Albrecht Classen

Endzeiterwartung in der ältesten deutschen Papierhandschrift




  • Christoph Gerhardt / Nigel F. Palmer (Hg.): Das Münchner Gedicht von den fünfzehn Zeichen vor dem Jüngsten Gericht. Nach der Handschrift der Bayerischen Staatsbibliothek Cgm 717. Edition und Kommentar. (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 41) Berlin: Erich Schmidt 2002. 172 S. Kartoniert. EUR 29,80.
    ISBN: 3-503-06131-2.


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Die Handschrift

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Bis vor gar nicht so langer Zeit haben noch Mediävisten in einer uns heute unvorstellbaren Weise bei der Edition von mittelalterlichen Texten radikal in die Handschriften eingegriffen und diese so umgestaltet, dass der Text den Idealen des Normal-Mittelhochdeutschen entsprach, nicht aber in seiner authentischen Gestalt, Sprache und Struktur anerkannt wurde. Dies war u.a. der Fall bei Maurers Ausgabe der Lieder Walthers von der Vogelweide und Pretzels Ausgabe von Mauritius von Craûn (so der jetzige Titel), und so auch in der Edition des Münchener Gedichts von den fünfzehn Zeichen durch Eggers. Christoph Gerhardt und Nigel Palmer legen nun eine Neuedition vor, die zum einen so überlieferungsnah wie möglich gestaltet ist, zum anderen den Sitz im Leben dieses Gedichts genauer ins Auge nimmt. Sehr begrüßenswerter Weise haben die zwei Herausgeber bloß eine Interpunktion eingeführt und die meisten offensichtlichen Fehler, die als Textverderbnis anzusehen sind, lediglich markiert und dann in den Anmerkungen erläutert bzw. verbessert. Dies scheint mir der einzig richtige Weg zu sein, um eine mittelalterliche Handschrift mit der nötigen Sensibilität und dem zu erwartenden Respekt zu behandeln.

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Formale Aspekte
und inhaltliche Auslegung

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Wesentliche Fragen an das Gedicht wurden bisher noch nicht zufriedenstellend beantwortet, so etwa hinsichtlich der Datierung, zur geistesgeschichtlichen Einordnung und zur Individualität des Münchener Gedichts. Gerhardt und Palmer betonen daher zunächst, dass es sich beim Cgm 717 »um die älteste bekannte datierte Papierhandschrift in deutscher Sprache« (S. 27) handelt und dass der Schreiber sein Werk wohl im November 1347 abschloss und im folgenden Jahr weitere Texte in diese Handschrift eintrug. Für eine überzeugende Datierung ist es notwendig, den Kontext in den Blick zu nehmen und zu fragen, wieweit das Münchener Gedicht inhaltlich in Beziehung zu den anderen Dichtungen steht. Diese fallen durchweg, soweit es sich heute noch bestimmen lässt, etwa in die Mitte des 14. Jahrhunderts, was eine gleichartige Datierung für unseren Text als wahrscheinlich erscheinen lässt, wenn auch der zwingende Beweis damit noch nicht gegeben ist.

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Gerhardt und Palmer machen auf das erstaunliche Phänomen aufmerksam, dass der Schreiber sogar eine Prosafassung dieses Gedichts in die gleiche Handschrift aufgenommen hat und diese Fassung mit einem Pseudo-Hieronymus-Zitat (»sive comedam sive bibam« bzw. »ich esse oder ich trinke«) abschloss. Dieses Zitat findet sich noch häufiger in der zeitgenössischen Literatur, die hier separat aufgelistet wird (S. 36–38), aber damit ist nicht viel für die angestrebte Neudatierung des Textes gegeben, findet sich das Zitat ja auch in so frühen Texten wie Hugos von Trimberg Der Renner.

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Anschließend beschreiben die Herausgeber den Inhalt der anderen Dichtungen in dieser Handschrift, die nur von einem Schreiber geschaffen worden sein kann, der offenkundig aus Augsburg stammte und wohl im Kreis der Augsburger Kaufleute zu finden sein dürfte – vor allem weil er anstelle von Pergament, wie es in den städtischen Kanzleien üblich war, Papier als Beschreibstoff verwendete. Dem entspricht die religiöse Einstellung, die in den ebenfalls in die Handschrift eingetragenen Gebeten bzw. meditativen Texten zum Ausdruck kommt. Weiterhin machen Gerhardt und Palmer auf bemerkenswerte Parallelen zu anderen Kompilatoren in Südwestdeutschland aufmerksam (Michael de Leone, Heinrich von Nördlingen, Rulman Merswin), die gleichermaßen recht bunt gemischte Handschriften zusammenstellten.

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Noch gewichtiger erscheint aber ihre Argumentation, dass das von ihnen behandelte eschatologische Gedicht mühelos in den Kontext des Jahres 1348 eingereiht werden könnte, als Augsburg von einem Judenpogrom (22. Nov.) erschüttert wurde und die Bevölkerung in ihrer Verzweiflung wegen der Pest alles daransetzte, die Juden zum Christentum zu bekehren, andernfalls sie schlichtweg erschlug, um den eigenen, vermeintlich von Gott herbeigeführten Untergang zu verhindern. Dies besagt jedoch nicht unbedingt, dass deswegen das Münchener Gedicht auch um diese Zeit entstanden sein muss, vielmehr kann der Schreiber schlicht erkannt haben, wie sehr dieser Text (wieder?) in seinen Kontext passte. Trotzdem wird man dazu neigen, sich den Argumenten Gerhardts und Palmers anzuschließen, selbst wenn der zwingende Beweis weiterhin fehlt: Die Handschrift ist, »vereinfacht ausgedrückt, Ausdruck typischer kollektiver Verhaltensweisen in Pestzeiten und Ausdruck der Gotteserwartung, die stets aktuell war« (S. 58).

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Lateinische Vorläufer
und Individualität des Textes

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Wie das vierte Kapitel deutlich macht, besitzt die handschriftliche Fassung der Fünfzehn Zeichen eine Reihe von Vorgängern in lateinischer Sprache, die hier teilweise abgedruckt werden. Dazu gehören die Pseudo-Beda-Fassung (ca. 820, zahlreich überliefert seit dem 12. Jahrhundert), die Epistola de die iudicii von Petrus Damiani (1007–1072), die leicht veränderte Fassung des Pseudo-Beda-Textes durch Petrus Comestor in seiner zwischen 1169 und 1173 verfassten Historia scholastica, eine Fassung von Jacobus de Voragine in seiner Legenda aurea und viele weitere Fassungen aus anderer Hand (z.B. Antequam judicii dies metuenda und Die redenden Zeichen). Trotz dieser reichen Tradition erweist sich aber das Münchener Gedicht von den fünfzehn Zeichen als eine durchaus individuell gestaltete Version, die eigenständige literarhistorische Qualitäten besitzt.

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Kommentar

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Der wichtigste Teil dieses Buches besteht aber, abgesehen von der Textedition, in einer sehr sorgfältig durchgeführten Kommentierung, die sowohl aus sprachhistorischen Analysen als auch aus theologischen und literarischen Interpretationen besteht. Besonders beeindruckend macht sich bemerkbar, wie breit die zwei Herausgeber den literarhistorischen Horizont abgesucht haben, um wichtige Parallelen, sprachliche Erklärungen, neue Auslegungen und alternative Lesungen vorzustellen. Hier gehen sie auch detailliert auf die bisherige Forschung ein, die sie kritisch begutachten und soweit zu Rate ziehen, wie es geboten scheint. Gerhardt und Palmer distanzieren sich insbesondere von den Deutungen Eggers und weisen oftmals seine Konjekturen zurück, womit sie erneut auf den authentischen Wert der Handschrift aufmerksam machen.

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Für bedauerlich halte ich hingegen ihre Entscheidung, die bibliographischen Angaben der von ihnen konsultierten Literatur überwiegend in den Kommentar aufzunehmen, während die Bibliographie am Ende nur diejenigen Titel enthält, die mehrfach zitiert worden sind. Diese Entscheidung bedeutet auch, dass die einleitende Untersuchung etwas schwer lesbar geworden ist, weil der Text fortwährend durch bibliographische Angaben gestört wird. Zumindest Fußnoten wären hier eher angebracht gewesen. Zudem lassen sich spezielle Titel nicht schnell mittels der Bibliographie aufzuspüren.

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Anhang

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In einem sehr zu begrüßenden Anhang führen die Herausgeber diejenigen Texte in der deutschen Literaturgeschichte an, die durch die Zahl 15 irgendwie bestimmt sind, d.h. meistens Andachtstexte, Gebete, didaktische Texte, Meisterlieder, satirische Texte, Reimpaarsprüche und Passionstexte. Weiterhin bieten Gerhardt und Palmer eine Liste der deutschen und niederländischen Überlieferungen der 15 Zeichen vor dem Jüngsten Gericht, womit deutlich ins Auge springt, welche große Beliebtheit diese Dichtung mindestens bis ins 16. Jahrhundert genoss.

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Insgesamt gesehen handelt es sich hier um eine sehr solide, breit fundierte und den modernsten Anforderungen an eine Textedition entsprechende Ausgabe des Münchener Gedichts von den 15 Zeichen.


Prof. Dr. Albrecht Classen
University of Arizona
Dept. of German Studies
301 Learning Services Building
US - AZ 85721 Tucson

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Ins Netz gestellt am 24.03.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserer Fachreferentin Dr. Bettina Wagner. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Albrecht Classen: Endzeiterwartung in der ältesten deutschen Papierhandschrift. (Rezension über: Christoph Gerhardt / Nigel F. Palmer (Hg.): Das Münchner Gedicht von den fünfzehn Zeichen vor dem Jüngsten Gericht. Nach der Handschrift der Bayerischen Staatsbibliothek Cgm 717. Edition und Kommentar. Berlin: Erich Schmidt 2002.)
In: IASLonline [24.03.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=749>
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