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Literarhistorischer Problemfall

  • Michael Titzmann (Hg.): Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 92) Tübingen: Max Niemeyer 2002. 505 S. Kartoniert. EUR (D) 88,00.
    ISBN: 3-484-35092-X.
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Konjunktur und doch: kein Konsens. Nirgends.

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Die Vormärzforschung hat seit einigen Jahren wieder Konjunktur, nachdem die durch Friedrich Sengles umstrittenes opus magnum Biedermeierzeit in den 1970er Jahren entfachte heftige Debatte um die Epochentypologie zwischenzeitlich wieder abgeflacht war. Großen Anteil an der Wiederbelebung des Diskurses hat das Bielefelder Forum Vormärz Forschung seit Mitte der 90er Jahre. 1

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Gleichwohl gibt es keinen literaturwissenschaftlichen Konsens darüber, wie die Epoche zwischen Goethezeit und Realismus am treffendsten zu benennen ist, ob nun als Restaurationsepoche, Vormärz, Junges Deutschland, oder ob gar noch Binnendifferenzierungen in Proto- oder Frührealismus innerhalb einer gut drei Jahrzehnte dauernden Phase in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sinnvoll oder angezeigt sind. Dass die Beschreibung synchroner Ausdifferenzierung und diachronen Wandels in der Literatur in dieser Phase etwa zwischen 1820 und 1850 zwar keine konsensfähige Epochenbezeichnung zeitigt, gleichwohl aber spannende epochentypische Merkmale zu Tage fördert, zeigt nun ein umfangreicher und – um ein kleines Fazit vorweg zu nehmen – überaus anregender Sammelband von Michael Titzmann.

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Die zwanzig Beiträge samt einer Einleitung des Herausgebers sind, so Titzmann, die Ergebnisse eines Passauer Kolloquiums und eines DFG-geförderten Forschungsprojekts zum »Wandel der Konzeption der ›Person‹ und ihrer ›Psyche‹ in der Erzählliteratur von der späten Goethezeit zum Realismus« (S. 4).

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Synchrone und diachrone Transformationen

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In seinem Problemaufriss (S. 1–7) umschreibt der Herausgeber knapp und luzide die (Un)Schärfen der Begriffe »Goethezeit«, »Biedermeier« und »Realismus«, von denen keiner »in der germanistischen Literaturgeschichtsschreibung als selbstverständlich konsensfähig gelten« (S. 1) kann. Gleichwohl können sie zu »hypothetische[n] Periodisierungen« (S. 4) herangezogen werden, insofern sie »im interpretatorisch-literarhistorischen Rekonstruktionsprozeß« (S. 4) Merkmalzuschreibungen erlauben. Nur dann aber werden sie zu Begriffen. Damit einhergehend gelte es zu analysieren, ob die synchronen und diachronen Ausdifferenzierungen, die sich in der Literatur dieser Übergangsepoche »Biedermeier« finden lassen, unter einem übergreifenden, eigenständigen »Literatursystem Biedermeier« zu beschreiben sind. Zugleich sollen die Beiträge der Frage nachgehen, »[w]elche (interepochalen) Transformationsprozesse […] im Übergang zwischen Goethezeit und Biedermeier bzw. zwischen Biedermeier und Realismus statt[finden] und welche (intraepochalen) Transformationen […] sich innerhalb der Epoche selbst [vollziehen]« (S. 5).

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Gegliedert ist der bibliografisch exzellent aufbereitete Kolloquiumsband in drei ungleich gewichtete Abteilungen, die erstens sieben Aufsätze umfassen, die die Phase »von der Goethezeit zum Biedermeier« (S. 9–211) behandeln, die zweitens vier Beiträge zur Zeit des »Biedermeier« (S. 213–282) versammeln und die schließlich drittens neun Abhandlungen aus der Zeitspanne »vom Biedermeier zum Realismus« (S. 283–495) beinhalten.

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Von der Goethezeit zum Biedermeier

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Horst Thomé eröffnet die erste Abteilung auf hohem Niveau mit einer instruktiven Arbeit über »Platens Venedig-Sonette im Hinblick auf die Römischen Elegien Goethes« (S. 11–38), wobei er, wie der Untertitel verrät, den »historischen Ort des ›Biedermeier-Ästhetizismus‹« fokussiert, ohne jedoch eine biedermeierspezifische Repräsentativität der Venedig-Sonette zu unterstellen. Als Replik auf die Römischen Elegien verstanden, kann Platens Text, so die vorweggenommene These, »als Distanzierung von Grundpositionen der Ästhetik Goethes gedeutet werden« (S. 11). »Kunstgegenstände« (vgl. S. 33) werden im einen wie im anderen Fall ausgelegt – allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass das Ich bei Platen »den ›Lebensspuren‹ einer Geschichte [begegnet], mit der es sich identifiziert« (S. 33), während es »in den Römischen Elegien auf die (eigene) Natur stößt« (S. 33). Mit knappen Verweisen auf Mörikes elegischen Zyklus Bilder aus Bebenhausen, auf Wilhelm Waiblingers Dichtungen aus Italien, Stifters Nachsommer oder etwa C.F. Meyers Der Römische Brunnen zieht Thomé die Linie einer »Integration des historischen Wissenskontextes« (S. 33) in Texten aus der Biedermeierzeit aus und bietet stichhaltige Anhaltspunkte dafür, dass die Venedig-Sonette in dieser Hinsicht durchaus spezifisch für Texte aus der Zeit des Biedermeier sind.

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Nicht weniger luzide gelingt der Versuch von Martin Lindner, unter dem etwas sperrigen Titel »›Noch einmal‹: Das tiefenpsychologische und künstlerische Konservieren der Erinnerung an den ›Liebesfrühling‹ in Liebeslyrik-Zyklen 1820 bis 1860« den Wandel der Liebeslyrik von der Goethezeit bis zum Realismus zu beschreiben, wobei er explizit der Konvergenz von »Vormärz« und »Biedermeier« das Wort redet (vgl. S. 42) und zugleich Kennzeichen der Biedermeier-Lyrik namhaft macht: so finden sich in der Lyrik der Zeit »Merkmale, die gemeinhin vage mit dem literarischen ›Biedermeier‹ assoziiert werden« (S. 42), wie »Desillusion, doppelmoralisches Nebeneinander von Unschulds-Kult und der Faszination verbotener Erotik, der Gebrauch von populären Topoi und standardisierten Metaphern« (S. 42). Lindner zieht daraus das Fazit: »Politisch progressive Dichter gehen hier nicht nur von ähnlichen poetologischen Ansätzen, sondern auch von ähnlichen ideologischen Denkfiguren aus wie ihre konservativeren Kollegen« (S. 42), so dass auch der Umkehrschluss gilt: »Ein guter Teil der ›konservativen‹ Dichtung ist gar nicht so affirmativ und idyllisch, wie das hergebrachte ›Biedermeier‹-Klischee es will.« (S. 42) Gleichwohl gilt auch seine Feststellung: »Sobald die biedermeierliche Liebessemantik, die die Zyklen systematisch entwickeln, in Lyrik ihre feste Funktion im seelischen Haushalt der bürgerlichen Kultur gefunden hat, büßt sie auch ihr künstlerisches Potential ein.« (S. 74)

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Daran anschließend untersucht Christian Begemann »nach Art einer Luftaufnahme« (S. 79) »Kunst und Liebe« als ein »ästhetisches Produktionsmythologem zwischen Klassik und Realismus« (S. 79–112). Auch Begemann nimmt eingehend Goethes Römische Elegien in den Blick, denn sie »etablieren [nicht nur] das Bild einer kreativen Konstellation, das von größter Reichweite sein wird, [sondern] ziehen darin als einer der frühesten literarischen Texte die Summe eines produktionsästhetischen Umbruchs.« (S. 82) Knapp skizziert: Gilt das »vielbeschworene Liebesbegehren« (S. 90) in den Elegien, »[a]usgelöst von der Frau«, der »Kunst selbst« (S. 90), wonach das »prekäre Mängelwesen Weib« (S. 91) – wie besonders in den Brautbriefen Kleists deutlich wird –»der ›Bildung‹ durch den Mann [bedarf], um von diesem geliebt werden zu können« (S. 91), so beschreibt Adam Müllers Wort von der »monologische[n] Liebe« (S. 94) das »Kalkül mit der Sehnsucht« (S. 92–96) in der Romantik treffend:

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Die Liebe muß unerfüllt bleiben nicht im Sinne eines haushälterischen Umgangs mit »Zeit, Kraft und Besinnung«, die für die künstlerische Arbeit gespart werden müssen, es handelt sich vielmehr darum, den Liebesaffekt im Interesse der Produktion von Sehnsucht zu stauen. Daß die körperliche Begegnung mit der Idealgeliebten unterbleiben soll, hat die Funktion, jede Entzauberung des imaginativen Bildes von ihr zu vermeiden, die Autarkie also einer Imagination zu bewahren, die zwar von außen stimuliert und mit Bildmaterial beliefert werden muß, dann aber ausschließlich in sich selbst kreist, um jenen Vorschein des Höheren zu produzieren. (S. 94)
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Klassische und romantische »Kunst-Liebe-Mythologem[e]« (S. 96) bilden die Folie der »Künstlergeschichten der Biedermeierzeit« (S. 96), wobei das Charakteristische sei, wie Begemann mit Blick auf Stifters Der Condor und Mörikes Maler Nolten betont, dass Kunst nur insofern aus der Liebe hervorgehe, »als sie diese verarbeitet, ja wegarbeitet« (S. 98). Schließlich treten neben »das klassisch-romantische Muster eines wie auch immer begründeten Kunstzölibats« im Biedermeier »Formen seiner Aushöhlung, Relativierung oder Umkehrung« (S. 105), wie Begemann anhand weniger bekannter Texte wie Mundts Madelon oder die Romantiker in Paris (1832), Gaudys Das Modell (1838) oder Seidls Kunst und Liebe (1841) erörtert.

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Dem Motiv der »erotischen Entsagung«, einem Denkmodell des gesamten 19. Jahrhunderts, geht Wolfgang Lukas in erzählerischen Texten »von der späten Goethezeit zum frühen Realismus« (S. 113–149) nach. Lukas macht seine These plausibel, dass sich im Biedermeier »ein spezifisches Modell der Entsagung entwickelt, das sich erst um ca. 1820 formiert und in den 50er Jahren wieder ausläuft« (S. 113). Vor allem zwischen 1830 und 1850 erscheine das ursprünglich positiv besetzte, weil notwendige Modell der Entsagung »für die optimale Entfaltung und Autonomwerdung der Person« (S. 118) zunehmend »als resignative Verlustgeschichte« (S. 130), während in Erzähltexten des frühen Realismus, etwa in Theodor Storms Immensee (1850 bzw. 2. Fassung 1851) oder Otto Ludwigs Zwischen Himmel und Erde (1856), eine latente Sexualisierung (vgl. S. 138 ff.) feststellbar sei. Die damit einhergehende Moralisierung löse schließlich das differenzierte Modell von Entsagung von Klassik und Romantik ab. Es werden, so das Fazit von Lukas, in erster Linie nur noch »Geschichten von scheiternder Erotik [erzählt], aber nicht mehr von jener sinnstiftenden ›Entsagung‹, wie sie die Epoche des Biedermeier/Vormärz entworfen hat« (S. 146).

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In seiner Analyse einiger Dramen »am Ende der Goethezeit« (S. 151–182) konstatiert Hans Krah eine verstärkte Pathologisierung von Wissen (S. 173 ff.), einhergehend mit einer »Mediatisierung« (S. 176 ff.) und einer »Temporalisierung« (S. 178 ff.), die Kausalitäten ersetze, weshalb es in deren »Folge auch zu Deutungsproblemen bei der Dechiffrierung von Zeichen, dem rekurrenten Phänomen der Mißdeutungen und Fehlinterpretationen« (S. 168) komme.

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Während Jutta Osinski die katholische Spätromantik und deren restaurative Tendenzen untersucht (S. 183–195), geht Jürgen Link im letzten Essay dieser ersten Abteilung dem »Anteil der Normalität an der Bifurkation Romantik vs ›Biedermeier‹« (S. 197–211) nach, wobei er Chamissos Peter Schlemihl liest als »eines der ganz frühen Dokumente dieser großen Angst des 19. und 20. Jahrhunderts, die als Reflex der Subjekte auf die registrierenden Normalitätsdispositive fast pausenlos über die Frage nachgrübeln muß: ›Bin ich noch normal‹« (S. 208), einhergehend auch mit der Furcht vor einer Archivierbarkeit dieser »Denormalisierungsangst« (S. 208).

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Biedermeier

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Die vier Beiträge dieser schmalen zweiten Abteilung eröffnet Udo Köster mit einem Essay über »Marktorientierung und Wertkonservatismus« (S. 215–236). Ausgehend von der Beobachtung, dass »ab 1820 […] am literarischen Markt ein spektakulärer Aufschwung« (S. 215) stattfindet, geht Köster dem Phänomen nach, dass sich »die schreibenden Mitspieler auf dem ›spekulativen‹ Literaturmarkt als Verteidiger alter Werte« (S. 215) gerieren, wobei er seine »ironische Pointe« vorwegnimmt: »Wer von den marktorientierten Autoren sich emphatisch auf Werte der ›Kunstperiode‹ beruft, der formuliert nicht ein Bekenntnis, sondern er will etwas verbergen« (S. 215), wie Köster mit Verweis vor allem auf die Kontroverse zwischen Wilhelm Hauff und dem Erfolgsautor H. Clauren alias Carl Heun (vgl. S. 231 ff.) zu zeigen vermag. Autoren wie Gutzkow und Hauff publizieren »gezielt für neue Medien und für ein Publikum, dessen Aufmerksamkeit sie durch Tabuverletzungen gewinnen. Die Aufnahme ›konservativer‹ Argumentationsmuster ist bei ihnen keine Frage der Gesinnung, sondern ein Teil der langfristigen Marktstrategie: Nach dem Aufmerksamkeitserfolg des Skandals zählt langfristig die Integration in herrschende bürgerliche Standards« (S. 236).

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Ivar Sagmo untersucht in seinem kurzen Beitrag (S. 237–247) die Norwegen-Begeisterung in der »politischen Reiseberichterstattung und Publizistik der Biedermeierepoche«. Für herausgehobene Autoren der Zeit wie Alexis, Wienbarg und Laube erscheine Norwegen als ideale Projektionsfläche »in der Dialektik der kontinentaleuropäischen Zivilisationskritik« (S. 237), ohne dass sie ihre eigene anachronistische Betrachtungsweise dabei in Frage stellten bzw. bemerkten.

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Während Dominica Volkert »Konstruktionsmechanismen« in Briefen um 1830 beleuchtet (S. 249–268) und Momente der Mischung von Diskurs- und Texttypen in dieser Zeit markiert, ohne dabei meines Erachtens recht überzeugen zu können, da die beschriebenen Phänomene weder spezifisch für die Zeit um 1830 noch in ihrer Analyse sonderlich neu und überraschend sind, widmet sich der letzte Beitrag dieser mittleren Abteilung einigen »›Metatexten‹ des Biedermeier« (S. 269–282). Marianne Wünsch analysiert Stifters Die Narrenburg (1844), Gutzkows Wally, die Zweiflerin (1835), Hauffs Das Bild des Kaisers (1828), Immermanns Die Epigonen (1835) und Büchners Lenz (1839) als Metatexte des Biedermeier, weil sie »an der Textoberfläche ausgesprochen[,] oder implizit[,] strukturell[,] sich als Phase« (S. 269) zum Thema machten. Überraschend dabei ist, dass gerade dieses breite Spektrum von Stifter bis zu Büchner durchaus von Wünsch als zeittypisch für das System Biedermeier markiert werden kann.

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Vom Biedermeier zum Realismus

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Die dritte Abteilung umfasst neun Beiträge. Eröffnet wird die Abteilung mit einer bereits 1979 erstmals vorgelegten Lektüre von Hartmut Laufhütte, der Die Judenbuche von Annette von Droste-Hülshoff als Werk des Realismus versteht (S. 285–303). Laufhütte grenzt sich gegen ältere Interpretationen der Novelle ab – namentlich gegenüber von Wiese, Rölleke, Silz und Sengle –, indem er »die exakte soziopsychologische Motivierung aller Vorgänge« (S. 296) im Text betont. Wenn Laufhütte hier gegen die pejorative Bedeutung von ›Biedermeier‹ zu Felde zieht, demgegenüber jedoch einer realistischen Lektüre das Wort redet, verbleibt sein Begriff einer narrativen Intentionalität, um den »Realismus des 19. Jahrhunderts historisch präziser zu situieren« (S. 301), selbst leider eher eindimensional.

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»Akkumulation sozialer Energie in den vielfältigen Formen von Menschen, Macht, Rohstoffen, Produktionskapital oder auch ganz einfach in Form von Geld« (S. 309) sowie Thematisierungen von Adoleszenz und Oralität sind Phänomene, denen Hans-Peter Ecker in der »Dorfliteratur des 19. Jahrhunderts« in einer institutionsanalytischen Betrachtungsweise nachgeht (S. 305–330), um anhand eines zivilisationstheoretischen Blickwinkels eine Folie zur Konstituierung von Epochenkonzepten zu erhalten. Allerdings verbleibt Ecker, wie er selbst formuliert, aus Raumgründen nur »bei andeutende[n] Beweise[n]« (S. 328) für eine derart gewinnbringende Epochenbetrachtung. Doch ist zumindest weiteren Überlegungen in dieser Richtung ein Weg gewiesen.

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Während Jörg Schönert »Bertold Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten der 40er und der 50er Jahre als Beispiele eines ›literarischen Wandels‹« (S. 331–345), nämlich »als das wichtigste Exerzierfeld eines ›Protorealismus‹« (S. 331) verstanden wissen will, wobei der »Oberhof«-Komplex in Immermanns Münchhausen einen wichtigen Bezugspunkt darstelle (vgl. S. 334 f.), untersucht Claus-Michael Ort »Kohärenzprobleme im Geschichtsroman des 19. Jahrhunderts und ihr[en] Funktionswandel« (S. 347–375), wobei mit Blick auf Freytags Ahnen zu bemerken sei, dass »partielles ›Vergessen‹ […] der Freisetzung von politischer und literarischer ›Phantasie‹ und ›Handlungsfähigkeit‹« (S. 370) diene. Die Ahnen erscheinen Ort mit gutem Grund paradigmatisch für einen Wandel sowohl auf der literarischen als auch der interdiskursiven Ebene zwischen 1840 und 1870, als eine wichtige Schnittstelle des historischen Erzählens vom ›Nacheinander‹ zum ›Nebeneinander‹.

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Volker Hoffmann skizziert in einem kurzen Beitrag den »Konflikt zwischen anthropologischer Extremisierung und Harmonisierung in der Literatur vor und nach 1848« (S. 377–391), wobei Texte von Tieck, Immermann, Grillparzer und Keller die literarische Folie bilden, während Hufelands und Feuchterslebens »Diätetiken« als Referenztexte in den Blick rücken. Vielleicht hätte eine synchrone Analyse, oder die zusätzliche Einbeziehung weiterer Diätetiken, etwa die des Arztes, Malers und Philosophen Carl Gustav Carus sowie weiterer, viel gelesener Texte, wie etwa der Novellen Paul Heyses, Hoffmanns nicht sonderlich überraschende Hypothese vielschichtiger untermauert, wonach »[f]ür eine Reihe von Geschichten oder gar Gesamtœuvres […] die Mischung von gegensätzlichen Positionen bei gleichzeitiger Eliminierung der Extreme typisch zu sein« (S. 390) scheine.

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»Das Poetische und das Pathologische« innerhalb des programmatischen Realismus ist Thema von Thomas Anz’ Essay (S. 393–407). In erster Linie der Literarhistoriker Julian Schmidt habe in seiner Zeitschrift Die Grenzboten für eine rigorose Einteilung in gesund und krank plädiert und die Rezeption bedeutender Werke präfiguriert, besonders eindrücklich im Falle von Kleists Prinz Friedrich von Homburg.

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Während der Herausgeber Michael Titzmann unter dem Blickwinkel »›Natur‹ vs ›Kultur‹« eine detaillierte und vor allem instruktive Lektüre von Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe (S. 441–480) im Kontext des frühen Realismus vorführt, widmet sich Gustav Frank dem »›Mythos vom Matriarchat‹ als realistische[r] Reaktion auf Experimente des Biedermeier bei Bachofen, Gutzkow, Hebbel, Wagner und anderen« (S. 409–439), indem er sowohl Strukturelemente des Biedermeier herausarbeitet als auch zugleich das Biedermeier-Bild des Realismus erörtert. Letztlich erscheint dabei der Realismus selbst »als eine Art Moratorium der Kultur gegenüber ihrer Modernisierung, auf die sie sich den sprachlich-konzeptionellen unvermittelten Zugriff verbietet« (S. 436).

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Bei seinem anschließenden »Blick auf die Väter« (S. 481–495) macht Rainer Baasner ebenso nachdrücklich wie unaufgeregt deutlich, dass das Jahr 1848 für die programmatischen Realisten keine Zäsur bedeute. Nebenbei – und das ist als Fazit dieser dritten Abteilung in dieser Deutlichkeit überraschend – erscheinen bislang konsensfähige Thesen revisionsbedürftig:

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1. die Fokkussierung auf den Dresdner Kreis um die Grenzboten-Redaktion als Zentralgewalt für die Steuerung des Literatursystems, 2. die überwiegend ablehnende Kritik gegenüber der Weimarer Klassik, 3. die – wenn Klassik schon diskutiert wird – eher Schiller gegenüber Goethe bevorzugende Sichtweise und 4. die Hervorhebung einer optimistischen Zukunftsorientierung. (S. 493)
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Fazit

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Der vorliegende Sammelband diskutiert den »literarhistorischen Problemfall« Biedermeierzeit auf überwiegend hohem Niveau, bietet neben instruktiven Einzelanalysen Ansätze epochenübergreifender Typologisierungen und ist zudem für einen Sammelband insgesamt überraschend homogen. Dass diese literarhistorisch spannungsreiche Epoche zwischen Goethezeit und Reichsgründung Konjunktur hat und doch keinen Konsens erfährt, machen die Beiträge des Bandes plausibel. Und gerade das bietet Anregungen in Fülle, die Texte dieser Zeit erneut zu lesen.

 
 

Anmerkungen

Deutlich wird dies auch in diversen Brief-, Tagebuch- und Werkausgaben, die in letzter Zeit vermehrt vorgelegt werden. Vgl. hierzu etwa die zweibändige kritische Georg Herwegh-Ausgabe im Bielefelder Aisthesis-Verlag 2005 und 2006; dazu die Besprechung von Bernd Füllner: Die kritische Herwegh-Ausgabe (Rezension über: Georg Herwegh: Werke und Briefe. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe hg. von Ingrid Pepperle in Verb. mit Volker Giel, Heinz Pepperle, Norbert Rothe und Hendrik Stein. Band 5: Briefe 1832–1848. Bearbeitet von Ingrid Pepperle. Bielefeld: Aisthesis 2005. – Georg Herwegh: Werke und Briefe. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe hg. von Ingrid Pepperle in Verb. mit Volker Giel, Heinz Pepperle, Norbert Rothe und Hendrik Stein. Band 1: Gedichte 1835–1848. Bearbeitet von Volker Giel. Biefeled: Aisthesis 2006), in: IASLonline (27.02.2007). URL: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/Fuellner3895284858_1771.html (Datum des Zugriffs: 07.03.2007), sowie meine Besprechung der Briefe der zeitweiligen Gutzkow-Geliebten und langjährigen Lewald-Freundin Therese von Bacheracht: »Heute werde ich Absonderliches sehen«. Briefe aus Java 1850–1852, hrsg. von Renate von Sternagel. Königstein: Ulrike Helmer Verlag 2006. In: literaturkritik de, Nr. 9, September 2006. URL: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=9842&ausgabe=200609 (Datum des Zugriffs: 07.03.2007).   zurück