Albrecht Classen

Bibliothekskultur Nürnbergs
als Grundlage einer Weltkultur




  • Renate Jürgensen: Bibliotheca norica. Patrizier und Gelehrtenbibliotheken in Nürnberg zwischen Mittelalter und Aufklärung. (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 43) Wiesbaden: Harrassowitz 2002. 2075 S. Gebunden. EUR 158,00.
    ISBN: 3-447-04540-X.


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Nürnberg gehörte schon seit dem hohen Mittelalter zu den führenden Städten des deutschen Reiches und genoss bis in die Gegenwart hinein den Ruf, nicht nur eine entscheidende Stellung auf dem Gebiet des Handwerks und des internationalen Handels einzunehmen, sondern besaß auch Ansehen für den hohen Bildungsstand, der dort gepflegt wurde.

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In ihrer wahrhaft monumentalen Arbeit über die Geschichte der Gelehrtenbibliotheken in Nürnberg (in beiden Bänden erscheinen insgesamt 13 540 Fußnoten!) entwickelt Renate Jürgensen eine äußerst wertvolle Datenbank, die weit reichende Einblicke in das intellektuelle Niveau, die Interessenlage und den Kenntnisstand vor allem der führenden Gelehrten Nürnbergs vermittelt, zugleich aber auch umfangreiche Einsichten in die europaweiten Kontakte und Diskussionen gestattet, die von Nürnberg aus mit Gelehrten in vielen Ländern der alten Welt gepflegt und geführt wurden. Die Bedingungen dafür waren sehr günstig, denn Nürnberg besaß ausgezeichnete Handelsbeziehungen in alle Himmelsrichtungen, und die Kaufleute brachten von überall her Bücher mit sich bzw. transportierten sie von Nürnberg, wo stets bedeutende Drucker und Verlagshäuser angesiedelt waren, zu allen größeren und kleineren Wirtschaftszentren und Buchmärkten in Europa.

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Obwohl sich die Autorin vornehmlich auf sechs große Bibliothekssammlungen stützt und diese auf das genaueste nach ihren inhaltlichen Beständen, Herkunftsorten, geschichtlichen Werdegängen und nach ihrer kulturgeschichtlichen Aussagekraft überprüft, vergisst sie nicht, zumindest eingangs einen breiteren Überblick der bibliothekarischen Gesamtsituation in Nürnberg zu bieten, die sie vom Spätmittelalter bis zum 19. Jahrhundert nachzeichnet. Insoweit aber der Schwerpunkt nicht auf den öffentlichen oder kirchlichen Bibliotheken ruht, sondern auf denjenigen von Privatpersonen, vermag Jürgensen eine zusätzliche Erkenntnisstufe zu erklimmen, die neues Licht auf die Buchgeschichte Nürnbergs wirft.

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Ein differenziertes Bild des Nürnberger Geisteslebens

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Unabhängig von jeglicher Zensur gelang es diesen Gelehrten, große, zugleich aber doch recht individuell angelegte Sammlungen aufzubauen, die erheblich mehr über das intellektuell-kulturelle Klima in der Stadt auszusagen in der Lage sind als so manche Chroniken oder andere Dokumente.

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Zwei kleine Beispiele können dies schlaglichtartig illustrieren. Obwohl sich Nürnberg frühzeitig der protestantischen Reformation anschloss, blieb das Interesse an katholischer Literatur gewahrt, wenn auch gewiss nicht auf einem so hohen Niveau wie in eindeutig katholisch orientierten Städten. Das andere Beispiel betrifft das Verhältnis zwischen der jüdischen Minderheit, die 1498 / 1499 aus Nürnberg vertrieben wurde, und der christlichen Gemeinschaft. Obwohl der Antisemitismus in der breiten Öffentlichkeit gefährliche Ausmaße angenommen hatte, blieb gerade unter der intellektuellen Elite ein hohes Interesse an hebräischer Literatur bestehen. Zwar half dies den Juden in keiner Weise, macht uns aber darauf aufmerksam, wie sehr wir insbesondere hinsichtlich der Geschichte der Juden im Spätmittelalter sehr differenziert vorgehen müssen, bevor wir etwa eine ganze Gemeinde oder eine Landschaft kollektiv des Antisemitismus bezichtigen.

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Einzelanalysen und Gesamtperspektive

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Die Autorin warnt uns zu Recht davor, angesichts der sehr beeindruckenden Privatbibliotheken von einem generell hohen Bildungsstand in der Stadt auszugehen, denn im Wesentlichen handelte es sich nur um einige wenige Persönlichkeiten, die ein wahrhaftes Interesse an den Wissenschaften, der gelehrten und der schöngeistigen Literatur, an Sprachen und der Theologie zeigten. Dennoch dient die hier vorliegende Untersuchung vorzüglich dazu, die erstaunliche Weltoffenheit dieser Büchersammler, ihren Wissenstand und ihre Bemühungen um neue Bücheranschaffungen anhand von konkreten Beispielen kritisch zu überprüfen. Allerdings besteht immer wieder das Problem, dass die heute noch überlieferten Bücherkataloge bei weitem nicht ein völlig akkurates Bild von den tatsächlichen Bibliotheksbeständen bieten, denn sie berichten nicht über Verkäufe oder Verluste von Büchern noch zu Lebzeiten der Sammler. Es handelt sich also, wie Jürgensen selbst betont, um einen »Näherungswert« (S. 78), der aber mittels einer genauen Einzelanalyse selbst derjenigen Bücher erzielt wird, deren Autoren unbekannt sind oder kaum Anerkennung genießen.

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Die Gefahr besteht allerdings darin, dass anhand der Masse von ca. 70 000 hier berücksichtigten Büchern der Blick auf das Gesamtkonzept einer Bibliothek doch wieder verloren gehen könnte. Trotzdem erweist sich der Versuch, anstatt bloß quantitative Daten zusammenzustellen, einen detaillierten Eindruck vom konkreten Sammelbestand innerhalb einer Bibliothek zu gewinnen, doch als fruchtbringend, weil es Jürgensen gelingt, den Bildungsstand, die persönlichen Interessen, die Offenheit bestimmten Themen gegenüber und die Beziehungen der Sammler zu Kollegen, Buchhändlern, und Gelehrten in aller Welt herauszuarbeiten.

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Die Autorin konzentriert sich auf die folgenden Sammlerpersönlichkeiten: Hieronymus Paumgartner der Ältere (1498–1565), Hieronymus Paumgartner der Jüngere (1538–1602), Johann Michael Dilherr (1604–1669 [nur das Geburtsdatum wird hier angegeben, das Todesdatum taucht ganz versteckt erst auf S. 291 auf]), Christoph Arnold (1627–1685) und Andreas Arnold (1665–1694 [Bibliotheca Arnoldiana]), Adam Rudolph Solger (1693–1770 [Todesdatum hier nicht genannt, obwohl ansonsten die meisten Nebenfiguren präzise datiert werden]).

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Die Bibliotheken von Ebner und Murr

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Im zweiten Band verlagert sich Jürgensens Schwerpunkt weg von den einzelnen Privatsammlern hin zu zwei großen Sammlungen, die über die Jahrhunderte hinweg zusammengetragen, erweitert und ergänzt wurden. Hieronymus Wilhelm Ebner von Eschenbach (1673–1752 [Daten hier nicht genannt]) hatte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Grundlagen für die Bibliotheca Ebneriana gelegt, die sich wiederum auf viele kleinere Sammlungen stützte. Einblick in diese Bibliothek gewinnt man heute noch durch den zwischen 1812 und 1819 gedruckten fünfbändigen Katalog, den die Autorin sorgfältig auf seine Bestandteile hin überprüft. Dabei handelt es sich freilich um 18 512 Titel, womit sofort deutlich wird, wie schwierig das von ihr angepeilte Unterfangen gewesen ist, obwohl man von vornherein gleich zugestehen darf, dass Jürgensen ihrer Aufgabe durchaus gerecht geworden ist. Die Bibliotheca Ebneriana gliedert sich – das sei hier einmal beispielhaft aufgeführt – in die folgenden Themenabschnitte:

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1. Lexika, Studien über das Anlegen von Bibliotheken, Bücher über die bildenden Künste, Arbeiten über die Antike, Kuriositäten und Naturalien;

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2. Bücher über die Geschichte Nürnbergs, die Familiengeschichte der Ebner und Imhoff, das Heilige Römische Reich Deutscher Nationen, den Kaiser etc.;

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3. Bücher über die Geschichte Europas;

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4. über die Republiken und Städte Europas;

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5. über die Kriegsgeschichte Europas;

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6. über das Christentum in Europa;

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7. Geographie;

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8. das Schulwesen;

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9. die griechische und römische Literatur in der Antike;

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10. pragmatische Literatur bzw. Sachliteratur;

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11. Bücher über die Welt des Adels.

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Die zweite große Bibliothekssammlung wurde von Christoph Gottlieb von Murr (1733–1811) zusammengetragen, der, wie der biographische Abriss klar vor Augen führt, eine intensive internationale Korrespondenz führte und insbesondere Briefe mit katholischen Gelehrten, speziell aus dem Jesuitenorden, wechselte, was ihn dem Verdacht des Kryptokatholizismus aussetzte. Auch hinsichtlich der umfangreichen Buchbestände im Besitz von Murrs bemüht sich die Autorin, systematisch die einzelnen Themenbereiche zu analysieren und die speziellen Schwerpunkte von von Murrs Interessen herauszuarbeiten. Dazu gehören die Geschichte, die orientalischen Buchreligionen, Philologie und Poesie, Philosophie, Rechts- und Staatslehre, die Naturwissenschaften und Musik.

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Nürnberg – quasi centrum Europae

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Wirklich interessant wird es aber erst dort, wo Jürgensen ihre riesigen Dateien auszuwerten beginnt und die Aussagen der großen Sammlungen hinsichtlich der intellektuellen Stellung Nürnbergs innerhalb der Kulturgeschichte Europas herauskristallisiert. So fällt stark ins Auge, wie international breit gestreut die Druckorte derjenigen Bücher waren, die sich in den Nürnberger Sammlungen finden. Zugleich flossen aber auch aus dem ganzen Reich, aus dem Elsass, der Schweiz etc. Bücher nach Nürnberg, während österreichische Druckereien nur ganz selten vertreten sind. Hierbei stützt sich die Autorin vor allem auf die Publikation Bibliotheca Norica von Georg Andreas Will, deren erster Band 1772 erschienen war (letzter Band erschien 1793), und kann auf dieser Grundlage die wesentlichen Schwerpunkte des bibliophilen Interesses in Nürnberg systematisch erfassen.

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Wenn man freilich bedenkt, mit welcher Masse an Material die Autorin zu kämpfen hatte, fragt man sich, wieso sie überhaupt den Versuch unternommen hat, dieses Unternehmen in einem narrativen Rahmen anzugehen, wenn doch schlichte Listen und Tabellen manchmal erheblich mehr Aussagekraft besessen hätten. Im Epilog gelingt es ihr hingegen viel besser, eine kritische Auswertung der Nürnberger Bibliotheksbestände über die Jahrhunderte hinweg durchzuführen und darzulegen, wieso wir gerade anhand der großen Büchersammlungen die Schlussfolgerung ziehen können, dass Nürnberg tatsächlich eines der wichtigsten Zentren der europäischen Kulturgeschichte vom Mittelalter bis zur Neuzeit gewesen ist.

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Nürnberg befand sich, wie sich anhand der Bibliothekskataloge ergibt, nicht nur im Mittelpunkt des europäischen Buchhandels, sondern vermittelte offensichtlich entscheidend zwischen Katholizismus und Protestantismus. Unklar bleibt jedoch, welchen Einfluss die deutschsprachige Literatur auf das kulturelle Leben in Nürnberg gewonnen hatte, denn selbst die wichtigsten Autoren wie Hans Sachs, Paul Rebhuhn oder Johann Beer scheinen nur sehr wenig in den Bibliotheken der Gelehrten vertreten gewesen zu sein. Das große Aufsehen, dass z.B. Argula von Grumbach auch in Nürnberg mit ihren Reformationsschriften erregte (1522–1523), hatte offensichtlich in diesen wichtigen Sammlungen keinen Niederschlag gefunden.

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Auswertung und Präsentation der Quellen

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Den Abschluss bilden umfangreiche Verzeichnisse der Auktions- und Verlagskataloge und die verschiedenen Literaturverzeichnisse. Das Namensregister ganz am Ende erweist sich als ein unabdingbares Hilfsmittel, um diesen Riesenberg an bibliothekarischen Informationen überhaupt erst einmal annähernd zu erfassen. Ärgerlich wirkt, dass Jürgensen zwar in hunderten, wenn nicht tausenden von Fällen genauestens die Lebensdaten von Autoren oder individuellen Persönlichkeiten angibt, aber gerade bei den großen Sammlern diese manchmal nur teilweise oder gar nicht anführt.

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Unerfindlicherweise scheint im Abschnitt zu von Murrs Bibliothek eine größere Lücke aufzutreten, denn der Gelehrte gab selbst eine Reihe von wichtigen Reiseberichten jesuitischer Missionare in Mexico, speziell in Sonora (heute auch Arizona) heraus, die hier nicht genannt werden. Zwar erwähnt Jürgensen die von Johann Jakob (nicht »Jacques« – erst in der Fußnote korrigiert) Baegert veröffentlichten und von von Murr herausgegebenen Nachrichten von der amerikanischen Halbinsel Californien (1772; nicht 1773, was das Datum der Zweitauflage ist!), kennt aber nicht die wichtige zweibändige Arbeit, ebenfalls von Murr herausgegeben, Nachrichten von verschiedenen Ländern des spanischen Amerikas (1808–1811), worin z.B. der Reisebericht Joseph Ochs enthalten ist.

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Ebenso fehlen z.B. Cristóbal Claderas Investigaciones históricas sobre los principales descubrimientos de los españoles en el mar oceano en el siglo xv. y principios del XVI. En respuesta a la Memoria de mr. Otto sobre el verdadero descubridor de América (Madrid 1794), die von von Murr ediert worden waren. Dazu fehlt ein Hinweis auf Ignaz Köglers Versuch einer Geschichte der Juden in China: nebst P. Ignaz Köglers Beschreibung ihrer heiligen Bücher in der Synagoge zu Kai-fong-fu: und einem Anhange über das Pentateuch, 1806 von von Murr in Halle herausgegeben. Zwar vermerkt die Autorin von Murrs Übersetzung des chinesischen Romans (hier aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt) Haoh Kjöh Tschwen (1766), wieso fehlt dann aber der vorhergehende Titel? Es dürfte unwahrscheinlich sein, dass von Murr seine eigenen Publikationen nur teilweise in die eigene Bibliothek aufgenommen haben sollte. Möglich wäre natürlich, dass diese Bücher zum Zeitpunkt der Versteigerung der von Murrschen Bibliothek nicht mehr dort vorhanden waren.

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Damit deuten sich also eine Reihe von Problemen an, die einerseits von Jürgensen wahrscheinlich gar nicht wahrgenommen wurden, andererseits mit ihrer Darstellungsmethode zusammenhängen. So sehr man sich auch über die qualitative Beschreibung der einzelnen Bibliotheksbestände freut, so merkt man am Ende doch, wie unhandlich die narrative Darstellung ist. Sehr störend wirkt zudem die unterschiedliche Schriftgröße für die Lebensdaten der erwähnten Autoren, manchmal der Buchtitel und dann sogar — noch kleiner gedruckt — der Angaben, in welchen Bibliotheken einzelne Titel heute lagern mitsamt ihren Signaturen.

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Dennoch muss man der Autorin uneingeschränktes Lob dafür aussprechen, eine so gigantische Arbeit allein durchgeführt zu haben und einen nicht zu überschätzenden Einblick in die Geistes- und Kulturgeschichte Nürnberg entwickelt zu haben.


Prof. Dr. Albrecht Classen
University of Arizona
Dept. of German Studies
301 Learning Services Building
US - AZ 85721 Tucson

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Ins Netz gestellt am 28.02.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserer Fachreferentin Dr. Bettina Wagner. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer.

Empfohlene Zitierweise:

Albrecht Classen: Bibliothekskultur Nürnbergs als Grundlage einer Weltkultur. (Rezension über: Renate Jürgensen: Bibliotheca norica. Patrizier und Gelehrtenbibliotheken in Nürnberg zwischen Mittelalter und Aufklärung. Wiesbaden: Harrassowitz 2002.)
In: IASLonline [28.02.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=748>
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