Mark Mersiowsky

Schrift, Geschäft und Politik
im hochmittelalterlichen Venedig




  • Irmgard Fees: Eine Stadt lernt schreiben. Venedig vom 10. bis zum 12. Jahrhundert. (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 103) Tübingen: Max Niemeyer 2002. XI, 437 S. Gebunden. EUR 64,00.
    ISBN: 3-484-82103-5.


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Irmgard Fees, die sich bereits durch ihre Dissertation als eine der besten Kennerinnen des hochmittelalterlichen Venedig erwies, 1 hat sich in ihrer Marburger Habilitationsschrift einem Thema zugewandt, das im Zeichen medialen Wandels in den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts in der Geschichtswissenschaft Mode war, der Schriftlichkeit. Nun haben modische Forschungen bekanntlich eine sehr geringe Halbwertzeit. Und in der Tat haben die Geschichtswissenschaften längst diese Gefilde als vermeintlich abgegrast verlassen und sich – nachdem »linguistic turn« and »cultural turn« mit mehreren Jahrzehnten Verspätung nun mit voller Macht angekommen sind – Ritual und Performanz zugewendet.

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Nichts ist öder als das Bad in den leider allzuoft theoriereichen und substanzarmen Produkten der Moden von vorgestern. Doch zu den Werken, die sicher nicht mit dem Wandel der Moden beiseite gelegt werden, gehört das Buch von Irmgard Fees. Sie wandte sich der Frühzeit des in der Regel im 12. Jahrhundert einsetzenden Prozesses zu und verband moderne – um nicht zu sagen modische – Fragestellungen mit klassischen sozial- und verfassungsgeschichtlichen Ansätzen, die sie unter Nutzung des ansonsten heute meist nicht mehr beherrschten und daher gerne als obsolet betrachteten hilfswissenschaftlichen Instrumentariums anging.

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Unterschriften
als Zeugnisse der Schriftlichkeit

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Trotz aller Bemühungen zum Verständnis des Verschriftlichungsprozesses in der abendländischen Kultur und Gesellschaft des Mittelalters sind verläßliche Grundlagen zur Einschätzung des Alphabetisierungsgrades, zumal für das Hochmittelalter, kaum zu gewinnen. Einen methodischen Zugang suchte Fees über die Urkunden. Anders als im übrigen Oberitalien, wo sich das vor allem durch die Unterschrift des Notars beglaubigte Notariatsinstrument durchgesetzt hat 2 , blieben in Venedig Unterschriften von Ausstellern und Zeugen ein wichtiges Element der Urkunden des 11. und 12. Jahrhunderts. Diese konnten entweder eigenhändig oder mittels des signum manus durch den Notar erfolgen. Die reiche, mit dem späten 9. Jahrhundert einsetzende Überlieferung erlaubt mittels systematischer Untersuchung der Verbreitung eigenhändiger und nicht eigenhändiger Unterfertigungen Aussagen über elementare Schreibkenntnisse in der Bevölkerung (S. 49–53). Das Untersuchungsobjekt zeichnete sich natürlich nicht nur durch seine Überlieferung aus. Venedig war im Hochmittelalter eine der größten und bedeutendsten Städte Europas. Eine Skizze seiner topographischen Entwicklung, der städtischen Verfassung und gesellschaftlichen Ordnung (S. 8–25) bildet den Rahmen der Arbeit. Das seit dem späten 9. Jahrhundert überlieferte Quellenmaterial, etwa 400 Urkunden für das 11. und etwa 4000 für das 12. Jahrhundert, und seine Besonderheiten werden in einer knappen Diplomatik der venezianischen carta vorgestellt (S. 26–48).

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Schreibkenntnisse
verschiedener sozialer Gruppen

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Für das 11. und 12. Jahrhundert machte Fees über 4500 eigenhändig ausgeführte Unterschriften aus. Wenig erstaunt, daß Schreibkenntnisse im gesamten Weltklerus die Regel waren, so daß nichtautographe Unterzeichnungen schon den Zeitgenossen als erklärungsbedürftig erschienen. In den Männerkonventen fanden sich einzelne einfache Mönche, einmal auch ein Abt und ein Priester, die nicht schreiben konnten, wohingegen Fees keine einzige eigenhändige Unterschrift einer Nonne fand, nur eigenhändige Kreuzchen (S. 53–59).

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Die Unterfertigungen der Dogenurkunden, also der politischen Führungsgruppe, zeigen eine klare Entwicklung: konnte während des 10. Jahrhunderts nur eine Minderheit der Männer aus der politischen Führungsschicht Venedigs schreiben, stieg der Anteil im 11. Jahrhundert und überwog in dessen zweiter Jahrhunderthälfte. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts war die eigenhändige Unterschrift bei männlichen Angehörigen von Adel oder Führungsschicht der Regelfall (S. 59–74).

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In den Handelsurkunden des 12. Jahrhunderts, in denen neben dem Adel kaufmännisch orientierte Schichten greifbar werden, müssen die Zeugen, die wegen ihrer Schreibfähigkeit ausgewählt sein konnten, und die Aussteller unterschieden werden. Hier unterzeichneten 98 % der Zeugen selbst. Die Aussteller hingegen waren noch in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts überwiegend nicht schreibfähig. Seit der Jahrhundertmitte überwog die eigenhändige Unterzeichnung, doch blieb ein Gutteil der Aussteller beim nichteigenhändigen signum manus, darunter alle Frauen (8,17 % der Aussteller). Um die Mitte des 12. Jahrhunderts begannen die Notare auch bei Laien eigens darauf hinzuweisen, wenn jemand, der dazu in der Lage war, seine Unterschrift nicht eigenhändig leistete (S. 74–87).

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In den übrigen Privaturkunden, in denen sehr viel breitere Bevölkerungskreise aufscheinen, erwiesen sich große Unterschiede im Gebiet des Dogats: dominiert bei den Urkunden, die in Venedig-Rialto ausgestellt waren, die Eigenhändigkeit bei den Zeugen, überwog mit der Ausnahme von Torcello sonst das signum manus. Nur etwa 30 % der Aussteller, darunter ausnahmslos keine Frauen, konnten dagegen eigenhändig unterfertigen (S.87–102).

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Die bei der Analyse der Unterschriften gewonnenen Aussagen verknüpfte die Autorin mit der Verfassungs- und Sozialgeschichte Venedigs und zeigt ein Gefälle der Schreibfähigkeit zwischen höheren und niederen sozialen Schichten wie zwischen Stadt- und Landbevölkerung (S. 102–108).

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Unterschrift und Schreibkenntnisse

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Natürlich ist die Fähigkeit, seinen Namen samt einigen Floskeln zu schreiben, kein wirkliches Indiz für vorhandene Schreibkenntnisse. So analysierte Fees graphische Qualität, Duktus und Formular der Unterzeichner und konzentriert sich dabei besonders auf die Zeugenunterschriften auf beglaubigten Kopien. Alle Amtsträger konnten ihren Namen, ihren Titel und eine knappe Formel schreiben, viele auch längere Sätze, ihre Unterschriften zeigen bei insgesamt recht hohem Niveau alle Modi graphischer Gestaltungsfähigkeit (S. 109–136).

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Zur Praxis der Schriftlichkeit im
kaufmännischen Alltag

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Die wachsende und im Zuge des 12. Jahrhunderts viele neue Lebensbereiche erfassende Rolle der Schriftlichkeit im Alltagsleben arbeitete Fees nach der Sichtung verstreuter Nachrichten konzentriert anhand dreier Beispiele heraus, jeweils Männer, von denen sie autographe Unterschriften gefunden hatte. Das in Pisa angeferitgte Nachlaßinventar des venezianischen Kaufmanns Graziano Gradenigo aus der Oberschicht bezeugt, daß er auf einer Seereise Archivbehältnisse, wohl auch Urkunden, sicher aber umfangreiches Schreibgerät mit sich führte. Der Kaufmann und Unternehmer Romano Mairano aus einer Familie nichtadeliger Freier bildete in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts ein zufällig erhaltenes, noch heute 120 Stücke umfassendes Archiv, dessen Urkunder er eigenhändig mit Rückvermerken versah. Schließlich schrieb der Kaufmann Pietro Corner, ein sozialer Aufsteiger, in der Mitte des 12. Jahrhunderts eine eigenständig formulierte, stark durch das Volgare geprägten Geschäftsnotiz nieder, die nicht nur eines des ältesten Denkmale kaufmännischer Schriftlichkeit, sondern auch der Vermischung von lateinischer Sprache und Volgare ist (S. 137–174).

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Was nicht in den Quellen ...

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Kaum nachweisbar, wenngleich in beträchtlichem Umfang zu vermuten, sind die Lesefähigkeiten der hochmittelalterlichen Venezianer (S. 175–182), auch Zeugnisse zu Schulen und Lehrern in Venedig vor 1200 fehlen. Die Autorin nimmt an, viele Venezianer seien von Privatlehrern unterrichtet worden, zudem seien erhebliche Kenntnisse in Familie und Kaufmannskontor weitergegeben worden (S. 183–194).

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Impulse zur Verschriftlichung

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Die Verschriftlichung scheint in Venedig noch früher eingesetzt zu haben als im übrigen Oberitalien. Die Impulse zur Aneignung von Schreibkenntnissen kamen nach Fees zum einen aus dem politisch-administrativ-rechtlichen Bereich, zum andern aus dem kaufmännischen Sektor, die sich in Venedig erheblich überschnitten. Da eine große Anzahl von Personen am Herrschaftssystem partizipierte und der Fernhandel das Standbein Venedigs darstellte, förderten diese Umstände die Entwicklung der Schriftlichkeit in besonderem Maße. Bei Gruppen, die weitgehend aus diesen Bereichen ausgeschlossen waren – so der Bevölkerung aus nicht kaufmännisch geprägten Orten der Lagune oder der weiblichen Bevölkerung – blieben diese Impulse zunächst aus. Die Besonderheiten des venezianischen Urkundensystems erlauben einen Blick auf die beginnende Literalisierung ganzer sozialer Schichten.

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Irmgard Fees hat mit ihrer Untersuchung eines reichen, bisher kaum überschaubaren Materials ein wichtiges, solides Buch zur Schriftlichkeit wie zur venezianischen Geschichte 3 geliefert und dem lakonischen Quellenmaterial wichtige Erkenntnisse zur sozialen Dimension der Ausweitung von Schriftlichkeit sogar für das Hochmittelalter abgerungen. Vielleicht hätte man sich noch ausführlichere paläographische Ausführungen gewünscht 4 . Vor allem hat Irmgard Fees wieder einmal gezeigt gezeigt, daß die Historischen Hilfswissenschaften immer noch in der Lage sind, den »Normalhistorikern« neue Quellenhorizonte sogar für Modethemen zu erschließen.


Prof. Dr. Mark Mersiowsky
Universität Stuttgart
Historisches Institut
Abteilung Mittlere Geschichte
Keplerstr. 17
DE - 70174 Stuttgart

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Ins Netz gestellt am 18.09.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserer Fachreferentin Dr. Bettina Wagner. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Mark Mersiowsky: Schrift, Geschäft und Politik im hochmittelalterlichen Venedig. (Rezension über: Irmgard Fees: Eine Stadt lernt schreiben. Venedig vom 10. bis zum 12. Jahrhundert. Tübingen: Max Niemeyer 2002.)
In: IASLonline [18.09.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=744>
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Anmerkungen

Irmgard Fees: Reichtum und Macht im mittelalterlichen Venedig: die Familie Ziani (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 68) Tübingen: Niemeyer 1988; I. F.: Le monache di San Zaccaria a Venezia nei secoli XII e XIII (Centro Tedesco di Studi Veneziani. Quaderni 53) Venezia: Centro Tedesco di Studi Veneziani 1998.   zurück
Die beste Übersicht bietet Andreas Meyer: Felix et inclitus notarius. Studien zum italienischen Notariat vom 7. bis zum 13. Jahrhundert (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 92) Tübingen: Niemeyer 2000.   zurück
So bietet sie in mehreren Anhängen Listen der erhaltenen Dogenurkunden sowie Material zu nichtadligen Familien des 11. und 12. Jahrhunderts.   zurück
So wären weitere Ausführungen zur Frage, ob die Unterschriften wirklich autograph oder nicht manchmal »pseudo-autograph« waren, spannend gewesen; Fees nennt S. 37 Anm. 74 nur zwei Beispiele. Auch die Ausführungen S. 130–135 sind ausbaufähig. Hätten paläographische Untersuchungen nicht auch Ergebnisse zur Frage der Vermittlung der Schreibfähigkeit erbracht?   zurück