Astrid Krüger

Eine Lücke geschlossen -
die erste umfassende kritische Edition
der Lorscher Bibliothekskataloge




  • Angelika Häse: Mittelalterliche Bücherverzeichnisse aus Kloster Lorsch. Einleitung, Edition und Kommentar. (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 42) Wiesbaden: Harrassowitz 2002. 417 S. S. Gebunden. EUR 108,00.
    ISBN: 3-447-04490-X.


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In ihrer von Professor Dr. Walter Berschin betreuten Dissertation, mit der sie im Jahr 2000 den Doktorgrad an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg erwarb, ediert Angelika Häse die Bibliothekskataloge der Reichsabtei Lorsch aus dem 9. Jahrhundert und identifiziert die enthaltenen Werke in einem ausführlichen Kommentar. Sie macht damit den Bestand der Lorscher Bibliothek in karolingischer Zeit erstmals umfassend greifbar.

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Die Bibliothek des Reichsklosters Lorsch stellte ohne Zweifel eine der Säulen dar, auf der die Bildungsreform Karls des Großen und seines Sohnes Ludwigs des Frommen fußte. Gerade hier studierte man neben der genuin christlichen Patristik – sicherlich ein Schwerpunkt der Lorscher Büchersammlung – auch Autoren der klassischen Antike, in deren Aussagen man Hinweise auf biblische Ereignisse zu erkennen glaubte. Lorsch und Sankt Gallen waren Zentren für die Herstellung von Klassiker-Handschriften, auch wenn erstaunlicherweise wenig von einer weiterführenden Auseinandersetzung gerade der Lorscher Mönche mit den von ihnen abgeschriebenen Texten zu erkennen ist. 1 Das Kloster an der Bergstraße mag im Rahmen der Reformen daher eher eine »Sammelstelle« für aktuelles und vergangenes Wissen gewesen sein denn eine literarische und wissenschaftliche Produktionsstätte.

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Über das Wissen, das in Lorsch gespeichert wurde, wissen wir recht viel. Zumindest der reiche Bücherschatz, der einst im Lorscher Skriptorium entstanden war, wurde von Bernhard Bischoff umfassend erforscht und in einer Liste publiziert. Doch verrät diese Liste eben mehr über die Schreibtätigkeit der Mönche; über den Bestand der Bibliothek erzählt sie wenig; deren Umfang und Qualität erfahren wir aus vier Katalogen, die in Handschriften der Biblioteca Apostolica Vaticana (Pal. lat. 1877 und Pal. lat. 57) überliefert wurden: Mit ihrer Edition dieser Bibliothekskataloge – der ersten kritischen Edition überhaupt – schließt Angelika Häse eine immense Forschungslücke: Nun erst wird es möglich, das geistige Leben der Abtei an der Bergstraße auf einer hinreichend sicheren Basis zu untersuchen. Das Wissen, aus dem die Lorscher Mönche schöpften, wird greifbar.

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Häse bezeichnet die vier Kataloge (von Bischoff abweichend) mit den Buchstaben A bis D, wobei sie den umfassenden Katalog C in Ca (den eigentlichen Bibliothekskatalog) und Cb (eine ursprünglich selbständige Liste der Bücher des Mönches Gerward, die heute als Anhang von Katalog Ca überliefert ist) unterteilt:

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• Katalog A: Vatikanstadt, Bibl. Apost. Vaticana, Pal. lat. 1877, fol. 67ra-79vb (um 830)

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• Katalog B: Vatikanstadt, Bibl. Apost. Vaticana, Pal. lat. 1877, fol. 44ra-66vb (830–840)

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• Katalog C (= Ca+Cb): Vatikanstadt, Bibl. Apost. Vaticana, Pal. lat. 1877, fol.1r-34r (um 860)

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• Katalog D: Vatikanstadt, Bibl. Apost. Vaticana, Pal. lat. 57, fol. 1r-7v (um 850)

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Hinzu kommt als Katalog H (Vatikanstadt, Bibl. Apost. Vaticana, Pal. lat. 175, fol. 66v) die Liste der zur Handbibliothek ein Lorscher Priesters Heilrat gehörenden Titel aus dem späten 9. Jahrhundert.

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Zwar lag bereits seit langem eine Edition der Kataloge vor (Häse berichtet davon ausführlich in ihrer Einleitung, S. 340–345): 1841 druckte der Präfekt der Vatikanischen Bibliothek, Kardinal Angelo Mai, im 5. Band des Spicilegium Romanum 17 Kataloge zumeist deutscher Klöster (zum Teil unvollständig) ab 2 . Diese frühe Edition unter dem neugeschaffenen Titel Breviarium codicum monasterii s. Nazarii in Laurissa seu Laureshamensis ad Rhenum ex pervetusto codice Bibliothecae Palatinae Vaticanae, qui fuit olim eiusdem monasterii wies zahlreiche Mängel auf, die zu großer Verwirrung in der Forschung geführt haben:

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Mai durchsetzte eine stark gekürzte Fassung des Katalogs Ca an ihm sinnvoll erscheinenden Stellen mit Einträgen aus den Katalogen A und B. Anschließend gliederte er das Ergebnis in 63 von ihm selbst zusammengestellte Kapitel mit zum Teil fiktiven Überschriften, innerhalb derer er die Werke mit arabischen Ziffern durchzählte. Diese überaus mangelhafte »Edition« wurde dann 1885 von Gustav Heinrich Becker in das Corpus der Catalogi bibliothecarum antiqui 3 aufgenommen, wodurch ihr unglücklicherweise eine weite Verbreitung zuteil wurde. Der Eindruck, es sei lediglich ein einziger Katalog der Lorscher Bibliothek überliefert, festigte sich in der Forschungswelt, obwohl schon August Wilmanns 1868 drei Kataloge unterschieden hatte (allerdings nur Auszüge daraus edierte). 4

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Die Dreizahl behielt dann Theodor Gottlieb in seinem Werk Über mittelalterliche Bibliotheken 1890 bei. 5 Erst seit den Untersuchungen Bernhard Bischoffs (1964) und Chaucey E. Finchs (1968) ist bekannt, dass vier separate Kataloge der Lorscher Bibliothek existieren, davon eben drei im Pal. lat. 1877 und einer im Pal. lat. 57.

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Die Edition der vier Kataloge (zusammen mit dem Heilrat-Katalog) durch Angelika Häse schließt die Diskussion um Anzahl und Charakter der Lorscher Bibliothekskataloge nun wohl endgültig ab und macht für viele Untersuchungen eine Konsultierung der Originalhandschriften entbehrlich, zumal der ausführlichen und dennoch pointiert und stringent zusammengefassten Einführung in die Geschichte der Lorscher Bibliothek und die Editionsgeschichte der Kataloge detaillierte Beschreibungen der Handschriften einschließlich einer paläographischen Untersuchung der verschiedenen Schreiberhände folgen (S. 53–174).

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Doch die Beschreibungen vermitteln nicht nur eine genaue Vorstellung von Aufbau, Zustand und optischer Erscheinung der Handschriften: Die Analyse ihrer Materialität bringt Häse auch zu Erkenntnissen über Funktion und Verwendung der Kataloge. So folgert sie unter anderem aus der unregelmäßigen Lagenordnung und der kontinuierlichen Ergänzung von Katalog A, dass es sich hierbei um eine Art Handexemplar des Bibliothekars handelt, wohingegen bei Katalog C regelmäßiger Lagenaufbau, sorgfältige Planung, umfassende Ausführlichkeit in der Darstellung der Manuskripte sowie geübte Schreiberhände auffallen. Dies zusammen mit der Umordnung einiger Titel innerhalb des Katalogs (gegenüber seinen Vorgängern A und B) lässt Häse auf eine Neuordnung der Bibliothek schließen, die zu einer erneuten Inventarisierung des Büchergutes führte.

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Eine den Beschreibungen der Handschriften entsprechende Sorgfalt lässt Angelika Häse bei der Edition der Kataloge walten. Zunächst legt sie ihre Editionskriterien sehr genau dar (S. 78–81): Grundsätzlich orientiert sie sich an den Richtlinien, die Theodor Gottlieb für die Reihe der Mittelalterlichen Bibliothekskataloge Österreichs (MBKÖ) entworfen und Paul Lehmann für die Mittelalterlichen Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz (MBK) übernommen und weiterentwickelt hat. Von diesen Grundsätzen weicht sie nur ab, um kodikologische Einheiten in den Katalogen durch kursiv gesetzte Nummern voneinander zu scheiden; auf diese Weise kann die Edition mit dem angeschlossenen Kommentar verzahnt werden. Durch die Gliederung des Editionstextes will sie das Bild der Handschrift widerspiegeln, indem sie bis auf wenige Ausnahmen darauf verzichtet, selbst größere Sinnabschnitte zu bilden, und auch mit dem Instrument der Emendierung sehr vorsichtig umgeht.

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Eine wahre Fundgrube an Informationen bietet nicht zuletzt der Kommentar, der (von der Textmenge her) den größten Teil der Arbeit Häses bildet (S. 175–339). In ihm identifiziert sie die Werke, die in den Katalogeinträgen beschrieben werden (jedes Werk erhält eine laufende Nummer). Soweit den kodikologischen Einheiten eine erhaltene Handschrift zuzuordnen ist, gibt sie den heutigen Aufbewahrungsort und Signatur an. Diese Information liefert sie sogar bei Handschriften, die das im Katalogeintrag genannte Werk zwar enthalten, dem Eintrag jedoch nachweislich nicht zugrunde lagen (z.B. bei Handschriften, die später als die Kataloge entstanden sind). Zudem wird die Position der Einheit in den vorangehenden Editionen (Mai, Becker, Wilmanns) vermerkt. Die Ausgabe Beckers wird zudem durch eine Konkordanz mit dem Kommentar in Bezug gesetzt.

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Dem Aufbau des Kommentars ist Katalog C als der am ausführlichsten gestaltete und wohl auch einzige vollständige zugrunde gelegt (zur Gestaltung des Kommentars siehe Häses einführende Worte S. 175f.). Ist ein Werk zudem in Katalog A, B oder D eingetragen, so ist in der Kopfzeile des Kommentareintrags die entsprechende Nummer aus der Edition beigefügt, ansonsten wird mit einem »-« das Fehlen vermerkt. In Konkordanzen (S. 340–345) sind den Kommentar-Einträgen die Nummern in den Editionen von A, B und D gegenübergestellt. Das Sondergut der Kataloge A und B sowie das Bücherverzeichnis des Gerward (Katalog Cb) schließen den Kommentar ab (S. 328–339), wodurch der Leser einen Überblick über die Handschriften erhält, die zur Zeit der Entstehung von Katalog Ca in Lorsch schon nicht mehr vorhanden waren.

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Zur Identifizierung eines Werkes dienen Häse neben Autor, Titel und gegebenenfalls Abschnitt besonders bei hagiographischen und patristischen Schriften auch die Repertorien von BHL 6 , CPL 7 , CPG 8 , Stegmüller 9 und Manitius 10 . Neben der zitierfähigen kritischen Edition eines Werkes wird auch die jeweilige Ausgabe in Jean-Paul Mignes Patrologia Latina bzw. Graeca als einer weit verbreiteten »Sammelstelle« (S. 176) vermerkt.

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Die Kommentareinträge schließen mit kurzen Bemerkungen zu orthographischen, grammatikalischen oder inhaltlichen Besonderheiten des jeweiligen Katalogeintrags und mit Querverweisen bei Mehrfachüberlieferungen eines Werkes in den Katalogen.

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Im Anschluss an Edition, Kommentar und Konkordanzen der vier Bibliothekskataloge folgt noch eine kurze Darstellung zur Liste der Bücher Heilrats (S. 347–357), die sich in einer den Hauptabschnitten von Häses Untersuchung entsprechender Form und Genauigkeit präsentiert.

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Eine kurze Zusammenfassung (S. 359–363), in der Häse nochmals die Besonderheiten und die daraus zu schließenden Funktionen der einzelnen Bibliothekskataloge resümiert, rundet ihr Werk ab, bevor man zu einem ausführlichen Literaturverzeichnis (S. 366–390) und zu den Registern (Autoren und Werke sowie Handschriften, S. 391–417) gelangt, die das Buch auch für einen raschen Zugriff mit gezielter Fragestellung erschließen und zu einem Nachschlagewerk für frühmittelalterliche Kultur am Mittelrhein machen.

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Die Untersuchung Häses mit Edition und Kommentar stellt damit eine ideale Ergänzung zu dem bahnbrechenden Werk Bischoffs über die erhaltenen Lorscher Handschriften dar, denn sie beschreibt den Zustand der Bibliothek in ihrer Glanzzeit, was aufgrund der Arbeit Bischoffs allein noch nicht möglich war. Damit gibt sie nicht nur der Handschriftenkunde und Bibliotheksgeschichte, sondern auch der Forschung zum frühmittelalterlichen Lorsch und zur karolingischen Bildungsreform und ihren Voraussetzungen eine nicht zu unterschätzende Basis.

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So können wir nun die Aussage Karl Löfflers aus dem Jahr 1922 (»Eine befriedigende Ausgabe der Kataloge fehlt noch.«) 11 getrost ad acta legen.


Dr. Astrid Krüger
Stadtarchiv Bad Homburg vor der Höhe im Gotischen Haus
Tannenwaldweg 102
DE - 61350 Bad Homburg vor der Höhe

Ins Netz gestellt am 23.03.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserer Fachreferentin Dr. Bettina Wagner. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer.

Empfohlene Zitierweise:

Astrid Krüger: Eine Lücke geschlossen - die erste umfassende kritische Edition der Lorscher Bibliothekskataloge. (Rezension über: Angelika Häse: Mittelalterliche Bücherverzeichnisse aus Kloster Lorsch. Einleitung, Edition und Kommentar. Wiesbaden: Harrassowitz 2002.)
In: IASLonline [23.03.2004]
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Anmerkungen

Vgl. Johannes Duft: Die Klosterbibliotheken von Lorsch und St. Gallen als Quellen mittelalterlicher Bildungsgeschichte. In: Heinrich Büttner / Johannes Duft (Hg.): Lorsch und St. Gallen in der Frühzeit. Konstanz / Stuttgart 1965, S. 37f. und Bernhard Bischoff, Die Abtei Lorsch im Spiegel ihrer Handschriften. Lorsch 2. Aufl. 1989, S. 17.   zurück
Angelo Mai: Breviarium codicum monasterii S. Nazarii in Laurissa seu Laureshamensis ad Rhenum. In: Spicilegium Romanum 5 (1841), S. 161–200.   zurück
Catalogi bibliothecarum antiqui, collegit Gustavus Becker. I. Catalogi saeculo XIII vetustiores. II. Catalogus catalogorum posterioris aetatis. Bonn 1885.   zurück
August Wilmanns: Der Katalog der Lorscher Klosterbibliothek aus dem 10. Jahrhundert. In: Rheinisches Museum für Philologie 23 (1868), S. 392–408. Häse zur fehlenden Durchsetzung von Wilmanns’ Erkenntnissen: »Die Ausführungen von Wilmanns konnten die durch Mai und Becker geweckten Vorstellungen über die Lorscher Bibliothekskataloge nicht nachhaltig revidieren.« (S. 9).   zurück
Theodor Gottlieb: Über mittelalterliche Bibliotheken. Leipzig 1890 (Neudr. Graz 1955).   zurück
Bibliotheca Hagiographica Latina antiquae et mediae aetatis, ediderunt Socii Bollandiani. Brüssel 1898 / 1901 (Bde. 1 und 2), 1911 (Suppl.), 1986 (Novum Suppl.).   zurück
Clavis Patrum Latinorum, qua in Corpus Christianorum edendum optimas quasque scriptorum recensiones a Tertulliano ad Bedam commode recludit Eligius Dekkers, opera usus qua rem praeparavit et iuvit Aemilius Gaar, editio tertia aucta et emendata. Steenbrügge 1995.   zurück
Clavis Patrum Graecorum, cura et studio Mauritii Geerard (et Fancisci Glorie). 5 Bde. Turnhout 1974–1987.   zurück
Repertorium biblicum medii aevi, collegit, disposuit, edidit Fridericus Stegmüller. 11 Bde. Madrid 1950–1980.   zurück
10 
Max Manitius: Philologisches aus alten Bibliothekskatalogen (bis 1300) (Rheinisches Museum für Philologie NF 47, Ergänzungsheft). Frankfurt / M. 1892; Max Manitius: Geschichtliches aus mittelalterlichen Bibliothekskatalogen. In: Neues Archiv 32 (1907), S. 647–709 und Neues Archiv 36 (1911), S. 755–774 und Max Manitius: Handschriften antiker Autoren in mittelalterlichen Bibliothekskatalogen (Zentralblatt für Bibliothekswesen Beiheft 67) Leipzig 1935.   zurück
11 
Karl Löffler: Deutsche Klosterbibliotheken (Bücherei der Kultur und Geschichte 27) Bonn / Leipzig 2. Aufl. 1922, S. 286, Anm. 239, vgl. Häse S. 10.   zurück