Christiane Plank-Baldauf

Operette als moralische Anstalt




  • Ralph-Günther Patocka: Operette als Moraltheater. Jacques Offenbachs Libretti zwischen Sittenschule und Sittenverderbnis. (Theatron - Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste 39) Tübingen: Max Niemeyer 2002. 296 S. Gebunden. EUR 66,00.
    ISBN: 3-484-66039-2.


[1] 

Vieles und Vielfältiges ist bereits über Werke Jacques Offenbachs geschrieben worden, man denke nur an die Ausführungen von Siegfried Kracauer, der die Offenbachschen Operetten als ein sozial-politisches Phänomen erfaßt 1 , oder aber Volker Klotz, der sich dem gattungsgeschichtlichen Hintergrund widmet 2 , nicht zu vergessen Karl Kraus, der sich dem Werk Offenbachs in seiner dichterischen Gestalt zu nähern versucht 3 . Obwohl man sich bereits intensiv mit theaterhistorischen Fragen beschäftigt hatte, blieb die »gesellschaftliche Funktion der Stücke« (S. 3) bislang unberücksichtigt. Hier bezieht Ralph-Günther Patocka eine eindeutige Stellung zu der von Marion Linhardt geforderten interdisziplinären Untersuchung der Operetten 4 : Nicht die musikalisch-analytische Vorgehensweise oder ein Vergleich beziehungsweise eine ästhetische Bewertung zeitgenössischer Werke aus dem Bereich Sprech-, Musik- oder Tanztheater sollen im Mittelpunkt der Untersuchung stehen, sondern »die Erklärung und Beurteilung der Operette aus dem historischen Kontext ihrer Entstehungszeit« (S. 6).

[2] 

Die vom Autor angestrebte ›Rekontextualisierung‹ der Operetten Offenbachs zeigt dabei unmittelbar, daß die bürgerliche Moral beinahe als Leitmotiv der Libretti bezeichnet werden kann, denn »Moralgesetze sind dasjenige Element, das die Libretti miteinander mental verklammert« (S. 3). Hier gewinnt der zeitgenössische Moraldiskurs an Bedeutung, der seit den späten 1840er Jahren auch das Sprechtheater stark beeinflußt – wie etwa die zeitgenössische Dramatik um Alexandre Dumas fils beweist. Ralph-Günther Patocka faßt diese Vielfalt der dramatischen Erscheinungsformen mangels eines verbindenden Terminus unter dem Oberbegriff »Moraltheater« zusammen und ordnet diesem auch die Operette unter, da sie die Fähigkeit besitze, »moralisierende Botschaften auszusenden und andere, als angemaßte, moralische Autoritätsansprüche einzelner Eiferer erkannte Positionen zurückzuweisen« (S. 4), aber auch Unmoral und die Umkehrung des sittlichen Verhaltens offenzulegen.

[3] 

Zur Verdeutlichung seiner These vom »moralischen Bewußtsein« (S. 4) der Operette zieht Patocka neben den Werken selbst – dabei wird eine Bandbreite von den frühen Einaktern bis hin zu den späten Offenbachiaden untersucht – den Briefwechsel des Komponisten mit seinen Librettisten Ludovic Halévy und Henri Meilhac sowie das ›imaginäre‹ Tagebuch Offenbachs als Primärquellen heran; dieses bedarf allerdings der genauen Abstimmung mit zeitgenössischen Dokumenten. Gerade diese Zeitzeugnisse, etwa die Rezensionen und Debatten des Feuilletons wichtiger Tageszeitungen, und deren Auswertung veranschaulichen die Ausführungen dieser Studie eindrücklich.

[4] 

Politische Hintergründe und
Moralvorstellungen

[5] 

Dem allgemeinen Moraldiskurs in Literatur und Theater (Kapitel 2) als einer Vorüberlegung zu den weiteren Ausführungen zu Offenbachs Operetten ist eine ausführliche Reflexion bürgerlicher Wertvorstellungen und -begriffe vorangestellt. Als zeitlicher Hintergrund sind hierbei die Jahre zwischen 1830 und 1880 zu sehen, eine Zeit ohne gefestigte politische Ordnung: Der Herrschaft des Bürgerkönigs Louis-Philippe folgte als Reaktion auf die enttäuschten Hoffnungen, das parlamentarische System zu stärken, die Februar-Revolution von 1848; doch die endgültige Durchsetzung der Ideen von 1789 unterblieb auch dieses Mal, so daß die monarchische Restauration, also die Wiedererrichtung des Kaiserreichs durch Napoléon III. im Jahre 1852, als eine zwangsläufige Entwicklung erschien. Schon 1860 zeigten sich auch hier erste Verfallserscheinungen; die Krankheit des Königs und der Einbruch der Wirtschaft taten dazu ihr übriges, wie auch der deutsch-französische Krieg von 1870, welcher Frankreich die nationale »Schande« (S. 8) und die zwangsläufige Abdankung des Kaisers bescherte. Das vorläufige Ende der politischen Turbulenzen war die Proklamation der Dritten Republik im Jahre 1875.

[6] 

Obwohl die politischen Ereignisse dieser Jahre von Ralph-Günther Patocka nicht als unmittelbar Einfluß nehmend auf die literarischen Strömungen und Richtungen bewertet werden, so sieht er die langsame Entwicklung zur Republik letztlich doch in Wechselbeziehung zur gesellschaftlich-sozialen Umstrukturierung des Bürgertums. Und zwar in der Hinsicht, daß eine bürgerliche Denkweise, also die »Ausbildung eigener Verhaltensregeln und charakteristischer Denkungsarten« (S. 8) als langsame Ablösung vom aristokratischen Selbstbewußtsein und Selbstverständnis, ganz zwangsläufig in Beziehung zu den politischen Entwicklungen gesehen werden muß. Aufgrund des neuen Bildungsideals, basierend auf humanistischen Grundsätzen, werden Ausgeglichenheit und Mäßigung jeglicher Affekte zum bürgerlichen Ideal des ›honnête homme‹. Wie Patocka beschreibt, erscheint »auch die Familie in ihrer moralischen und geistigen Funktion aufgewertet« 5 , sie wurde verstärkt zum »Objekt des sozialen Ehrgeizes« (S. 9 f.).

[7] 

Doch neben dem Bedürfnis nach privater Sicherheit entwickelte sich auch der Wunsch nach sozialer Absicherung zu einem »zentralen Bedürfnis der bürgerlichen Psyche«, wurden doch alte Adelsprivilegien nach 1848 durch finanzielle Potenz ersetzt, welche über Wahlberechtigung sowie die Vergabe von öffentlichen Stellen entschieden. Als Folge ist der Wille nach gesellschaftlichem Ansehen und Aufstieg, verbunden mit einem neuartigen Konkurrenzbewußtsein, anzusehen (S. 12).

[8] 

Die Rolle der Frau

[9] 

Diesen gesellschaftlichen Rahmen gilt es also zu bedenken, wenn im folgenden sehr prägnant die Auswirkungen auf die Rolle der Frau beschrieben werden. War die Rolle der Frau in gesellschaftlichen und rechtlichen Funktionen stark eingeschränkt, so hatte diese Entwicklung die Aufwertung der Konkubine zur Folge. Während die Ehefrau als eine ›femme honnête‹ auf ihre Mutterrolle fixiert war, blieb es der Geliebten vorbehalten, die unbefriedigten Sehnsüchte des Mannes zufriedenzustellen und dem in einer Vernunftehe gefangenen Ehemann einen Ausgleich zu bieten. Der Kurtisane kam, sofern sie sich an die gesellschaftlichen Spielregeln hielt, ein hohes Maß an Macht zu, und auch der finanzielle Ertrag stellte sie in rechtlicher Hinsicht über die ›femme honnête‹ – es entstand dadurch eine sexuelle Konkurrenz.

[10] 

Dieser Dualismus zwischen der moralisch integren, dafür an Attraktion für den Mann einbüßenden Ehefrau und der in ihrer Anrüchigkeit faszinierenden, aber eben nur der Halbwelt zugehörenden Kurtisane spaltet die Gesellschaft in zwei Teile: die angesehene, bürgerliche Welt und die Demi-Monde, in welcher ein Ausleben von Lust und Laster jenseits bürgerlicher Wertenormen möglich war.

[11] 

Moral und Literatur

[12] 

Patocka weist im folgenden die Wechselwirkungen zwischen der Literatur und der seit der Revolution von 1848 verstärkt zu bemerkenden Moralistik nach. Interessanterweise begegnen wir dieser nicht allein innerhalb der staatlichen Zensur, sondern auch in Form von Feuilletons, Literatur- und Theaterkritik, sie wird »zum Refugium moralischer Grundsätze« (S. 34); neben bekannten Namen wie Balzac, Sue, Musset, Hugo oder Scribe, die sich immer wieder mit staatlichen Einflußnahmen konfrontiert sahen, begegnen wir unbekannteren Namen wie etwa Adolphe Garnier, Eugène Poitou oder aber Charles Sainte-Beuve. Am Beispiel von Garniers Morale sociale (1850) zeigt der Autor auf, wie das Theater, entgegen Rousseaus Zweifeln an der »Befähigung des theatralen Spiels« (S. 40), die Aufgabe annehmen sollte, nicht der Gesellschaft hinterherzuhinken, sondern als Korrektiv und Widerpart aktiv zu einer Verbreitung neuerer Ideen und fortschrittlicher Moralgrundsätze beizutragen.

[13] 

Anstelle eines umfassenden Diskurses verschiedenster Zeitzeugnisse (daß Kritiken und Feuilleton-Artikel in reicher Zahl vorhanden sind, hat der Autor selbst zur Sprache gebracht), welcher die moralisierenden Tendenzen von zeitgenössischem Roman, Vaudeville, Melodrama, Sittenkomödie oder des Gesellschaftsstückes deutlich werden läßt, beschränkt sich Patocka auf die Darstellung von Alexandre Dumas fils’ Schrift Le Théâtre utile als einem theoretisch abgefaßten Zeitzeugnis, welches sich einer fortschrittlicheren Moral verschrieben hatte. Kurtisanen- und Ehebruchthematik – von den Konservativen als nicht bühnentauglich abqualifiziert – gingen dabei in ihrer Schärfe über die Sittenkomödie hinaus. Dem Theater dürfe es nicht genügen, den Menschen als moralische Wesen abzubilden, sondern es solle ihn auch als ein soziales Wesen erziehen (S. 55).

[14] 

Man würde sich an dieser Stelle bereits, wie auch in den späteren Kapiteln, kürzere Zusammenfassungen sowie eine knappe Ausführung zum Verhältnis der Beispiele zu den theoretischen Forderungen wünschen, denn so bleiben die Beispiele aufgereiht. Die Individualität der Aussage stellt sich vor den größeren Gesamtbezug, etwa die Kritik Dumas’ an einer Gesellschaft, die einer Kurtisane echte Gefühle abspricht (in La Dame aux Camélias), oder etwa den Tadel an der emotionalen Leere, welche eine Vernunftheirat mit sich bringt und zwangsläufig in den Seitensprung münden muß (in Diane de Lys).

[15] 

Die Operette als Erscheinungsform
des Moraltheaters

[16] 

Doch wozu bedarf es dieser Merkmalskriterien? Nachdem Patocka in einem kurzen Überblick den Terminus ›Opéra bouffe‹ – als modernen, mehraktigen Nachfolger der französischen Operette – zum eigenständigen Gattungsbegriff erhebt 6 , wendet er sich in seinem 3. Kapitel den frühen Einaktern Offenbachs zu. Hier begegnen die vorher aufgestellten moralisch-ästhetischen Grundsätze auf der Bühne des Musiktheaters wieder.

[17] 

Da sind zunächst die Einakter, entstanden in den Jahren 1853 bis 1858. Dargestellt und analysiert werden die Werke jeweils anhand einer Inhaltsangabe, an welche sich ein ausführlicher Kommentar, bezogen auf die moralische Aussage, anschließt. Im Falle von Pepito und Le violoneux entspringen die Figuren dem Geist des Moraltheaters, während in Le 66 der Verzicht auf eine »ironische Brechung der Figuren« beziehungsweise das Fehlen von »Situationen mit parodistischem Bezug zur Vorlage« (S. 76) die Zuordnung zum Moraltheater verschleiern, insbesondere da der komische Unterhaltungswert überwiegt und die Kritik eher als grob zu bezeichnen ist (S. 76).

[18] 

Zu kurz kommt in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß es sich bei Le 66 um keine Buffonerie, sondern um eine Opéra-comique handelt. Hierbei wäre sicherlich als Ergänzung die Frage sinnvoll, ob die Opéra bouffon dem moralisierenden Unterton andere Entfaltungsmöglichkeiten läßt als die seriöse Kleinform, die aufgrund gattungsspezifischer Merkmale auch einer anderen dramaturgischen und damit auch inhaltlichen Ausrichtung bedarf. Ebensowenig wagt Patocka einen Vergleich mit der zeitgenössischen Zauberoper im Falle von Offenbachs Opéra fantastique Les trois Baisers du Diable, wie es sich mit einem Blick auf die deutschen Zauberopern Schuberts, Lortzings oder Marschners angeboten hätte. So aber interpretiert Patocka nur nach den aufgestellten moralischen Kategorien und kommt zu folgendem Schluß: Offenbachs Opéra fantastique wirkt »alles in allem wie eine durch das Zauber- und Wundertheater ›gereinigte‹ Form der groteskkomischen Bouffonerie, die nun eine Synthese mit den sentimentalischen, moralisierenden Einaktern eingeht« (S. 87).

[19] 

Dieses Defizit des Vergleichs wird an der angedeuteten Situationskomik einer kleinen Szene symptomatisch deutlich: Immer, wenn der kleine Georget den mit dem Teufel im Bunde stehenden Gaspard – der bis Mitternacht die Seele einer tugendhaften Gattin ausgeliefert haben muß – verraten will, fängt sein verzauberter Dudelsack zu spielen an. Zwar führte der Autor die Parodie im Sinne einer Entfremdung bekannter Situationen als ein typisches Element ein (Kapitel 4.7), doch übergeht er an diesem Beispiel den Bezug zu Carl Maria von Webers Freischütz, den er zwar erwähnt, dem er aber keine eingehende Beachtung schenkt. Auch das Moment einer möglicherweise musikalischen Parodie, wie sie Offenbach häufig verwendet, bleibt unberücksichtigt. Hier sind die eng gesteckten Grenzen der Studie, die sich auch in der Ausgliederung von Marion Linhardts Forderung nach einer interdisziplinären Untersuchung von Operetten zeigen, verhängnisvoll spürbar (S. 6).

[20] 

Moralkritik

[21] 

Spannend werden die Ausführungen, wenn sich Patocka den großen Offenbachiaden der Jahre 1858 und 1866 zuwendet und dabei herausarbeitet, wo Offenbach den Spott über das »starre Festhalten am ›ordre moral‹ wie [auch die] satirische Überwindung der gattungsästhetischen Kritik« (S. 274) über den Zuschauer ausgießt. Die Themen des Moraltheaters verlagern sich von der Frage des Geldes – inwieweit Geld eine gute Seele verderben kann – zur Rolle von Ehe, Ehebruch und Halbwelt in der Gesellschaft.

[22] 

Mit Orphée aux Enfers wagt Offenbach erstmals die Großform und darüber hinaus den Rückgriff auf einen bekannten mythologischen Stoff, den er durch das Motiv des Ehebruchs und die Parallelen zum bürgerlichen Drama in neuartiger Gestalt erscheinen läßt und so dem Moraltheater einverleibt. Hier gelingt es dem Autor anhand von Einzeldarstellungen, stückimmanente moralische Konventionen, nämlich die geschlossene Vernunftehe, aufzuzeigen, zu demaskieren und stringente Konfliktlösungen anzubieten: Im Falle des Orphée mündet die Auseinandersetzung der nur aufgrund der ›opinion publique‹ noch zusammenlebenden Eheleute Orpheus und Eurydice in eine dauerhafte Trennung: Der Abstieg der Eurydice in die »Halbwelt [erscheint dabei] wie ein gottgewollter Triumph und eine gottgewollte Erfüllung ihrer eigenen Natur« (S. 275).

[23] 

War die Scheidung eines der umstrittensten gesellschaftlichen Themen der damaligen Zeit, so wurde Offenbachs unmißverständliche Aufforderung zur Herzenswahl in Fragen der Liebe von den Kritikern übel angenommen. Der Moralist Janin verweigerte schon bald seine »Berichterstattung über die Bouffes-Parisiens« (S. 98), doch blieb dessen Auseinandersetzung und Position nicht unbeantwortet, sondern entfachte einen regelrechten Pressestreit, in dessen Verlauf der Figaro, an seiner Spitze der Feuilletonist Xavier Aubyet, Janin als einen »falschen Moralisten« angriff. Offenbach und sein Librettist Crémieux reagierten darauf im Orphée mit Polemik: Die »salbungsvolle, eine trübe Realität heuchlerisch beschönigende Suada Plutons« entstammt »Janins Feuilleton vom 10. Mai 1858« (S. 105). Was hier nur kurz skizziert werden kann, liest sich spannend und spiegelt prägnant – wenn auch in dieser Ausführlichkeit nur an wenigen Stellen des Buchs – die damalige Kulturrezeption wider. Die polemische Schärfe und Tagesaktualität der Offenbachschen Operetten treten dabei dem Leser wieder ins volle Bewußtsein.

[24] 

Ein Plädoyer für die Scheidung
und die freie Partnerwahl

[25] 

In den Darstellungen der folgenden Werke stellt uns Patocka die verschiedenen Spielarten der persönlichen Befreiung vom Joch der Ehe vor. In der auf einen mittelalterlichen Stoff zurückgreifenden Opéra bouffe 7 Genevieve de Brabant läßt der Rückgriff auf das mittelalterliche Recht, seine Frau verstoßen zu dürfen, der Frau Gerechtigkeit widerfahren, in dem sie dadurch die Freiheit erhält, ihr Leben neu und nach ihrem Herzen zu gestalten. Ebenso unkonventionell ist die »Aufhebung der Ehebruchsproblematik durch die Erweiterung der Ehe zum Dreibund, wofür der Pont des soupirs plausible Gründe vorzubringen sucht« (S. 275). In La belle Hélene erscheint der Ehebruch politisch wie durch priesterlichen Befehl sanktioniert, dem betrogenen Gatten wird sogar die Schuld am Lauf der Geschehnisse zugewiesen. In Barbe-bleue wird die Thematik auf die Spitze getrieben, denn der Massenmörder wird dadurch entlastet, daß ihm die Möglichkeit fehlt, sich seiner Frauen auf legalem Wege zu entledigen.

[26] 

In diese detaillierten Einzelanalysen wird eine eingehende Untersuchung des Parodie-Gedankens eingeflochten. Im Fall des Orphée werden dabei die zeitkritischen Anspielungen deutlich gemacht. Der idealistische Wunsch, die Gattin durch die Kraft des Gesanges zurückzuholen, wird in der Opéra bouffe ins Gegenteil verkehrt: Die Trauer schlägt in Freude um, sobald Eurydice das Feld für die hübschen Geigenschülerinnen geräumt hat. Nicht der Triumph der Gattenliebe, sondern die Hingabe an die Liebe, erfahrbar im Sinnesrausch des bacchantischen Taumels – damit wird das im 18. Jahrhundert bei Gluck dargestellte Elysium in der Opéra bouffe in parodistischer Weise umgekehrt. Gerade an diesem Aufbrechen des klassischen Mythos schieden sich die zeitgenössischen Stimmen: Während die Fortschrittlichen die Spitzzüngigkeit der Offenbachiaden begrüßten, erschien sie den Moralisten als reine Blasphemie.

[27] 

Fazit

[28] 

Die Beteiligung der Offenbachschen Operetten an der Polemik wider die falschen Moralisten kann der Autor eindeutig nachweisen. Für die politische Kritik am Verfall der Sitten im Zweiten Kaiserreich sieht Patocka anhand des gesichteten Materials allerdings keine Beweise gegeben. Dennoch erfüllt die Operette Offenbachs die Forderung nach einer der ›Nützlichkeit‹ konformen sozialen Funktion, wie sie Dumas fils in seinem Théâtre utile postuliert hat. Was der Autor eindrucksvoll diskutiert, ist für die Bewertung der Offenbachschen Operetten eine Bereicherung. Darüber hinaus zeigt die Auseinandersetzung, daß es sich bei den Variationen der antiken Mythen um freie Neubearbeitungen handelt, die durch ihre irritierenden Akzentverschiebungen beim damaligen Publikum auf geteiltes Verständnis trafen.

[29] 

Schwachstellen weist die Studie dort auf, wo die Urteile auch einer musikdramaturgischen Überprüfung bedurft hätten, da Offenbachs Charakterisierung der Figuren und Situationen nicht allein durch die Textgestaltung geprägt ist, sondern die Musik entscheidend an der parodierenden Wirkung beteiligt ist. Dies ergibt sich jedoch aus dem eng gesteckten Diskussionsrahmen. Als wichtige Detailstudie, auf hohem sprachlichen Niveau verfaßt, ist diese Arbeit jedoch sehr gut recherchiert und nachdrücklich empfehlenswert.


Dr. Christiane Plank-Baldauf
Ludwig-Maximilians-Universität München
Bayerische Theaterakademie
Prinzregentenplatz 12
DE - 81675 München

Ins Netz gestellt am 18.03.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Apl. Prof. Dr. Jörg Krämer. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Christiane Plank-Baldauf: Operette als moralische Anstalt. (Rezension über: Ralph-Günther Patocka: Operette als Moraltheater. Jacques Offenbachs Libretti zwischen Sittenschule und Sittenverderbnis. Tübingen: Max Niemeyer 2002.)
In: IASLonline [18.03.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=735>
Datum des Zugriffs:

Zum Zitieren einzelner Passagen nutzen Sie bitte die angegebene Absatznummerierung.


Anmerkungen

Siegfried Kracauer: Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit. Frankfurt/M. 1980.   zurück
Volker Klotz: Operette – Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst. München, Zürich 1991.   zurück
Karl Kraus: Theater der Dichtung. Frankfurt/M. 1994.   zurück
Marion Linhardt: Ausgangspunkt Wien. Operette als Gegenstand theaterwissenschaftlicher Auseinandersetzung. In: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Musiktheater als Herausforderung: Interdisziplinäre Facetten von Theater- und Musikwissenschaft. Tübingen 1999, S. 171 ff.   zurück
Philippe Ariès: L’Enfant et la vie familiale sous l’Ancien Régime. Paris 1973, S. 313 (zit. n. Patocka S. 9).   zurück
Der Umgang mit dem Gattungsbegriff erscheint hier kühn, denn die Anzahl der Akte, die Bedeutung der Satire innerhalb der Handlung (S. 68) sowie ein höheres Niveau als die früheren Operetten (S. 63) reichen noch nicht zur tatsächlichen Begründung einer Gattungstheorie. Auch hier müßte eine Untersuchung der musikalischen Dramaturgie von Opéra bouffe und Opérette einbezogen werden, zumal der Autor selbst die eigene Definition verwischt, indem er erwähnt, daß nach Offenbach selbst »die großen Opéra bouffes, ohne viel Skrupel als ›Opérettes‹ etikettiert werden dürfen« (S. 63).   zurück
Leider werden im folgenden die Begriffe ›Opéra buffe‹ und ›Opéra bouffon‹ als Termini für die Operetten Offenbachs nicht definiert, sondern treten gleichberechtigt nebeneinander, was zur begrifflichen Verwirrung beiträgt.   zurück