Gerd Brinkhus

Handschrift und gedrucktes Buch

Konkurrenz oder friedliche Symbiose?




  • Gerd Dicke / Klaus Grubmüller (Hg.): Die Gleichzeitigkeit von Handschrift und Buchdruck im 15. und 16. Jahrhundert. (Wolfenbütteler Mittelalterstudien 16) Wiesbaden: Harrassowitz 2003. 299 S. 58 s/w Abb. Gebunden. EUR 59,00.
    ISBN: 3-447-04767-4.


[1] 

Vorbemerkung

[2] 

Der Sammelband enthält einen Teil der Beiträge der Jahrestagungen 1997 und 1998 des Mediaevistischen Arbeitskreises der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, die dem Thema Die Gleichzeitigkeit von Handschrift und Buchdruck im 15. und 16. Jahrhundert gewidmet waren. Der Abstand von fünf Jahren zwischen Veranstaltung und Erscheinen des Bandes zeigt ebenso wie das Fehlen von einigen Beiträgen, auf das in den Vorbemerkungen eingegangen wird, dass die Herausgeber mit den leider fast üblich zu nennenden Schwierigkeiten bei der Herausgabe von Sammelbänden zu kämpfen hatten. Es ist in der Tat bedauerlich, daß von der Themenstellung her äußerst interessante Beiträge nicht aufgenommen werden konnten, wie: »Zwischen Euphorie und Zensur-Androhung: Die Rezeption des Buchdrucks im 15. Jahrhundert« (Stephan Füssel), »Die Kupferstiche, Holzschnitte, Handschriften, Blockbücher und Inkunabeln der ›Ars moriendi‹. Zur Textgeschichte eines Text- und Bild-Ensembles« (Nigel F. Palmer) und »The Coming of Print – The Death of Manuscript« (Henry R. Woudhuysen).

[3] 

Neben den im folgenden besprochenen Beiträgen enthält der Band noch fünf weitere Beiträge:

[4] 

• Ulrike Heinrichs-Schreiber: Sehen als Anwendung von Wissen. Aussage und Wirkung der Bilder in Stephan Fridolins ›Schatzbehalter‹ und bei Albrecht Dürer (S. 49–104)

[5] 

• Felix Heinzer: Handschrift und Druck im Œuvre der Grafen Wilhelm Werner und Froben Christoph von Zimmern (S. 141–166)

[6] 

• Ortrun Riha: Vom mittelalterlichen ›Hausbuch‹ zur frühneuzeitlichen ›Hausväterliteratur‹: Medizinische Texte in Handschrift und Buchdruck (S. 203–227)

[7] 

• Martin Staehelin: Musikhandschrift und Musikdruck in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (S. 229–261)

[8] 

• Hans Eideneier: Späte Handschriften und frühe Drucke griechischer Volksliteratur als Vorlesestoff für Hörer (S. 263–279)

[9] 

Vervielfältigung
von Texten und Bildern

[10] 

Die Möglichkeit, rationell eine größere Zahl von völlig identischen Text- und Bildkopien zu erzeugen, war für das 15. Jahrhundert eine epochemachende Neuerung, mit der experimentiert wurde und die letztlich zu großen Umwälzungen in gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht führte. Gutenbergs Erfindung – von ihm selbst noch als Versuch des artificialiter scribendi bezeichnet – steht an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit und hat viel dazu beigetragen, diesen Wandel zu beschleunigen. Den Spuren dieser Umwälzungen nachzugehen und den Wechsel von »alt« (Handschrift) zu »neu« (Buchdruck) genauer zu beschreiben, ist Ziel der im vorliegenden Sammelband vereinigten Beiträge.

[11] 

Das Thema aus
kunsthistorischer Sicht

[12] 

In kompakter und materialreicher und zugleich übersichtlicher Form führt das Referat von Wolfgang Augustyn (»Zur Gleichzeitigkeit von Handschrift und Buchdruck in Deutschland – Versuch einer Skizze aus kunsthistorischer Sicht«, S. 5–47) in das Gesamtthema ein. Eine Fülle von Hinweisen auf Literatur zum Thema Literaturverbreitung im 15. und 16. Jahrhundert sowie zur Thematik der Buchillustration ist in den Fußnoten zusammengestellt und ermöglicht es von jeder Stelle des Referates tiefer in die Materie einzudringen. Der Autor betont die Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit von Handschrift und Druck, die – je nach Thematik – bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Gültigkeit hatte und erst im 20. Jahrhundert durch die ständig verbesserten und immer leichter zu handhabenden Reproduktionsverfahren völlig verwischt wurde. Deutlich wird in diesem Überblick, daß die Literaturverbreitung in den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts unabhängig vom Medium Handschrift oder Druck intensiver wurde, daß progressive Produzenten sich des neuen Mediums bedienten, gleichzeitig aber den konservativeren Teil der Rezipienten durch »handwerkliche« Überarbeitungen (Rubrizierung, Illustration) zufrieden zu stellen versuchten. Das gilt nicht nur für die Rubrizierung von Drucken, durch die der eine oder andere Schreiber weiterhin Beschäftigung fand, sondern ebenfalls für die Illustration von Handschriften, die im Gegenzug durch Einkleben von Graphikblättern erfolgte. 1

[13] 
Längst ist erkannt, daß die Ablösung der Handschrift als wichtigstes Instrument schriftlicher Textüberlieferung durch das gedruckte Buch komplizierter verlief, daß die Bedingungen, unter denen das Neue an die Stelle des Alten trat, ebenso als Ablösung von Altem durch das Neue wie als Gefüge von vielfältigen Wechselbeziehungen beschrieben werden müssen. Zumindest für einen längeren Zeitraum waren in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts Handschriften und typographisch hergestellte Inkunabeln ebenso sehr gleichzeitige wie [...] konkurrierende Erscheinungsformen des Buchs. (S. 6)
[14] 

Das Wechselspiel zwischen Text und Bild, das bei kunsthistorischer Betrachtung naturgemäß eine große Rolle spielt, erfordert beim Druck eine neue Denk- und Arbeitsweise. Das Layout, das bei einer Handschrift mit wenigen Vorgaben auskommt und flexibel den beim Schreiben entstehenden Anforderungen angepasst werden kann, muß beim Druck vorher genau geplant werden und bietet für individuelle Ausgestaltungen wenig Raum. Das Beispiel der Schedelschen Weltchronik (S. 29) zeigt die Bedeutung des Zusammenspiels von Autor, Illustrator und Drucker.

[15] 

Gegen Ende des 15. Jahrhunderts nahm die Häufigkeit bildlicher Darstellungen deutlich zu, damit verbunden war eine Veränderung der Bildprogramme und eine weitere Verbreitung bestimmter Motive und Bildzyklen.

[16] 

Die bisher noch wenig erkundeten Möglichkeiten des Buchdrucks führten immer wieder zu neuen Versuchen, die Attraktivität der Produkte zu erhöhen: Bebilderung einerseits, andererseits Werbung durch und mit Illustrationen und schließlich sogar Versuche mit Farbdruck.

[17] 

Exklusivität spielte schließlich eine Rolle bei den von Kaiser Maximilian initiierten Buchprojekten (S. 37) wie dem Weißkunig, Theuerdank und schließlich dem Gebetbuch, das einen letzten Höhepunkt der individuellen Ausgestaltung eines Druckwerks darstellt.

[18] 

Gebrauchstext oder
Repräsentationsobjekt

[19] 

Durch das schwer zu überschauende Gebiet der Gebetbuchliteratur an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert versucht P. Ochsenbein einen Pfad zu legen (»Handschrift und Druck in der Gebetbuchliteratur zwischen 1470 und 1520«, S. 105–119). Für Gebet- und Andachtsbücher fehlt bis heute eine einheitliche Terminologie; die Beschäftigung mit dieser Literaturform erfolgt eher partiell und unter dem besonderen Blick des Kunsthistorikers (in Bezug auf die Illustrationen) oder des Germanisten (volkssprachige Texte vor 1300).

[20] 

Der Zusammenfluß unterschiedlicher Strömungen der Gebetbuchliteratur in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und deren Umsetzung in die Volkssprache macht es nicht gerade leicht, Herkunft der Texte, Funktion und vor allem Rezipienten der Gebetbuchliteratur eindeutig festzustellen. Großes Interesse haben die wenigen repräsentativen Stücke gefunden, während die Masse der Gebrauchshandschriften relativ unbeachtet geblieben sind.

[21] 

Durch den Druck konnten auch zum Gebrauch bestimmte Gebet- und Stundenbücher in gehobener Ausstattung (d.h. vor allem mit Illustrationen) zu relativ erschwinglichen Preisen hergestellt werden, so daß diese Literatur im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts einen enormen Aufschwung nahm. 2 An der Zunahme der Drucke ist auch das Wachsen des Abnehmerkreises ablesbar, ein Phänomen der Frömmigkeitsgeschichte, das einer weiteren Untersuchung noch bedarf.

[22] 

Ungeklärt ist weiterhin die Frage, welches Verhältnis zwischen Auflagenhöhe und überlieferten Drucken zugrunde zu legen ist. Der Gebrauchs- bzw. fast Verbrauchscharakter der Literatur der privaten Frömmigkeit dürfte zu einer relativ hohen Verlustrate geführt haben, die bisher in der Forschung noch nicht eingehend untersucht wurde. Vor allem bei den Drucken ist die Überlieferung von Unikaten und Fragmenten einzelner Ausgaben für diese Fragestellung von großem Interesse.

[23] 

Der Druck ist vor allem für die Überlieferung bestimmter Textcorpora (z.B. Hortulus animae, Stundenbücher) wichtig und zeigt auch die Beliebtheit solcher Zusammenstellungen; Handschriften können solche festen Überlieferungszusammenhänge aufnehmen, sind aber häufig sehr individuelle Kompilationen einzelner Texte zu privaten Gebet- und Andachtsbüchern, deren Tradition bis ins 19. Jahrhundert zu beobachten ist.

[24] 

Handschrift und Buchdruck
in der Reformation

[25] 

In seinem Beitrag »Handschrift und Buchdruck bei Martin Luther« (S. 121–140) geht Holger Flachmann der Frage nach »worin für den Reformator der Zweck und innere Zusammenhang von Handschrift und Typographie lag und wie beide Medien in seiner Sicht zusammenwirkten.«

[26] 

Ausgehend vom hohen Lob, das Luther dem Buchdruck zollt, wird die Bedeutung von Druck und Handschrift im Wirken Luthers vorgestellt. Für das öffentliche reformatorische Wirken bediente sich Luther bereits ganz selbstverständlich der Typographie. Handschriftlich wickelte er seine Korrespondenz an Einzelpersonen und Obrigkeiten ab, wollte er aber mit seinen Briefen ein größeres Publikum erreichen, wählte er ebenfalls das Druckmedium. Er bediente sich souverän dieses Mediums, um die Wahrheit der christlichen Lehre öffentlich zu machen, und richtete seine Botschaften als Druckwerke an gut definierte Adressatenkreise. Welche Rolle Druck und Schrift im Wirken Luthers einnehmen, untersucht Flachmann an den wesentlichen Bereichen Bildung, obrigkeitliches Regiment und Verkündigung und kommt zu folgendem Resümee:

[27] 
Für zentrale gesellschaftliche Aufgabenfelder wie Bildung, obrigkeitliches Regiment und kirchliche Verkündigung reklamierte der Reformator den Einsatz beider Schriftmedien. Selbst eine literale Existenz, beruhte sein Votum auf eigener Anschauung ihrer spezifischen Funktionen und Vorzüge. Mit der Typographie ließen sich oft nachgefragte Texte [...] relativ schnell, kostengünstig, gleichförmig sowie in großen Stückzahlen herstellen und verbreiten. Die Handschrift war hierdurch für Luther ganz selbstverständlich von der Bürde entlastet, Öffentlichkeit herstellen und die literarische Überlieferung bewahren zu müssen. An ihr schätzte er, daß sie Schrift unmittelbar, individuell und konstruktiv zur Verfügung stellte. Alles in allem entspricht Luthers Umgang mit der Handschrift und dem Buchdruck der funktionalen Differenzierung beider Medien, wie sie sich seit etwa 1480 ausmachen lässt und in den folgenden zwei Jahrzehnten bis etwa 1500 verfestigte. (S. 138)
[28] 

Die am Schluß aufgeworfene Frage nach der Funktion der »alten Medien« in einer Zeit, in der Digitalisierung den schnellen Zugriff auf bisher »gewichtige« Literatur (als Beispiel wird die Luther-Ausgabe auf CD-ROM genannt) praktisch rund um die Uhr ermöglicht, ist angesichts der in manchen Kreisen herrschenden Digitalisierungs-Euphorie durchaus berechtigt, eine

[29] 

Veränderung gravierender Art bahnt sich allerdings eher im Bereich der handschriftlichen Überlieferung an, da handgeschriebene Briefe und Konzepte heute vielfach bereits von elektronischen Medien verdrängt sind.

[30] 

Medienmischung und
Bibliophilie

[31] 

An zwei sehr unterschiedlich gelagerten Fällen aus dem Raum Köln versucht Ursula Rautenberg (»Medienkonkurrenz und Medienmischung – Zur Gleichzeitigkeit von Handschrift und Druck im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts in Köln«, S. 167–202) einen Weg durch das Grenzgebiet zwischen Handschrift und Buchdruck im 16. Jahrhundert zu zeigen. Ihre Schlussfolgerungen, die für mich nur unzureichend begründet sind, sollten nicht unwidersprochen bleiben. Es scheint mir nicht gerechtfertigt zu sein, die Form der Ausführung dieser Handschriften mehr oder weniger ausschließlich dem Stifterwillen zuzuschreiben. Beide von U. Rautenberg vorgestellten Beispiele sind für einen sehr speziellen Zweck und als Repräsentationsstücke angefertigt und dafür individualisiert worden. Im ersten Fall wird die gedruckte Vorlage durch einen handschriftlichen Einschub und die deckend angelegte Kolorierung der Holzschnitte individualisiert. Im zweiten Fall sind eine Reihe von Texten aus verschiedenen Drucken zu einer thematisch geschlossen repräsentativen Handschrift kompiliert. Die Begründungen lassen sich eher aus der Beobachtung allgemeiner Zeittrends ableiten als der sehr speziellen Sicht auf Stifterwillen und Stiftungszweck.

[32] 

Das Missale
für St. Kolumban

[33] 

Als Repräsentationsobjekt konzipiert und mit den zur Verfügung stehenden Mitteln des Drucks und der handwerklich künstlerischen Ausgestaltung zu einem Unikat gemacht wurde das Missale für St. Kolumban von 1514. Ein Pergamentexemplar des Drucks des Kölner Missale von 1514 3 wird durch eine handschriftliche Lage erweitert und seine Holzschnitte durch einen Miniaturmaler umgestaltet. Für U. Rautenberg heißt das:

[34] 
Bestimmt doch gerade die durch Auftraggeber und Stiftungszweck festgelegte Gebrauchsfunktion den strategischen Einsatz von Produktionsweisen, die das genau diesen Zweck erfüllende Buchobjekt hervorbringen. So wäre auch die saubere, nur auf statistischem Wege gewonnene Dichotomie Brandis, die der Exemplarvielfalt der Druckauflage das Bewahren und Verbreiten, der unikalen Handschrift die private Nutzung zuweist, zu relativieren. (S. 183)
[35] 

Die von Brandis erhobenen statistischen Daten spiegeln meiner Ansicht nach nur einen Trend wieder und brauchen deswegen nicht relativiert zu werden. Andererseits sollte man bei einem künstlerischen, meinetwegen auch kunsthandwerklichen Unternehmen die Intentionen und die Einflußnahme eines Stifters nicht spekulativ heranziehen, um daraus bestimmte Trends abzuleiten. Es ist nicht möglich und auch nicht nötig, alle Phänomene des ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts in feste Kategorien einzuordnen, vielmehr sollten wir immer noch in erster Linie beobachten und beschreiben. Könnte man nicht in der (kunst-)handwerklichen Überarbeitung des Missale eine Individualisierung des Drucks sehen, wie sie durch Rubrizierung und Illuminierung von Druckwerken im 15. Jahrhundert ganz selbstverständlich durchgeführt wurden?

[36] 

Den besonderen Anlaß für die Stiftung des Missale gab die Erweiterung der Kirche St. Kolumban am Ende des 15. Jahrhunderts, die von der Familie Questenberg finanziell gefördert wurde. Es steht außer Frage, dass Johann Questenberg zur Vollendung der Kirche St. Kolumban ein prachtvolles Missale stiften wollte und zu dieser Intention passt es, dass er die Künstler des Weidenbacher Fraterhauses beauftragte. Ob und wie weit sich der Stifter selbst in die künstlerische Ausgestaltung des Missale einschaltete, muß wohl offen bleiben; ebenso unsicher ist die Annahme, dass Questenberg selbst die Vorlage, den Druck, beschafft hat. Unhistorisch und zu sehr vom Denken unserer Zeit beeinflusst ist die Frage: »Warum aber wählt der Stifter ein gedrucktes Buch und lässt nicht ein handgeschriebenes Missale anfertigen?« (S. 175) Könnte Questenberg nicht ebenso gut gerade dem Druck als einer zeitgemäßen handwerklichen Leistung den Vorzug gegeben haben, die durch die Illuminierung noch verbessert wurde? Haben möglicherweise die Weidenbacher Fraterherren selbst die künstlerische Mischform als zeitgemäße Lösung vorgeschlagen? Die Feststellung der Autorin:

[37] 
Zur Individualisierung des Exemplars für den Gebrauch in St. Kolumban hätte die eingeschaltete handschriftliche Partie ausgereicht. Erst die nachträgliche Kolorierung auch des gedruckten Teils, deren Preis dem Kaufpreis für den Druck nicht nachgestanden haben wird, macht aus dem Rohprodukt ein fertiges Buch. Die Sicht des Druckers, die ein Fertigprodukt zu liefern glaubten, dürfte sich aber von der des Stifters und Illuminators unterschieden haben. Denn die reiche Illuminierung aus einer bedeutenden Kölner Werkstatt, so ästhetisch gelungen sie dem heutigen Betrachter erscheinen mag, [...] verfremdet den Druck zu einem medialen Zwitter; allerdings ist ein solches Verfahren nicht selten. (S. 175)
[38] 

überlagert unzulässigerweise und unnötigerweise die Fakten des 16. Jahrhunderts mit Denkweise und ästhetischen Kriterien des 20. Jahrhunderts. Auch der Satz:

[39] 
Der Fall des Missale für St. Kolumban macht jedoch deutlich, dass es zu keiner funktionalen Differenzierung von Handschrift und Druck kommt, vielmehr zu einer Synthese, die den Medienbruch so weit als möglich überspielt. (S. 176)
[40] 

scheint mir viel zu kompliziert zu sein für eine einfache Aussage, die da lauten könnte: Noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts gehen Bearbeiter völlig unbefangen mit Drucken und gedruckten Illustrationen um und schaffen Medienmischungen, die sich stark am Aussehen mittelalterlicher Handschriften orientieren.

[41] 

Vom Allgemeinen zum
Besonderen

[42] 

Ebenfalls mit der Ausstattung eines Kirchenneubaus verbunden ist eine Handschrift für das Kölner Makkabäerkloster, 4 die »überwiegend Texte zum Lob der Makkabäischen Brüder und ihrer Mutter Salomone sowie Nachrichten über die Reliquien und das Kloster als Zentrum des Kultes« (S. 176) enthält. Die Texte sind 1525 im Auftrag von Helias Mertz, Rektor und Beichtvater der Benediktinerinnen von St. Makkabäer, abgeschrieben worden. Die Prachthandschrift ist »letzter Baustein in einem dichten Geflecht baulicher, künstlerischer und literarischer Maßnahmen« (S. 177) und enthält »alle bereits vorhandenen geschriebenen und gedruckten Texte« (ebd.) und reichert diese mit Widmungsbriefen an. Die Handschrift kann »als gemeinschaftliches Projekt des Kölner Humanistenkreises gelten, der mit dem Makkabäerkloster verbunden war« (S. 177); zu diesem Kreis zählen außer Helias Marcaeus Johannes Cincinnius, Johannes von Groningen, Ortwinus Gratius und Jakob Magdalius. »Es spricht Vieles dafür, eines der Mitglieder des Kreises um Helias Marcaeus und Ortwinus Gratius als Abschreiber der bereits vorliegenden Dokumente anzunehmen; Johannes Cincinnius verfügte hier am ehesten über die nötigen Voraussetzungen.« (S. 179)

[43] 

Die Entstehung einer Handschrift, die unterschiedliche Quellen zusammenstellt, wie hier geschildert ist, kommt mir aus Kenntnis der südwestdeutschen Humanistenkreise ganz normal vor: eine im weitesten Sinne historiographische Kompilation aus Texten unterschiedlicher Art, die den Zweck verfolgt, vorhandene »Quellen« zusammenzustellen, um Historie weiterzuvermitteln. Handschriftliche Überlieferung solcher »Quellenwerke« stand im Vordergrund, vor allem dann, wenn – wie im vorliegenden Fall – auch noch ein repräsentatives Stück für einen besonderen Zweck geschaffen werden sollte. 5 Eine gewisse getreue Übernahme der Vorlage war selbstverständlich, und so lässt sich die Makkabäerhandschrift ziemlich einfach als ein Produkt vorlagengetreuer Historiographie eines Humanistenkreises für einen ganz bestimmten Zweck bezeichnen. Viel stärker als bei der Gestaltung des Missale für St. Kolumban ist hier der Gestaltungswille der Kompilatoren (Auftraggeber?) spürbar, die ein Dokument der bekannten historischen Überlieferung liefern wollten, das einen unikalen Charakter haben sollte. Bei U. Rautenberg scheint aber in der Bewertung eine merkwürdige anachronistische Bewertung durch, wenn sie feststellt:

[44] 
Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zum Stiftungszweck des Missale für St. Kolumban. Helias Marcaeus verkörpert einen anderen, neuen Typ des Stifters, der sich nicht nur über die von ihm gestifteten Gegenstände zu erkennen gibt, sondern dessen Lebenswerk in dem Buch beschrieben und niedergelegt ist. Das literarische Lob des Donators tritt gleichberechtigt neben das Lob des Heiligen. Hohes Ausstattungsniveau wird nicht mehr auf biblische und liturgische Texte abgewendet sondern auf eine humanistische Edition von Kirchenvätertexten, zweifelhaften Berichten über die Reliquien und mehrfachen ausführlichen Darlegungen über die Verdienste des Stifters [...] Die selbstverständliche Handhabung buchgestalterischer Professionalität kommt einem angemessenen Text [dem Weidenbacher Missale] und einem angemessenen Gebrauchszweck zugute. Anders dagegen die Makkabäer-Handschrift. Weder die Art der größtenteils in ihr vervielfältigten Texte noch ihre Entstehung in einem quasi ›wissenschaftlichen‹ philologischen Umfeld rechtfertigen den buchkünstlerischen Aufwand. (S. 186)
[45] 

Die Denkweise humanistischer Kreise geht in der Tat ins Bibliophile, deswegen ist aber keine Rechtfertigung des buchkünstlerischen Aufwandes zu erwarten. Auch Hartmann Schedel hat in der Typographie der Weltchronik von 1493 starke bibliophile Züge sichtbar werden lassen, wenn man denn ein Produkt des 15. Jahrhunderts mit moderner Begrifflichkeit kennzeichnen will. Selbst wenn die Makkabäer-Handschrift Druckvorlagen adaptiert hat, hätte sie – bei Bedarf und falls eine ökonomische Realisierbarkeit gegeben gewesen wäre – durchaus selbst als Vorlage eines bibliophilen Drucks dienen können. Gerade humanistische Geschichtsschreibung des 16. Jahrhunderts zeigt in großem Umfang einen sehr unbefangenen Wechsel zwischen Handschrift und Druck. Es wäre sicher aufschlussreich zu untersuchen, welche Druck-Projekte humanistischer Historiographie des 16. Jahrhundert an den ökonomischen Zwängen gescheitert sind oder zu scheitern drohten.

[46] 

Beide von U. Rautenberg vorgestellten Mischformen der Buchproduktion des 16. Jahrhunderts zeigen sehr deutlich, daß Beobachtung und vorsichtige Interpretation aus dem Denken der Zeit heraus durchaus plausible Erklärungen zu bringen vermag.

[47] 

Der Buchdruck als Bedrohung
der Schreibkultur

[48] 

Ein weiterer Beitrag zum Symposium, der allerdings 1997 im AGB 6 veröffentlicht wurde, zeigt die soziale Problematik des Medienwechsels aus der Sicht des Venezianer Schreibers Filippo della Strada. Der Konkurrenzdruck wird deutlich sichtbar in der Argumentationsweise des durch das neue Medium besonders in Bedrängnis geratenen Berufsstandes der Schreiber. Der Beitrag von Thomas Haye trägt wichtige Gesichtspunkte zur Frage der Gleichzeitigkeit von Handschrift und Buchdruck bei und führt auch die soziale Komponente des Medienwechsels vor Augen. Das Resümee (AGB 48, S. 295–296) ist:

[49] 
Filippos Plädoyer, besser gesagt, seine Philippika gegen den Buchdruck ist nicht zuletzt deshalb ohne Folgen geblieben, weil die apokalyptische Vision vom Ende der Schreibkultur in dieser Schärfe nie Realität geworden ist. Während des gesamten 16. und noch bis weit in das 17. Jahrhundert hinein sind nicht nur handschriftliche, sondern auch gedruckte Texte systematisch abgeschrieben worden; Druck und Handschrift haben noch lange Zeit in friedlicher Symbiose gelebt.

Dr. Gerd Brinkhus
Oberbibliotheksrat i. R.
Burgunderweg 28
DE - 72070 Tübingen

Ins Netz gestellt am 15.06.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserer Fachreferentin Dr. Bettina Wagner. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Gerd Brinkhus: Handschrift und gedrucktes Buch. Konkurrenz oder friedliche Symbiose? (Rezension über: Gerd Dicke / Klaus Grubmüller (Hg.): Die Gleichzeitigkeit von Handschrift und Buchdruck im 15. und 16. Jahrhundert. Wiesbaden: Harrassowitz 2003.)
In: IASLonline [15.06.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=737>
Datum des Zugriffs:

Zum Zitieren einzelner Passagen nutzen Sie bitte die angegebene Absatznummerierung.


Anmerkungen

Ergänzend zu der Literatur bei Augustyn jetzt: Peter Schmidt: Gedruckte Bilder in handgeschriebenen Büchern. Zum Gebrauch von Druckgraphik im 15. Jahrhundert. Köln 2003 (zugl. Diss. TU Berlin 1995).   zurück
Eine sehr informative Zusammenstellung gedruckter Stundenbücher findet sich in: Horae B.M.V.: 158 Stundenbuchdrucke der Sammlung Bibermühle 1490–1550. Hg. von Heribert Tenschert. 3 Bde. Ramsen: Antiquariat Bibermühle; Rotthalmünster: Antiquariat Heribert Tenschert 2003.   zurück
Missale ad usum Coloniensis. Paris: Wolfgang Hopyl für Franz Birckmann 1514. Darmstadt, Landes- u. Hochschulbibliothek, W 5594/2.   zurück
Köln, Diözesanbibl., Cod. 271.   zurück
Vgl. z.B. Gottfried Mälzer: Die Würzburger Bischofs-Chronik des Lorenz Fries: Textzeugen und frühe Überlieferung (Mainfränkische Hefte / Freunde Mainfränkischer Kunst und Geschichte 84) Würzburg: Freunde Mainfränk. Kunst und Geschichte 1987.   zurück
Thomas Haye: Filippo della Strada – ein Venezianer Kalligraph des späten 15. Jahrhunderts im Kampf gegen den Buchdruck. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 48 (1997), S. 279–312.   zurück