Murner und der Ulenspiegel

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All dies hat auch Folgen für die Frage, worin das Korpus der angenommenen Gattung frühneuzeitlicher »Sprichwortbilder-Bücher« bestehen soll. Mit ihnen beschäftigt sich der Verfasser in den Kapiteln IV und V. Wenn auch Bücher mit ganz neu formulierten moralischen Sprüchen oder Sentenzen unter »Sprichwortbilder-Buch« fallen, und Bässler »historischer« Sprichwort-Begriff legt dies nahe, dann gehört Johann v. Schwarzenbergs Memorial der Tugent aus der Zeit von 1510 bis 1520 (ein Spruchbuch mit Bildern, das auf die Emblembücher vorausdeutet) ebenfalls dazu. 3

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Bässler allerdings will das Korpus dieser Gattung im engeren Sinn auf eine Hand voll französischer »Sprichwortbilder-Bücher« aus der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert sowie Brants Narrenschiff, Murners Narrenbücher und den Ulenspiegel beschränken. Als »Nachfolger« haben das Emblem-Buch (S. 160 ff.) und das illustrierte Flugblatt (S. 163 ff.) zu gelten. Von Unkenntnis des Petrarca-Werkes De remediis utriusque fortunae zeugt die wiederholt anzutreffende Bemerkung, dies Werk sei in seiner deutschen Fassung (dt. Glücksbuch 1532) eine Brant-»Bearbeitung« (S. 58) und gehöre auch ins angenommene Korpus der »Sprichwortbilder-Bücher« (S. 121, 215).

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Gattungsfrage und
geistesgeschichtliche Hintergründe

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In gelehrten Exkursen wird im Rahmen dieser ›Gattungsgeschichte‹ auch über den »geistesgeschichtlichen Hintergrund« und angrenzende Phänomene, d.h. über »die Kontamination der Sprichwörter mit den pythagoreischen Symbola (S. 166 ff.), »die humanistische satyra menippea« und »die interpretatio menippea Eulenspiegels« bei Fischart (S. 269 ff.) sowie über »das ›Lalebuch‹ als satirischer Roman menippeischer Manier« (S. 293 ff.) gehandelt. Demgegenüber sind kleinere Unsicherheiten zu vernachlässigen: »genus humilis« statt »humile« (S. 45, 54) oder »Freiheitstafeln« (S. 119 ff.) statt Freiheitstafel (sing.) für Brants gleichnamigen Gedichtzyklus.

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Die Fixierung der Arbeit auf das »Sprichwort« führt zu Formulierungen, die insinuieren, man müsse von einer eigenen Gattung »Sprichwortbilder-Buch« in der deutschen Literaturgeschichte ausgehen. Das wäre aber wohl doch zu weit gegriffen; selbst wenn man akzeptiert, daß nach Bässlers Berechnung in Werken wie Brants Narrenschiff mehr als 80% der Kapitel ein »Sprichwort« auch bildlich thematisieren (S. 81, 97), ist nicht zu erwarten, daß solch ein vielschichtiges Werk zukünftig in Literaturgeschichten unter der Rubrik »Sprichwortbilder-Buch« abgehandelt wird. Insofern tut man sich schwer mit folgendem Satz: »Traditionen hat das ›Narrenschiff‹ viele, was die Textsorte angeht, gehört es zum Sprichwortbilder-Buch« (S. 81).

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Dagegen kann man durchaus akzeptieren, im enger gefaßten Rahmen der Sprichwort-Forschung eine historische Werkgruppe dieser Art (als Applikationsfeld) von anderen Werken, etwa den eigentlichen Sprichwort-Sammlungen, abzugrenzen. Immerhin räumt Bässler selbst ein, »daß das Sprichwortbild-Buch eine sehr ephemere Textsorte seiner Zeit ist« (S. 58) und man bei einzelnen Werkteilen oft nur von einem »Sprichwortverdacht« sprechen kann (S. 120). Der Versuchung, zudem auch noch »eine eigene Textsorte« für den Ulenspiegel unter dem Namen »Sprichwörter-Schwankbuch zu kreieren« will der Verfasser allerdings widerstehen (S.236).

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Metaphorische Inversion als Verfahren

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Nun zum Verfahren der »metaphorischen Inversion«, das im einleitenden II. Kapitel systematisch erläutert, später dann an konkreten Beispielen demonstriert wird. Bässler schlägt vor, die in der literaturwissenschaftlichen Forschung auftauchenden Begriffe »konkretisierte«, »naturalisierte« oder »realisierte Metapher« durch den neuen Ausdruck »metaphorische Inversion« zu ersetzen (S. 12). Die genannten Konkurrenzbegriffe sind freilich ihrerseits auch noch keine kanonisierten Termini technici:

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Die Forschung dazu ist äußerst zerstreut. Wer daher bei der realisierten, konkretisierten oder naturalisierten Metapher den systematischen Zugriff sucht, sieht sich schnell ernüchtert. Die einschlägigen Lexika zur Literaturwissenschaft verzeichnen nichts dazu, nicht unter der Rubrik ›Metapher‹, geschweige denn unter einem eigenen Lemma. (S. 12)
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Worum geht es bei dem Phänomen? Man kann hier verkürzt von einer »wörtlich verstandenen Metapher«, zumeinst »in einer Dialogsituation« sprechen (S. 14). Die »realisierte Metapher« gehört im Sinne Viktor Slovskijs »zu den literarischen Verfahren, welche die Automatisierung der Wahrnehmung aufbrechen und konventionelle Metaphern der Alltags- oder Dichtersprache neu aktualisieren und dadurch das Gewohnte und gewöhnlich Gewordene verfremden« (S. 13). Vorausgesetzt wird dabei, daß man einen ziemlich überdehnten oder seinerseits metaphorischen Metaphernbegriff, oder z.B. auch das Konzept der »Satzmetapher« akzeptiert (S. 30, 34).

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Bässler sieht in Brants Narrenschiff und im Ulenspiegel zwei Varianten dieser Art metaphorischer Inversion: die piktorale (Überführung eines metaphorischen Ausdrucks ins Bild) und die narrative (Überführung eines metaphorischen Ausdrucks in eine Erzählhandlung).

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Der ›Ulenspiegel‹, in dem dieselben Sprichwörter sowohl narrativ als auch piktoral (im beigegebenen Holzschnitt) aufgelöst werden, ist hierfür ein schlagendes Beispiel. Auch das Gegenargument, daß bei der piktoralen Variante ein qualitativer Sprung von einem Medium (Wort) [gemeint ist natürlich nicht das Medium, sondern das Zeichensystem!] in ein anderes (Bild) gegeben ist, wiegt angesichts dessen nicht so schwer, daß auch in der narrativen ein Sprung vom semiotischen System der Rede in das der Handlung stattfindet [gemeint sind hier natürlich nicht ›semiotische Systeme‹, sondern die beiden, von dem Narratologen Gérard Genette unterschiedenen Ebenen récit bzw. discour narratif auf der einen Seite und histoire auf der anderen]. Bedenkt man zudem, daß es zur selben Zeit proverbiale tableaux vivants gibt, so sind die Inszenierungen von Sprichwörtern in Eulenspiegels Handeln nichts weiter als in Bewegung gesetzte tableaux vivants. Unter diesem Gesichtspunkt rücken sie den Sprichwortbildern sehr viel näher. Nicht zuletzt birgt der Terminus von der metaphorischen Inversion einen weiteren Vorteil. Im Gegensatz zu den statischen Begriffen der realisierten, naturalisierten oder konkretisierten Metapher drückt er die Bewegung der Umkehrung aus. Die metaphorische Inversion ist eine Kippfigur, die zum einen im Prozeß der Produktion aus einem übertragen verstandenen Sprachbild ein reales Bild bzw. eine Handlung konstruiert, die zum anderen im Prozeß der Rezeption vom Betrachter / Leser eine Rückübersetzung des literal Inszenierten verlangt, um wieder an den Hintersinn des Dargestellten zu gelangen. (S. 17 f.)
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Fazit

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In vielen Einzelfällen wird man Bässlers Beobachtungen akzeptieren und anerkennen. Manche wird man eher skeptisch betrachten, z.B. auch die »Änigmatisierungs«-These beim Narrenschiff (S. 105). Insgesamt scheut man jedoch vor den Generalisierungen des Verfassers zurück, etwa wenn für Brants Narrenschiff die metaphorische Inversion zum entscheidenden Aspekt der bislang in der Forschung umstrittenen »homogenity« (S. 81) bzw. »Kohärenz« (S. 114) erklärt wird. Dennoch: Bässlers Buch regt hier ungemein zum Nachdenken an, auch wenn der Leser vielleicht nicht mit allem ohne weiteres einverstanden sein mag.



Anmerkungen

Die methodische Problematik des Nachweises eines »Sprichwort«-Chrakters im Sinne tradierten Wissensgutes tritt verschiedentlich zutage, etwa wenn der späte Luther-Belege den Beweis für frühere Ulenspiegel-Belege abgeben sollen, etwa S. 241; vgl. auch S. 239 Anm. 35.   zurück
Franz Josef Worstbrock: Die Frühzeit der Ars dictandi in Frankreich. In: Hagen Keller / Klaus Grubmüller / Nikolaus Staubach (Hg.): Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen. München 1992, S. 131–156, hier S. 148.    zurück
J. Knape: Mnemonik, Bildbuch und Emblematik im Zeitalter Sebastian Brants (Brant, Schwarzenberg, Alciati). In: W. Bies / H. Jung (Hg.): Mnemosyne. FS Manfred Lurker. Baden-Baden 1988,S. 133–178; Abb. von Tafeln aus der ›Memorial‹ S. 168–173; zu Schwarzenbergs Werk siehe ebd. S. 146–149.   zurück