Eva Parra Membrives

Auf der Suche nach den
verlorenen Schreiberinnen




  • Katrin Graf: Bildnisse schreibender Frauen im Mittelalter. 9. bis Anfang 13. Jahrhundert. Basel: Schwabe & Co. 2002. 125 Abb., 60 in Farbe. 386 S. Gebunden. EUR 68,50.
    ISBN: 3-7965-1589-4.


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Nachdem schon in den späten achtziger Jahren Gnüg und Möhrmann 1 und auch Brinker-Gabler, 2 unter anderen, 3 zur Genüge darauf hingewiesen hatten, dass die von Frauen im Mittelalter verfasste Literatur sehr weit über die vielzitierten Werke der Roswitha von Gandersheim und Hildegard von Bingen hinaus reichen konnte, hat sich die akademische Welt in der Folge zunehmend dafür interessiert, in den eher dürftigen bis heute erhaltenen Quellen neue, bisher unbekannte, weibliche Namen zu entdecken, die mit schriftstellerischer Tätigkeit in Verbindung gebracht werden können. 4 Ungeachtet dessen, ob es sich hierbei tatsächlich um schöpferische, literarisch orientierte Tätigkeiten handelt, oder nur um die Dokumentation des Schreibens mächtiger Frauen, haben sich nicht wenige wissenschaftliche Forschungen in den letzten Jahren damit beschäftigt, der Frau in der literarischen Produktion und Textverarbeitung eine entscheidende Rolle einzuräumen. Bildnisse schreibender Frauen im Mittelalter kann zweifelsohne ebenfalls als eine der in dieser Forschungsrichtung abgefassten Untersuchungen verstanden werden, hebt sich aufgrund seiner überraschend innovativen Perspektive aber entschieden von anderen Arbeiten aus diesem Themenbereich ab. Bei der Suche nach diesen lange Zeit in Vergessenheit geratenen Schreiberinnen stützt sich Katrin Graf nunmehr nicht auf in Schrift umgesetzte Textbeispiele, sondern entscheidet sich für eine kunsthistorische Perspektive, die sich ikonographischen Bildnissen zuwendet.

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Die Schwierigkeiten, die die Autorin bei diesem Anliegen auf sich genommen hat, sind ihr selbst bewusst, und nicht nur die mangelhafte Bibliographie zu diesem Thema, sondern auch die von ihr als »frappierend« (S. 17) beurteilte Absenz von Bildnissen schreibender Frauen in dem am besten dokumentierten Bereich, nämlich in den Klöstern, zeigt sich als nicht zu unterschätzendes Hindernis für das Gelingen ihres Projektes. Das dennoch umfangreiche, sehr detaillierte von Graf zusammengetragene Korpus muss daher als besonders wertvoll eingeschätzt werden, dies um so mehr, da der Verlag Schwabe & Co sich dankenswerterweise dazu entschließen konnte,
60 von den 125 analysierten und gedruckten Bildnissen den Lesern in Farbe zu präsentieren. Obwohl selbstverständlich kein Anspruch auf Vollständigkeit besteht, wird diese umfangreiche Sammlung von Bildnissen der mit Schreibutensilien oder Schriftstücken abgebildeten Frauen der mittelalterlichen Periode doch als ein wissenschaftliches Novum angesehen werden müssen.

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Das ambitionierte Ziel der Autorin ist ein dreifaches. Beginnend mit der Ikonographie unbekannter, von der Kritik bisher nicht als Scheiberinnen oder gar als Schriftstellerinnen identifizierter Frauen (S.17–82), widmet sich die Studie anschließend der Analyse der Bildnisse von zwei so herausragenden Namen wie Hildegard von Bingen und Baudonivia von Poitiers (S.83–190). Der dritte Teil (S.191–264) beschäftigt sich mit den Sybillen, »den einzigen göttlich inspirierten Autorinnen der Antike« (S. 264).

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Frauen und Bücher im Bild

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Der erste, wahrscheinlich aus einer frauenforschungsgeschichtlichen Sicht attraktivste Teil des Werkes beobachtet mit großer Sorgfalt die Darstellung von Frauenfiguren sowohl in illustrierten Handschriften als auch in der Bildhauerei. Haltung, Position und Form der Darstellungen werden genauestens untersucht und gelegentlich auch mit männlichen Schreiberbildnissen verglichen. Die von Graf dabei vermeintlich entdeckten »definitiven« Beweise für weibliche Schreibtätigkeit klingen jedoch nicht immer gänzlich überzeugend. Wo sie darauf besteht, dass ein weiblicher Name für die Autorschaft eines bestimmten Textes nicht ausgeschlossen werden kann, weil nichts deutlich gegen diese These spricht (S. 57), finden sich andererseits aber auch keine eindeutigen Zeichen, die dieselbe unwiderlegbar bestätigen könnten. So scheint es doch einigermaßen riskant, wenn nicht sogar allzu weit hergeholt, aus der Darstellung eines offenen Buches in den Händen einer weiblichen Figur sowie deren zum Teil fast intimen Nähe zu einer gelehrten Autorität direkt darauf zu schliessen, dass hiermit eine bisher unbekannte weibliche Künstlerin entdeckt worden ist. Die Autorin hat diese stellenweisen Schwächen ihrer These selbst erkannt, und versucht sie daher durch Einschränkungen zu retten: »ein historischer Beweis meiner Hypothese ist indessen letztlich wohl kaum zu erbringen« (S. 34). Dass die von Graf zitierten Frauen als potentielle Buchherstellerinnen, Autorinnen oder Schreiberinnen in Betracht kommen könnten, kann zugegebenermaßen nicht von der Hand gewiesen werden.

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Portraits von Autorinnen

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Wesentlich breiter angelegt ist der zweite Teil dieses Bandes mit einer sehr sorgfältigen Untersuchung der verschiedenen Hildegard- und Baudonivia-Bildnisse. Bei der zwischen weiblichem und männlichem Schaffen differenzierenden Untersuchung der ikonographischen Darstellungen kann Graf eine höhere unmittelbare Kreativität und fast exklusive Individualität bei Frauendarstellungen feststellen, die sich von der bei männlichen Schreibern üblichen traditio stark unterscheidet. Die auctoritas, die den beiden oben benannten Schreiberinnen als »Empfänger der göttlichen Wahrheit« zukommt, kann Graf diesmal überzeugend anhand der Ikonographie sowie auch der schriftstellerischen Tätigkeit beider untermauern. Grafs Kühnheit erschöpft sich im ersten Teil ihrer Arbeit, denn ihre vorläufigen Schlussfolgerungen auf Seite 176 enttäuschen nunmehr ein wenig aufgrund ihrer extremen Vorsicht und Knappheit. Dies wird jedoch am Ende ihrer Studie (S. 262) kompensiert.

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Bildnisse der Sybillen

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Als Ergänzung, fast Anhang kann der dritte Teil dieser Arbeit betrachtet werden, der sich Bildnissen der Sybillen widmet, insofern diese Figuren in der Kunst mit Schreibutensilien abgebildet wurden. Mit Hilfe der Sybillen, die seit der Antike als Symbol der weiblichen Gelehrtheit aufgefasst wurden, soll in diesem letzten Teil des Buches der Beweis für weibliches literarisches Schaffen geliefert werden. Dass Frauen nicht als Randgruppe im Bildungsleben oder als schriftstellerische Ausnahmefälle angesehen werden dürfen, wird hier mit großer Sorgfalt gezeigt. Organisatorisch gesehen wäre allerdings dieser eigentlich in die weibliche literarische Tätigkeit einführende Teil vielleicht besser gleich zu Anfang gesetzt worden, da er als Ausgangspunkt für den Nachweis der Existenz mittelalterlichen Frauenschrifttums doch viel mehr Interesse verdient, denn als zuletzt noch beiläufig hinzugefügtes Argument.

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Neue Bilder, neue Fragen

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Trotz einiger nicht gänzlich überzeugender Thesen ist der Wert dieser Studie dennoch unübersehbar. Die Auswertung von bisher in der akademischen Welt nicht in Betracht gezogenem Material wirft neue, hochinteressante Fragen auf. Die nicht ganz gelungenen Aspekte der Arbeit entschuldigt man angesichts ihres Pioniercharakters gerne. Nicht vergessen werden sollte, dass hier ein völlig neues Feld für die literarische Frauenforschung beschritten wird.


Prof. Dr. Eva Parra Membrives
Universidad de Sevilla
Departamento de Filología Alemana
Palos de la Frontera s/n
ES - 41004 Sevilla

Ins Netz gestellt am 30.03.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserer Fachreferentin Dr. Bettina Wagner. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.

Empfohlene Zitierweise:

Eva Parra Membrives: Auf der Suche nach den verlorenen Schreiberinnen. (Rezension über: Katrin Graf: Bildnisse schreibender Frauen im Mittelalter. 9. bis Anfang 13. Jahrhundert. Basel: Schwabe & Co. 2002.)
In: IASLonline [30.03.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=758>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Hiltrud Gnüg, Renate Möhrmann: Frauen-Literatur-Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Stuttgart: Metzler 1985.   zurück
Gisela Brinker-Gabler: Deutsche Literatur von Frauen, München: Beck 1988. Lesley Smith: Women and the book. Assessing the visual evidence. London: British Library, 1996; Peter Dronke: Women writers in the Middle Ages. A critical study of texts from Perpetua († 203) to Marguerite Porete († 1310). Cambridge: Cambridge University Press 1984.    zurück
Siehe auch Katharina M. Wilson: Medieval Woman Writers. Manchester: Manchester University Press 1984   zurück
So z.B. Albrecht Classen: Woman as protagonists and poets in the German Middle Ages. An anthology of feminist approaches to Middle High German Literature. Göppingen: Kümmerle 1991; Ders.: Frauen in der deutschen Literaturgeschichte. Die ersten 800 Jahre. Ein Lesebuch. Frankfurt / M.: Lang 2000; Eva Parra Membrives: Mundos femeninos emancipados. reconstrucción teórico-empírica de una propuesta literaria femenina en la Edad Media alemana. Zaragoza: Anubar 1998.   zurück