Nikolaus Lohse

Blick zurück nach vorn




  • Uwe Heckmann: Die Sammlung Boisserée. Konzeption und Rezeptionsgeschichte einer romantischen Kunstsammlung zwischen 1804 und 1827. (Neuzeit und Gegenwart. Philosophie in Wissenschaft und Gesellschaft) München: Wilhelm Fink 2003. 405 S. Kartoniert. EUR 35,90.
    ISBN: 3-7705-3766-1.


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Die anzuzeigende, zunächst als Marburger Dissertation verfaßte Publikation widmet sich einem für die Geschichte der Kunstgeschichte durchaus zentralen, von der Forschung aber lange vernachlässigten Gegenstand. Seit der grundlegenden Beschreibung und Bestandsaufnahme der Sammlung von Tafelbildern des späten 13. bis frühen 16. Jahrhunderts, vornehmlich kölnischer und niederrheinischer Provenienz, durch Eduard Firmenich-Richartz aus dem Jahre 1916 1 ist zwar regelmäßig auf deren Bedeutung für die Wiederentdeckung der altdeutschen Malerei ebenso wie für die Entwicklung moderner musealer Präsentationsformen hingewiesen worden, eine fundierte Gesamtdarstellung hat es aber nicht wieder gegeben – erst recht keine, die auch die zeitgenössische Rezeptionsgeschichte als eigenen Schwerpunkt einbezieht.

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In jüngster Zeit ist allerdings ein verstärktes Interesse an der romantischen Kunstsammlung zu beobachten (ablesbar auch an der großen Kölner Ausstellung zur lokalen Sammlungsgeschichte von 1995 / 96 2 ), wobei die Publikationen, insbesondere ein von Annemarie Gethmann-Siefert und Otto Pöggeler herausgegebener Sammelband (1995) 3 , den Blick gezielt auf die Programmatik, das heißt auf den historisch-wissenschaftlichen Anspruch einerseits und die weltanschaulich-kunstpolitischen Implikationen andererseits gelenkt haben. Daran knüpft die vorliegende umfangreiche Studie an und schließt, oder besser: verkleinert, eine erhebliche Forschungslücke. Sie tut dies – um das Ergebnis vorwegzunehmen – auf eine solide und zuverlässige, in der Darstellung etwas üppig-ausladende, dafür in der Wertung sympathisch zurückhaltende Weise. Daß sie dabei fast ausschließlich referierend und über weite Strecken zitierend verfährt, liegt in der Natur der Sache und unterstreicht den Charakter des Buches als Quellenstudie.

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Entsprechend der doppelten Themenstellung gliedert sich der Band in zwei Teile: Im ersten geht es um die Konzeption der Sammlung, ihre programmatische Ausrichtung, der zweite, umfangreichere, behandelt die Rezeptionsgeschichte von 1804, dem Jahr des ersten Ankaufs, bis zum Jahre 1827, in dem Ludwig I. von Bayern die Sammlung für die Münchner Alte Pinakothek erworben hat, deren Kernbestand sie heute noch darstellt.

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Die Kunstauffassung der
Brüder Boisserée

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Das Stichwort ›Konzeption‹ ist weit gefaßt. Darunter fällt zunächst die Bildungsgeschichte der Brüder Boisserée, beginnend im Köln der 1790er Jahre (seit 1794 unter französischer Besatzung). Ausführlich werden die frühen literarischen und kunsttheoretischen Einflüsse im Spannungsfeld von Aufklärung, Klassizismus und früher Romantik (Wackenroder, Tieck; Goethes Kunstzeitschrift Propyläen und Schlegels Europa) dargestellt, die Begeisterung für die altdeutsche Kunst und die ersten Anfänge des Dom-Projekts, die Freundschaft mit Johann Baptist Bertram und die gemeinsame große Reise nach Paris (1803 / 04), dort der von Bertram vermittelte, für alles Weitere so eminent wichtige persönliche Kontakt mit Friedrich Schlegel, zugleich der unmittelbare Eindruck der Kunstsammlungen des Louvre mit ihrem neuartigen, bewußt rationalen, das heißt stil- und entwicklungsgeschichtlich ausgerichteten Hängeprinzip (anstelle der ahistorischen, eher geschmacksbetonten Präsentation der älteren feudalen Sammlungen).

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Nachhaltig prägend sind vor allem die Pariser, dann in Köln fortgesetzten literarhistorischen und philosophischen Vorlesungen Schlegels, die, nicht zuletzt auf die Brüder Boisserée und Bertram hin berechnet, den ästhetischen Gegenständen einen starken nationalen Akzent und vor allem eine religiöse Überhöhung geben, indem sie die formalästhetischen Kriterien des Klassizismus durch den sakralen Gehalt der Werke konterkarieren. Der neuen romantischen Doktrin gilt fortan nicht mehr der (an der Antike orientierte) ideale Gestaltungswille als Maßstab, sondern die Offenbarungsqualität des Kunstwerks.

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Damit ist der Grund gelegt für Sulpiz Boisserées eigene Kunstanschauung, die im folgenden Kapitel aus Briefen und Tagebüchern rekonstruiert und unter vier Gesichtspunkten gefaßt wird: dem Verhältnis von Kunst und Religion, letztere als treibende Kraft und leitendes Motiv aller künstlerischen Hervorbringung; entsprechend dem Künstler als »Gefäß Gottes«, der mit religiösem Enthusiasmus ans Werk geht und in ihm sein »künstlerisches Priestertum« feiert (S. 63); dem Begriff der Schönheit, die zwischen Idee und Form vermittelt und im Ebenmaß, in Einheit und Fülle stets das Numinose zur Erscheinung bringt; schließlich dem Kunstwerk selbst, in dem sich aus der »wechselseitigen Verspannung von Form und Gehalt, äußerer Gestaltung und innerer Bedeutung« (S. 70) heraus die göttliche Wahrheit ereignet. Überall stehen allgemeine und verallgemeinerbare künstlerische Prinzipien gleichsam unter religiöser Kuratel und dienen letztlich der Vermittlung eines transzendenten Horizontes, genauer: eines aus christlich-katholischer Perspektive wahrgenommenen Heilsgeschehens.

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Entstehung und Institutionalisierung
der Sammlung

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Die beiden nächsten Abschnitte rücken, nach dem langen Vorlauf, die Geschichte und die Institutionalisierung der Sammlung selbst in den Blick. Die politische Voraussetzung für das Zustandekommen dieser wie auch anderer zeitgleich entstehender Kollektionen schafft die nach dem Reichsdeputationshauptschluß von 1803 einsetzende neue Welle der Säkularisation. Damit werden plötzlich Kunstschätze aus geistlichem Besitz in einem Umfang und einer Qualität verfügbar, die heute unvorstellbar erscheint. Allein in Köln sind über 50 Kirchen und Kapellen davon betroffen. Es entwickelt sich ein schwunghafter Kunsthandel, den einige Interessenten mit großem Geschick und Sachverstand für sich zu nutzen wissen. (Neben den Boisserée-Brüdern ist es vor allem der Kölner Kanonikus Wallraf, der in jenen Jahren seine Sammlung komplettiert.)

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Aber erst die Tatsache, daß die politischen Vorgänge auf einen ideologisch so gut vorbereiteten und fruchtbaren Boden fallen, erklärt die Größe und Reichhaltigkeit der Kollektionen: Es sind das aufkommende historisch-nationale Bewußtsein, das Interesse an den »Vaterländischen Altertümern« (unter französischer Fremdherrschaft noch verstärkt) und die romantische Mittelalter-Begeisterung, die den Eifer der Sammler derart beflügeln. Sie verstehen ihre Tätigkeit durchaus als Rettungseinsatz für akut bedrohte Zeugnisse einer großen nationalen Kulturvergangenheit, zugleich als Chance, sie aus der Vergessenheit ans Licht zu holen, vor allem aber sehen sie die geborgenen Kunstschätze ganz aktuell als Bezugs- und Orientierungspunkte für eine säkular mehr und mehr aus den Fugen geratende Welt. In der altdeutschen bzw. altniederländischen Malerei spiegelt sich das idealisierte Bild eines glaubensstarken christlichen Mittelalters, das als in sich geschlossene, harmonische Einheit aufgefaßt und zur Kontrastepoche der eigenen Gegenwart stilisiert wird. Der Gegenstand ist Programm, und das Sammlerethos speist sich nicht zuletzt aus einem ausgeprägten Bildungs- und Sendungsbewußtsein. Das widerspricht keineswegs einem dezidiert wissenschaftlichen Interesse, das die verehrten Gegenstände historisch zu erforschen und eine gesicherte Faktenbasis für ihre Beurteilung zu gewinnen sucht.

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Die Erwerbspraxis konzentriert sich zunächst auf die heimische Region, greift aber bald schon auf den niederländisch-flämischen Raum aus. Das Angebot ist groß, die Preise sind niedrig, die Mittel beträchtlich, so daß bis zum Jahre 1817 mehr als 200 Gemälde zusammengetragen werden können. Durch genaue stilistische Vergleiche gelingt es, eine relative Chronologie der Werke zu erstellen und sie zu entwicklungsgeschichtlichen Reihen zu ordnen. Schon sehr zeitig (1805) führen die Beobachtungen zu der für die Kunstgeschichte so bedeutsamen Wiederentdeckung der altkölnischen Malerschule des 14. und frühen 15. Jahrhunderts, mit Stefan Lochner als ihrem Hauptmeister. Deren innerer Strukturierung und kunsthistorischen Einordnung gilt fortan die besondere Aufmerksamkeit der Sammler. Zum wichtigsten Bestimmungskriterium wird der Stilwandel von der idealisierenden, griechisch-byzantinischen Manier (der »allegorischen und symbolischen Kunstweise«, wie Boisserée sagt) hin zu einem ›realistischeren‹, am Prinzip der Naturnachahmung und individuellen Charakterisierung ausgerichteten Darstellungsduktus (Boisserée nennt ihn, mit Schlegel, »historisch und charakteristisch« [S. 91]), wie er sich besonders in den Werken der Brüder van Eyck manifestiert. In diesem tiefgreifenden Umbruch der malerischen Auffassung, so die übereinstimmende Sicht Schlegels und der Boisserées, setzt sich das spezifisch eigene, nationale Moment durch, die »altdeutsche« Malerei findet gewissermaßen zu sich selbst.

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Gewonnen werden die Befunde aber nicht nur aus sozusagen werkimmanenter Betrachtung; ganz bewußt bezieht Sulpiz Boisserée »alle externen Bedingungen der Kunstproduktion, die er [...] in sozial- und kulturhistorischen sowie geographisch-klimatischen und sittengeschichtlichen Faktoren gegeben sieht« (S. 92), mit ein, was sich in umfangreichen Materialsammlungen niederschlägt. Mit dem Versuch, geschichtliche Prozesse in ihrer Eigenart zu beschreiben und durch entsprechende Bildpräsentation sichtbar zu machen, setzt die Sammlung Boisserée das Schlegelsche Modell historisch-genetischen Verstehens präzise in die Praxis um und steht – ungeachtet zahlreicher Irrtümer in Datierungs- und Zuschreibungsfragen – am Beginn des wissenschaftlichen Historismus des 19. Jahrhunderts.

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Bald schon kommt es zu Spannungen innerhalb der Kölner ›Szene‹, die dem Wunsch nach ungehinderter öffentlicher Wirkung zuwiderlaufen. Die Brüder Boisserée verlassen die Stadt und ziehen mit ihrer Sammlung zunächst (1810) nach Heidelberg, wo der örtliche Romantikerkreis (Arnim, Brentano, Görres, Creuzer, Grimm) entsprechende Resonanz verspricht, später (1819), auf Betreiben des württembergischen Königshauses und schon im Hinblick auf einen möglichen Ankauf, nach Stuttgart. An beiden Orten entfaltet die Sammlung eine beträchtliche Wirkung und zieht zahlreiche prominente Besucher an; das Gästebuch verzeichnet in Heidelberg unter anderem die Namen Goethe, Humboldt, Grimm, Jean Paul, Aloys Hirt und Fürst Metternich, in Stuttgart vor allem bildende Künstler wie Dannecker, Schinkel, Cornelius, Thorvaldsen oder Canova. Gleichwohl scheitern die Übernahmeverhandlungen mit dem württembergischen König schließlich, so daß der Bayernkönig Ludwig I. die Option wahrnehmen kann. 1827 geht die Sammlung als, wie Sulpiz Boisserée schreibt, repräsentative Kollektion »deutscher Kunstgeschichte« und »deutscher Gesinnung« (S. 107) geschlossen nach München, wo sie bis zur Fertigstellung der Alten Pinakothek im Schloß Schleißheim untergebracht wird.

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Ausstellungspraxis und
Rezeptionsverhalten

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Im Schlußkapitel des ersten Teils wird das Boisseréesche Konzept nochmals unter den Stichworten der »präsentativen Kunstgeschichte« und des »Er-Lebensraumes« zusammengefaßt. Dem Anspruch der Sammlung, »gleichermaßen den Kunst- und den geschichtlichen Erinnerungswert« (S. 110) zu vermitteln, entspricht ein doppeltes Verfahren der Bildpräsentation, das zum einen, wissenschaftlich-(kunst)historisch, die stilgeschichtliche Periodisierung aufzeigt, zum andern die geradezu kultische Inszenierung einzelner Hauptwerke in speziellen Kabinetten betreibt.

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Letztere verortet der Verfasser zu Recht im Rahmen der allgemeinen Rationalismuskritik, die in der systematischen »Depotenzierung Gottes und der Religion« und der »Loslösung der menschlichen Belange von einer transzendenten Autorität« (S. 114) eine Bedrohung sieht, die sie insbesondere der zeitgenössischen Subjektphilosophie anlastet. Daß die Dinge philosophisch erheblich komplizierter liegen, beeinträchtigt nicht die Wirksamkeit des eingängigen Denkschemas. Mit dem entschlossenen Rückgriff auf die altdeutsche, insbesondere die vorreformatorische Malerei und ihrer Vorbild-Inszenierung für die gegenwärtige Kunstpraxis reagieren die Brüder Boisserée – ihrem Mentor Schlegel und vielen andern Zeitgenossen folgend – auf die angespannte geistige Problemlage der Jahre um 1800; zugleich aber zeigt die religiöse Überhöhung dieselbe merkwürdige Verengung des Blicks, wie sie auch Schlegels Wendung zum Katholizismus anhaftet. Statt die aufbrechende, in seinen Frühschriften, besonders den Athenäumsfragmenten noch voll reflektierte Spannung des modernen Bewußtseins auszuhalten, sucht man sie durch ein christliches Heilsversprechen zu kanalisieren.

[17] 

In der Ausstellungspraxis bedeutet das den »Versuch [...], die historische Distanz zwischen Bildwerk und Ausstellungsraum unmerklich zu machen« (S. 123) und so den Ausstellungsraum zum Andachtsraum umzufunktionieren – ein von seiten der Sammler ebenso ambitionierter wie im Grunde naiver Versuch. Zu Recht verweist der Verfasser an dieser Stelle auf Walter Benjamins Studien zum neuzeitlich gewandelten Verhältnis von Kult- und Ausstellungswert. Es ist gerade der Akt der authentischen, quellengestützten Zuschreibung, der das Bewußtsein für die Historizität der ausgestellten Zeugnisse schärft und den »Prozeß der Säkularisierung des Kultwerts« vorantreibt. Genau dies wird am Rezeptionsverhalten der Besucher ablesbar:

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Nicht mehr die religiöse Kontemplation herrscht hier vor, sondern der ästhetische Genuß. Das begutachtende Sehen und der stilkritische Kennerblick bestimmen weitgehend die Rezeption und verändern damit auch die betrachteten Gegenstände. (S. 125)
[19] 

Goethe hat diesen Vorgang (im 1. Heft von Über Kunst und Altertum, 1816) scharfsichtig beschrieben, wenn er die Bemühungen, den aus Gotteshäusern in Privatsammlungen verbrachten religiösen Reliquiaren einen passenden Rahmen zu schaffen, als den Versuch bezeichnet, »dem Geschmack zu erstatten, was der Frömmigkeit entrissen wurde«. Damit sind die Stichworte gegeben, unter denen die Rezeptionsgeschichte der Sammlung Boisserée im folgenden zweiten Hauptteil des Bandes dargestellt wird. Auch sie ist entscheidend geprägt von jenem »Oszillieren zwischen Kunst- und Kultwert«, von der »Ambivalenz von Kunst und Religion, ästhetischer und andächtiger Kontemplation« (S. 126), das heißt vom Ge- oder Mißlingen des Versuchs, religiöse Erfahrung ästhetisch zu vermitteln.

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Einleitend wird – unter Berufung auf einschlägige Positionen der neueren Rezeptionsforschung (Jauß, Mandelkow, Dilly, Kemp) – die Fragestellung dahingehend präzisiert, daß es nicht um eine chronikalische Auflistung geht, vielmehr um das dem Rezeptionsverhalten zugrundeliegende wahrnehmungsästhetische Problem, um die Frage also: Wie wirkt ein bestimmtes Bild, unter bestimmten Bedingungen, in einer bestimmten Zeit oder einem bestimmten Kontext, auf einen bestimmten (Typ von) Betrachter? Welche ›subkutanen‹ Faktoren steuern die Wahrnehmung und wie wirkt diese ihrerseits auf den Gegenstand zurück? Welches je spezifische Erkenntnisinteresse ist am Werk, konditioniert gewissermaßen den erkennenden Blick und konstituiert, im ganzen genommen, die Geschichte des Sehens?

[21] 

Auf dem Hintergrund dieser allgemeinen Fragestellung werden die zeitgenössischen Dokumente – die Liste umfaßt über 150 Titel ganz unterschiedlicher Art und Größe – nach Themengruppen aufgeteilt und in entsprechenden Kapiteln behandelt: Das erste gilt der Beschreibung der Sammlung als »ambientaler Kontext« (kein sehr glücklich gewählter Ausdruck!), das heißt der Inszenierung des Ausstellungsraumes und seiner Wahrnehmung als »Erkenntnisraum« oder »Kunsttempel«.

[22] 

Dann wird, auf mehr als 50 Seiten, der Prozeß der Kanonisierung des Schreibens über die Sammlung dargestellt, als Akt der Konsensbildung über einen bedeutenden Gegenstand nationalen und öffentlichen Interesses. Die Reihe beginnt mit den emphatischen Bildbeschreibungen zweier Dichterinnen, Helmine von Chézy und Amalie von Helvig, die (nicht eben zur Freude der Sammler) zunächst die Richtung vorgeben, führt über Goethes auf den ersten Blick wohlwollend-zustimmende, auf den zweiten aber durchaus kritisch akzentuierte Stellungnahme, über die methodisch reflektierteren Betrachtungen der Kunsthistoriker Ludwig Schorn, Gustav Friedrich Waagen und Johann David Passavant bis hin zum ersten Brockhauseintrag von 1817 und dem größeren (von den Boisserées selbst kontrollierten und mitverfaßten!) Artikel von Gustav Schwab in der Auflage von 1824 und schließlich bis zum ausführlichen (aber letztlich erfolglosen) Gutachten Karl Friedrich Schinkels im Auftrag des preußischen Staatskanzlers Fürst von Hardenberg, der ebenfalls den Ankauf der Sammlung erwogen hatte.

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Im Anschluß daran wird, gewissermaßen in umgekehrter Perspektive, die »Rhetorik der Bildbeschreibungsverfahren« analysiert, in denen die jeweiligen Bildauffassungen und Sehgewohnheiten zum Ausdruck kommen. Dies geschieht exemplarisch im Vergleich von Beschreibungen zweier herausragender Bilder der Sammlung: des »Schweißtuchs der heiligen Veronika« (um 1420) und des sogenannten »Columba-Altars« Rogier van der Weydens (damals noch fälschlich Jan van Eyck zugeschrieben, um 1455). Auch hier ergibt sich die spezifische Differenz zwischen »Bild-Meditation und Bild-Kritik« (S. 225), je nachdem, ob das Werk primär als religiöser Bedeutungsträger oder in künstlerisch-formaler Hinsicht behandelt wird. Selbst in der umfassenden Beschreibung des »Columba-Altars« durch Ludwig Schorn (1820) fallen beide Aspekte auseinander, so daß der Verfasser das Resümee zieht:

[24] 
Kunst und Religion blieb nur im Werk vermittelt, nicht aber in seiner Beschreibung. Im Blick auf die ›Kunstarbeit‹ verlor sich das veranschaulichte ›heilige Leben‹ und in der Versenkung in den religiösen Gehalt blieb vor lauter sprachlich beschworener Andacht die Kunst unberücksichtigt. (S. 225)
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Es folgt eine systematische Ausdifferenzierung der unterschiedlichen »Betrachtertypen« mit ihren spezifischen Wahrnehmungs- und Bewertungsmustern, die, je nach Lokalisierung »zwischen Empathie und Distanz«, zwischen andächtiger Hingabe und methodischer Reflexion, ganz unterschiedliche Diskursformen in der Auseinandersetzung mit den Bildwerken hervorbringen. Sie werden unterteilt in »Empathiker« (besonders die schöngeistigen Literaten oder Liebhaber), »Techniker und Ästheten« (wie Stieler, von Dillis, Waiblinger, Carus) und »Historiker« (Schorn, Schinkel, Waagen).

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Goethe als Modellfall:
Antike oder Mittelalter, Ästhetik oder Religion?

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Letzteren wird auch Goethe zugerechnet, obwohl seine am Maßstab der idealen Komposition ausgerichteten und durchaus normativ vertretenen Beurteilungskriterien ihn ebenso gut für die mittlere Gruppe qualifiziert hätten. Die Brüder Boisserée hatten Goethe nach der ersten Begegnung von 1811 intensiv umworben und versucht, ihn als öffentlichen Propagator zu gewinnen. Das Ergebnis der Bemühungen, der 1816 in Über Kunst und Altertum erschienene Sammlungsbericht, fiel dann allerdings nicht ganz so affirmativ aus, wie sie erhofft hatten. Durch neuere Untersuchungen, insbesondere durch Ernst Osterkamps eindringliche Analyse des Textes 4 , ist gleichsam der ›Sub-Text‹ wieder herausgearbeitet worden, mit dem Goethe auf Distanz zum romantischen Bildprogramm der Boisserées geht und zugleich seinen »impliziten Gegner« Friedrich Schlegel attackiert. Man muß den Blick vielleicht nicht ganz so scharf wie Osterkamp auf das Tendenziöse von Goethes Beschreibungen richten und sein gleichwohl freundliches Interesse an der Sammlung als taktisches Manöver auffassen, mit dem er die Boisseréesche Konzeption in seinem Sinn umfunktioniert. Aber an der tiefen Kluft zwischen seiner antik-klassizistischen, aber eben auch trocken-akademischen und der neuen, religiös-erweckten romantischen Kunstauffassung (die sich natürlich ihrerseits der mittelalterlichen Bilder bedient und sich an ihnen zu profilieren sucht) führt kein Weg vorbei.

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Ein weiteres umfangreiches Kapitel ist der »kunsthistorischen Stilcharakteristik und künstlerischen Rezeption« gewidmet und befaßt sich zum einen mit der Herausbildung verbindlicher, auch begrifflich abgesicherter Stilkriterien im Beschreibungsverfahren, zum andern mit dem direkten Einfluß der Bilder auf die zeitgenössische Kunstpraxis (so bei Rottmann, Bury, Begas, den »Nazarenern« Cornelius und Overbeck, aber auch bei Bildhauern wie Thorvaldsen, Dannecker oder Rauch). Die Auseinandersetzung entzündet sich am Problem der Mustergültigkeit, also der Vorbildfunktion der ursprünglich »heiligen«, dem sakralen Raum vorbehaltenen Kunst für die eigene Gegenwart, und die Positionen prallen mitunter hart aufeinander (besonders deutlich in Johann Heinrich Meyers, von Goethe mitgetragener Polemik gegen die »neudeutsche religiös-patriotische Kunst«).

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Von hier aus wird abschließend, unter der Überschrift »Kunstgeschichte als ›Erinnerungsraum‹«, die Perspektive wieder erweitert und die in den Dokumenten ständig durchschlagende, für das Selbstverständnis der Epoche so wichtige Frage nach dem verbindlichen Leit-Paradigma aufgegriffen: klassische Antike oder christliches Mittelalter, Italianità oder Germanisch-Eigenes, Renaissance oder Romantik. Zwischen diesen Polen bewegen sich die ästhetischen Möglichkeiten der Zeit, die in den Rezeptionszeugnissen der Sammlung Boisserée wie in einem Brennglas aufscheinen.

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Fazit

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Im ganzen handelt es sich bei dem Buch um eine beachtliche Arbeit von bleibendem Wert. Der Anspruch des Verfassers besteht nicht nur in der Erschließung und Auswertung der zahlreichen Quellen, sondern auch darin, Dokumentation und Kommentar möglichst eng miteinander zu verzahnen und den Leser so durch das reiche Faktenmaterial zu führen, daß er auch im Blick aufs Detail stets das Ganze vor Augen hat. Über weite Strecken gelingt das, nicht zuletzt dank der wiederholten Zusammenfassungen und Zwischenbilanzen, auf sehr respektable Weise; mitunter allerdings, besonders im zweiten Teil, scheint der Autor selbst etwas in der Materialfülle zu versinken. Zwar erleichtert die sorgfältig ausgefeilte Gliederung die Orientierung, andererseits stellt die permanente Verschiebung des Blickwinkels (Beschreibung, Beschreibungsverfahren, Betrachtertypen, Bewertungskriterien) für den Leser schon eine gewisse Herausforderung dar, zumal die unterschiedlichen Aspekte vielfach an denselben Texten festgemacht werden und auch das kategoriale Grundmuster (›heilig‹ oder ›nüchtern‹) beständig wiederkehrt. Hier wäre eine Überdifferenzierung vermeidbar und etwas weniger mehr gewesen.

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Das sind aber geringe Einwände gegenüber dem Verdienst des Buches, die erste deutsche Spezialsammlung zur mittelalterlichen Tafelmalerei, fast genau 200 Jahre nach ihrem Entstehen, wieder in den Blick gerückt und zugleich einen wichtigen und vielschichtigen ästhetischen Diskurs der späten Goethezeit in all seinen Facetten rekonstruiert zu haben.


Dr. Nikolaus Lohse
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
Goethe-Wörterbuch
Jägerstr. 22-23
DE - 10117 Berlin

Ins Netz gestellt am 01.06.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten PD Dr. Bernd Hamacher. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Nikolaus Lohse: Blick zurück nach vorn. (Rezension über: Uwe Heckmann: Die Sammlung Boisserée. Konzeption und Rezeptionsgeschichte einer romantischen Kunstsammlung zwischen 1804 und 1827. München: Wilhelm Fink 2003.)
In: IASLonline [01.06.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=763>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Eduard Firmenich-Richartz: Sulpiz und Melchior Boisserée als Kunstsammler. Ein Beitrag zur Geschichte der Romantik. Jena 1916.   zurück
Lust und Verlust. Kölner Sammler zwischen Trikolore und Preußenadler. Josef-Haubrich-Kunsthalle, Köln 1995 / 96. Dazu der Katalog, hg. von Hiltrud Kier und Frank Günter Zehnder.   zurück
Annemarie Gethmann-Siefert / Otto Pöggeler (Hg.): Kunst als Kulturgut. Die Bildersammlung der Brüder Boisserée – ein Schritt in der Begründung des Museums. Bonn 1995.   zurück
Ernst Osterkamp: Im Buchstabenbilde. Studien zum Verfahren Goethescher Bildbeschreibungen. Stuttgart 1991, Kap. VI.   zurück