Katja Mellmann

Ob das Frauenzimmer anders liest

Eine empirische Studie zur Geschlechtsspezifik des Lektüreverhaltens um 1800




  • Silke Schlichtmann: Geschlechterdifferenz in der Literaturrezeption um 1800? Zu zeitgenössischen Goethe-Lektüren. (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 107) Tübingen: Max Niemeyer 2001. 303 S. Kartoniert. EUR 44,00.
    ISBN: 3-484-32107-5.


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Silke Schlichtmann nimmt sich in ihrer Untersuchung eines wichtigen Problems der Rezeptionsforschung an: Zu Recht stellt sie fest, daß sich unsere Kenntnisse vom Leseverhalten um 1800 weitgehend der unreflektierten Reproduktion des zeitgenössischen pädagogischen Lesediskurses verdanken, kaum aber empirischen Studien zum tatsächlichen Lektüreverhalten. Die Ursache dieses Mißstandes liegt auf der Hand: Wie rekonstruiert man historische Lesevorgänge, zumal aus einer Zeit, in der Lektüre zu einem stillen, intimen Vorgang wird? Schlichtmann ist sich dieses Problems bewußt, wenn sie ihr Verfahren der Analyse brieflich verschriftlichter Lektüren vorschlägt. Ihr Ergebnis kann nur ein Näherungswert sein, aber doch ›nah‹ genug, um einer ebenso einfachen wie ungeklärten Frage – ob Frauen um 1800 anders lasen als Männer (wie der Geschlechterdiskurs der Zeit es behauptet, und die moderne Leseforschung mit ihm) oder nicht – ernsthaft nachzugehen.

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Diese Ausgangsfrage ist jedoch nur eine Scheinfrage, da Schlichtmann uns das einfache Ja oder Nein schuldig bleibt. Ihr geht es um die viel interessanteren Fragen: Wie lasen Frauen? – Und wie lasen Männer? Welche Aspekte des Lektüreverhaltens sind um 1800 geschlechtsspezifisch (und warum 1 ) und welche nicht? Schlichtmann untersucht zu diesem Zweck eine Anzahl von Briefen aus dem Zeitraum 1795–1810 (sowohl weiblicher als auch männlicher Absender, an den Autor oder auch an Dritte adressiert), die Rezeptionszeugnisse zu Werken Goethes und vereinzelt auch Jean Pauls u.a. enthalten. Ihre Quellen sind also Selbstzeugnisse mit Referenz auf tatsächlich stattfindende kognitive und emotionale Vorgänge (und sei es erst im Moment der Niederschrift), nicht das lesedidaktische Schrifttum der Zeit, das entweder im Konditionalis der Befürchtung (was passieren könnte) argumentiert oder auf generalisierte und anonymisierte – und damit unüberprüfbare – historische ›Fakten‹ referiert.

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Das Ergebnis fällt erwartungsgemäß differenziert aus: Es gibt geschlechtsspezifische Dominanzen im Lektüreverhalten (so etwa die konkret-biographische Selbstparallelisierung mit dem Autor, die vorwiegend von männlichen Lesern vorgenommen wird), aber auch geschlechtsunspezifische Aspekte (z.B. die rezeptorische Reaktion der ›Liebe‹ zum Autor). Insgesamt stimmt das Bild, das Schlichtmann aufgrund ihrer Analysen zeichnet, nicht mit dem überein, das sich dem zeitgenössischen Diskurs vom geschlechterspezifischen Leseverhalten entnehmen läßt und das im Großen und Ganzen auch das bisher von der Literaturwissenschaft ermittelte Bild war. Konkret wendet sich Schlichtmann gegen die vor allem von Erich Schön vertretenen Thesen, Romane seien um 1800 überhaupt nur von Frauen gelesen worden (von Männern nur im Rahmen professioneller Lektüre) und Merkmale des weiblichen Lesens um 1800 seien die Dominanz des stofflichen Interesses, Unterdistanziertheit, Identifikation, Emotionalität und Lustbetontheit. 2 Ferner gegen Friedrich A. Kittlers Entgegensetzung von männlich-produktivem und weiblich-konsumtivem Lesen. 3

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Im Detail verwendet Schlichtmann zuweilen dieselben Argumente wie Schön – etwa geschlechtsspezifische Bildungs- und Zeitverteilung –, um Unterschiede in der Selbstdarstellung der Leser und Leserinnen zu erklären, jedoch unterscheidet sie strikt zwischen der diskursiven Mitteilung und dem daraus erschließbaren Lektürevorgang. So stellt Schlichtmann z.B. für die inhaltsbezogene und lustbetonte Neugier der Frauen fest, daß diese auf Diskursebene zwar nur den Frauen zugeschrieben wird – von Lesern wie von Leserinnen –, daß sich die Symptome einer solchen Neugier (Fragen an den Autor nach dem weiteren Handlungsverlauf und der weiteren Figurenentwicklung, der ungeduldige Wunsch nach baldiger Fortsetzung) jedoch bei beiden Lesergeschlechtern unterschiedslos nachweisen lassen. Auch die Anwendung der Unterscheidung von distanzierter und identifikatorischer Lektüre auf die Geschlechtsdifferenz ist mehr auf Beschreibungs- als auf Erlebnisebene festzumachen. Beides taucht bei beiden Geschlechtern auf, Frauen aber bieten diese beiden Lektüremomente in eher parataktischer, Männer in eher hypotaktischer Form (d.h. mit Dominanz der distanziert-reflektierenden Lektüre) dar. Ausreißer in eine ausschließlich unterdistanzierte Lektüre lassen sich bemerkenswerter Weise wenn, dann eher bei männlichen Lesern nachweisen, während weibliche Leserinnen gerade im Hin- und Herschalten zwischen beidem ›geübter‹ erscheinen (S. 188).

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Insgesamt läßt sich feststellen, daß weibliche Leser sich beim Beleg ihres Werkverständnisses ausdrücklich auf ihr Geschlecht und auf emotionale Eindrücke berufen, während männliche Leser sich auf rationale Beurteilungsmaßstäbe beziehen und ihr Geschlecht nicht eigens thematisieren. Im Verstehenswillen und in der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit der Einschätzungen aber lassen sich keine markanten Unterschiede festmachen.

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Schlichtmann legt ihren Schwerpunkt also auf die Real-, nicht die Diskursgeschichte des Lesens. Ihre sehr kurze Rekapitulation der zeitgenössischen Lesesuchtdebatte (bzw. des Aspekts des ›weiblichen Lesens‹ innerhalb dieser Debatte) dient folglich nur dem Zweck, diejenigen Aspekte zu nennen, auf die hin es die tatsächlichen Lektüren zu untersuchen gilt. Nicht lag es in ihrer Absicht, innerhalb der diskursgeschichtlichen Forschung zu diesem Thema selbst Stellung zu beziehen bzw. dieselbe um eigene Befunde zu ergänzen.

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Das ist eigentlich schade. Denn in dem kurzen Kapitel findet sich immerhin eine so grandiose Entdeckung wie die der wörtlichen Übereinstimmungen zwischen Clemens Brentanos lesedidaktischen Anweisungen an seine Schwester Sophie (Brief vom 14. August 1797) und einer Schrift von Carl Friedrich Pockels mit dem Titel Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts aus demselben Jahr. Brentano hat die im Brief verwendeten Argumente und Befürchtungen ganz offensichtlich direkt von Pockels übernommen. Diese Entdeckung ist ein starker Hinweis darauf, daß der didaktische Diskurs zur weiblichen Lektüre in gewisser Weise ›inauthentisch‹, d.h. außengeleitet und automatisiert war. Offenbar gehörte es zum Rollenmuster junger Männer, die am Beginn einer Bildungslaufbahn standen, ihre Schwestern, Bräute und »geschätzten Freundinnen« in dieser Weise mit didaktischen Hinweisen zu versorgen. Die Stereotypie der einschlägigen Briefe von Goethe, Kleist, Brentano u.a. ist bekannt. Da es aber einen Unterschied macht, ob eine neue Denkfigur deshalb so populär wird, weil sie vielen Zeitgenossen auf den Nägeln brennt und deshalb immer wieder aufs neue ›originär‹ zusammengesetzt, oder deshalb, weil sie als Teil eines institutionalisierten Diskurses stereotyp reproduziert wird, wäre eine eingehendere Untersuchung von Übereinstimmung und Abweichung zwischen beiden Texten von großem Interesse. Daß Schlichtmann solche Fragen zu Funktionsweise und Motivation des Lesesuchtdiskurses generell ausschließt, scheint mir angesichts der neuen Materialbasis, die ihre Studie einbringt, nämlich der Briefliteratur, sehr bedauerlich. 4

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Eine besondere Stellung nehmen in der Studie die Beispiele von Leserbriefen ein, in denen sich die Rolle der ›liebenden Leserin‹ oder des ›liebenden Lesers‹ einem spezifischen »Lektüreeffekt« verdankt, in dem Autor und Werk in eins gesetzt werden (S. 54). Schlichtmann zitiert Briefe von Marianne von Eybenberg, Charlotte von Kalb, Sophie von Grotthuß, Caroline Pichler, Caroline de la Motte-Fouqué, Leopoldine Grustner von Grusdorf, Caroline Bardua, Esther Bernard und Fanny Tarnow. Gemeinsam ist diesen Briefen, daß (a) die Ineinssetzung von Werk und Autor bzw. die idealisierte Imagination eines Autor-›Wesens‹ als eines allesverstehenden Gegenübers von den Leserinnen bewußt ins Auge gefaßt wird und so Gegenstand kritischer Reflexion oder auch des scherzhaften Spiels werden kann, und daß (b) das Werk als vollkommene Artikulation der eigenen Empfindungen bzw. die Leserin als exzeptionell adäquate Leserin ausgewiesen wird. Solche adäquaten Leserinnen können sich dann auch untereinander wieder qua ›Liebe‹ verständigen, wie insbesondere der Briefwechsel zwischen Rahel Levin Varnhagen und Pauline Wiesel zeigt.

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Schlichtmanns Befunde in dieser Sache sind hochgradig kompatibel mit von ihr unabhängigen Studien zum Rezeptionsverhalten in der Spätaufklärung. So wurde z.B. für den jungen Goethe festgestellt, daß ihm verschiedenste Autoren und literarische Figuren gleichermaßen als ›Zeugnisse‹ für einen Consensus identischer Erfahrungen bzw. als paradigmatische Artikulationen unaussprechlicher Empfindungen gelten. 5 Schlichtmanns Beobachtung, daß es sich bei den enthusiastischen Leserinnen meist um solche Frauen handelt, die mit ihrer sozialen Rolle in Konflikt stehen, weist auf dasselbe Bezugsproblem hin, das auch für das Lektüreverhalten des jungen Goethe veranschlagt wurde: das Problem sozial exkludierter Individualität, die nach symbolischen Korrespondenzen zur eigenen Identität sucht. Auch die Trostfunktion, auf die in den von Schlichtmann zitierten Briefen immer wieder abgehoben wird, paßt in dieses Bild. 6 Ebenso die Codierung dieser enthusiastisch-identifikatorischen Lektüre als ›Liebe‹ (S. 51–71), die Verwendung des Autornamens als einer Art »Chiffre« und die geschlechtsneutral beziehungsstiftende Kommunikation solcher Lektüren (S. 242–254). 7

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Nimmt man diese Übereinstimmungen ernst, so behandelt Schlichtmann hier ein Lektüreverhalten, das bereits in der Empfindsamkeit entstanden ist. Schlichtmann selbst macht als »literarische Urszene« (S. 250) dieses Lektüre- und Gesprächsmodus Lottes »Klopstock!« aus. Daß dieses Lektüreverhalten für Männer und Frauen in gleicher Weise gilt, wie Schlichtmann am Beispiel Carl Friedrich Zelters, Friedrich August Ukerts, Wilhelm Friedrich Christian Vetters, Karl Friedrich von Reinhards, Karl Johann Braun von Braunthals, Friedrich Rochlitz’, Ferdinand Benekes, Zacharias Werners u.a. nachweist, ist aus der Perspektive der empfindsamen Lesehaltung nicht verwunderlich (S. 79). Bedeutsam ist, daß diese Lektüregewohnheit – entgegen Schöns Annahme von der geschlechtsspezifischen Bedürfnislage in der sich etablierenden bürgerlichen Gesellschaft – sich offensichtlich bis in die Weimarer Zeit erhalten hat. 8 Neu ist lediglich, daß dieses realgeschichtlich geschlechtsunspezifische Verhalten nun als ›weiblich‹ kodiert wird, gleich ob es bei Männern oder Frauen auftritt (S. 62, 78). Der literarisch-enthusiastische ›Liebes‹-Diskurs interferiert nun also offensichtlich mit dem neuen, polar und hierarchisch strukturierten Geschlechterdiskurs.

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Vor dem Hintergrund dieser ›allgemeinmenschlichen‹ und zugleich ›auserlesenen‹ Identitäts- und Gemeinschaftsstiftung durch empfindsam-identifikatorische Lektüren wirken Schlichtmanns Überlegungen zum Wert des Goetheschen Werkes für das Assimilationsbedürfnis großbürgerlicher deutscher Jüdinnen fast überspezifiziert. Es bleibt zu bedauern, daß Schlichtmanns strikt empirisch ausgelegte Studie kaum zu übergreifenden Thesenformulierungen führt und sich statt dessen bevorzugt der Beantwortung eher spezifischer Fragen aus der Tradition der feministischen Literaturkritik bemüht. Doch solche gelegentlich aufkommenden Einwendungen verschwinden gegen das nicht genug hervorzuhebende Verdienst der Studie, eine Rekonstruktion tatsächlicher Lesevorgänge versucht zu haben.

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Gegen das Vorhaben, reale Rezeptionen zu ermitteln, wird zwar immer wieder eingewandt, daß diese für unsere Instrumentarien nicht erreichbar seien. Nicht die Lektüren seien uns zugänglich, sondern nur Zeugnisse von Lektüren. Die Arbeit von Schlichtmann aber zeigt jedenfalls, daß man noch ein ganzes Stück näher an die Lektüren herankommen kann als bisher geschehen. Und erst die Rekonstruktion der realgeschichtlichen Bedingungen kann die Spezifik bestimmter diskursiver Strukturen markieren. Der Kontrast historischer Diskurslagen zu modernen – um den diskursgeschichtliche wie feministische Untersuchungen für gewöhnlich am meisten Wind machen – ist weniger aufregend als die Diskrepanz zwischen tatsächlichen Alltagsvollzügen und ihrer diskursiven Überformung. Denn erst sie macht die relevanten Elemente des jeweiligen Diskurses für eine historische Funktionsbestimmung sichtbar.


Dr. des. Katja Mellmann
Universität München
Institut für Deutsche Philologie
Schellingstr. 3
DE - 80799 München

Ins Netz gestellt am 13.06.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Katja Mellmann: Ob das Frauenzimmer anders liest. Eine empirische Studie zur Geschlechtsspezifik des Lektüreverhaltens um 1800. (Rezension über: Silke Schlichtmann: Geschlechterdifferenz in der Literaturrezeption um 1800? Zu zeitgenössischen Goethe-Lektüren. Tübingen: Max Niemeyer 2001.)
In: IASLonline [13.06.2004]
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Anmerkungen

Die auf die Einzelanalysen verteilten Antworten auf diese Frage werden leider nicht zu einem eigenen Kapitel und zu einer systematischen Rekonstruktion bürgerlich-weiblicher Rezeptionsbedingungen um 1800 (spezifische Bildung, Erkenntnis- und Anpassungsbedürfnisse u.ä.) zusammengeführt. Diese Lücke ist verständlich aus Schlichtmanns Anliegen heraus, nicht einfach eine neue ungerechtfertigte Generalisierung an die Stelle der alten zu setzen, sondern im Gegenteil die individuell sehr verschiedenen Lesebedingungen immer im Blick zu behalten. Aber gerade weil Schlichtmann in dieser Hinsicht mit vorbildlicher Bedachtsamkeit vorgeht, hätte man sich an mancher Stelle eine eben mit dieser Vorsicht formulierte Verallgemeinerung hin zu Typischem gewünscht. Ihre Ergebnisse lassen darauf schließen, daß das Typische eben kein weiblich Typisches war, aber auch eine Entsprechung oder Konvergenz von männlichem und weiblichem Typischen in der Lektüre um 1800 unter bestimmten (eben nicht primär geschlechtsspezifischen) Bedingungen wäre ja schon ein Befund und ein äußerst produktiver Beitrag zur Leseforschung gewesen.   zurück
Erich Schön: Weibliches Lesen. Romanleserinnen im späten 18. Jahrhundert. In: Helga Gallas / Magdalene Heuser (Hg): Untersuchungen zum Roman von Frauen um 1800. Tübingen 1990, S. 20–40; als ›festes Wissen‹ sogar bereits in eine Einführung eingegangen durch E. S.: Sozialgeschichtliche Literaturwissenschaft. In: Helmut Brackert / Jörn Stückrath (Hg): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg 1992, S. 606–619.   zurück
Das betrifft in erster Linie Schlichtmanns Kapitel zu den Briefen Bettina Brentanos an Goethe. Zwar sind diese gerade keine für Schlichtmanns Fragestellung besonders relevanten Textzeugnisse, da sie eher als Liebesbriefe denn als Leserbriefe zu klassifizieren sind (die erotische Besetzung Goethes als »Geliebter« und »Meister« erfolgte nicht durch seine Werke, sondern durch seine Briefe an Bettinas Großmutter und Mutter und durch die Erzählungen von Goethes Mutter; verschriftlichte Lektüren von Goethes Werken weisen Bettinas Briefe nur in marginalem Umfang auf); die ausführliche Berücksichtigung dieser Briefe wird allerdings durch den Umstand erzwungen, daß sie in Kittlers so einflußreichem Buch Aufschreibesysteme als Paradebeispiel für weiblich-konsumtives Lesen und identifikatorische Figurenreferentialisierung angeführt werden. Schlichtmanns einzigartig akribische Detailwiderlegung der Kittlerschen Darstellung rechtfertigt diesen Exkurs vollkommen!   zurück
Die Kürze des Kapitels hat leider auch zur Folge, daß manche Elemente der geschlechtsspezifischen Lesesuchtdebatte in Schlichtmanns Darstellung nur unzureichende empirische Präzisierung erfahren. Zum Beispiel wird die zeitgenössische Annahme, männliche Lektüre sei mehr auf »die ästhetische Dimension« (S. 31) eines Textes aufmerksam (als Alternative zur stofflichen Dimension), durch keines der bei Schlichtmann aufgeführten Zitate belegt. Die Verfasserin stützt sich hier zusammenfassend auf bereits vorliegende Studien zur Lesesuchtdebatte (in der Hauptsache auf die Arbeiten von Erich Schön und Helga Meise), ohne jedoch auch deren Argumente und Belege noch einmal kritisch zu rekapitulieren. Schlichtmann selbst macht mehrfach darauf aufmerksam, daß sich das Konzept männlicher Lektüre um 1800 nur schwer rekonstruieren läßt, da die Texte sich zu diesem ›Normalfall‹ von Lektüre kaum äußern. Die implizite Konzeption ›richtiger‹ Lektüre läßt sich also nur ex negativo abgreifen. Um so mehr macht es stutzig, wenn dieses Konzept dann ohne spezifischen Beleg auch positiv konkretisiert wird. Der negative Rückschluß auf die zeitgenössische Vorstellung von männlichem Leseverhalten birgt die Gefahr, daß sich implizite Vorannahmen unseres modernen Verständnisses von verschiedenen Lektüreweisen in der Rekonstruktion niederschlagen. Denn was ist – historisch betrachtet – das Gegenteil der weiblichen Ausrichtung auf das Stoffliche eines Romans? Ist die Ausrichtung auf das Ästhetische wirklich die einzige und damit zwingende Alternative? Schlichtmanns Zitate belegen positiv nur die männliche »Wahrheitsliebe« als Element des männlichen Leseverhaltens in der Auffassung um 1800.   zurück
Karl Eibl: Die Entstehung der Poesie. Frankfurt/M. / Leipzig 1995, S. 141–153.)    zurück
Zur Trostfunktion am Beispiel der Briefe von Auguste von Stolberg an Goethe vgl. Marianne Willems: Stella. Ein Schauspiel für Liebende. Über den Zusammenhang von Liebe, Individualität und Kunstautonomie. In: Aufklärung 9/2 (1996), S. 39–76.   zurück
Vgl. Katja Mellmann: Das Buch als Freund – der Freund als Zeugnis. Zur Entstehung eines neuen Paradigmas für Literaturrezeption und persönliche Beziehungen im 18. Jahrhundert, mit einer Hypothese zur Erstrezeption von Goethes Werther. In: Hans-Edwin Friedrich / Fotis Jannidis / Marianne Willems (Hg.): Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert. Erscheint voraussichtl. 2004 bei Niemeyer.   zurück
Ebenso der empfindsame Sprachgestus: etwa wenn Zelter Goethe mit »Holdester, Guter, Bester, Einziger!«, »göttlicher Freund«, »süßgeliebtes freundliches Herz«, »Allerschönster«, »Allersüßester« und »Geliebtester« anspricht (S. 71).   zurück