Lutz-Henning Pietsch

Die philosophische Revolution braucht ihre Künder




  • Horst Schröpfer: Kants Weg in die Öffentlichkeit. Christian Gottfried Schütz als Wegbereiter der kritischen Philosophie. (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung II/18) Stuttgart / Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2003. 521 S. 19 Abb. Gebunden. EUR 98,00.
    ISBN: 3-7728-2221-5.


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Dieses Buch füllt eine Forschungslücke. Christian Gottfried Schütz (1747–1832), der 1779 als Professor für Dichtung und Beredsamkeit an die Universität Jena berufen wurde, wird in den bisherigen Darstellungen der Geschichte der Kantischen Philosophie eher stiefmütterlich behandelt. Über die auf einen Nebensatz beschränkte Feststellung, dass er als Herausgeber der Allgemeinen Literatur-Zeitung zur frühen Verbreitung der kritischen Philosophie beigetragen hat, geht kaum eine Darstellung hinaus. Seine Rolle wird zumeist auf die des journalistisch begabten Literaten reduziert, der sich zur rechten Zeit in der rechten Position befand, um die ab Mitte der achtziger Jahre in Jena stattfindende philosophische Umwälzung publizistisch zu flankieren. Damit ist Schütz‘ Bedeutung nur höchst unzureichend erfasst. Das deutete schon der ihm gewidmete, informative Aufsatz an, den Schröpfer vor zehn Jahren zu dem wichtigen Sammelband beisteuerte, in welchem Norbert Hinske den Jenaer Frühkantianismus als Forschungsaufgabe neu ins Blickfeld rückte. 1

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Was Schröpfer in seinem damaligen Beitrag zu Schütz nur in punktuellen Ansätzen leisten konnte, wird nun auf knapp 450 Seiten umfassend angegangen: Christian Gottfried Schütz als die philosophisch gebildete, akademisch wie publizistisch auf höchstem Niveau agierende, durch ihr kommunikatives Talent auf das geistige Klima in Jena und darüber hinaus vielfältig ausstrahlende Person zu würdigen, deren engagiertes Eintreten für Kant die entscheidenden Anstöße für die Formierung der frühkantianischen Bewegung lieferte und den allgemeinen Aufstieg der kritischen Philosophie in Deutschland maßgeblich beförderte.

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Ein vorkritischer Kantianismus?

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Das Buch ist in vier Kapitel gegliedert. Das erste Kapitel widmet sich der Phase, die Schütz bis zu seinem Weggang nach Jena in Halle verbrachte (1765–1779), als Student, Dozent und schließlich (ab 1773) als Professor der Philosophie. Schröpfer zeigt, dass Schütz‘ spätere Parteinahme für Kants kritische Philosophie keiner augenblickshaften Begeisterung entsprang, sondern in der Hallenser Zeit systematisch fundiert wurde. Es war der Magister und Privatdozent Ludwig Martin Träger (1743–1772), der für seine Idee einer neuen, antitranszendenten Metaphysik in Abgrenzung von Wolff wichtige Anregungen beim vorkritischen Kant fand und mit diesem Denkansatz seinen Freund und Kollegen Schütz beeinflusste. In Schütz‘ philosophischen Schriften wird, wie Schröpfer nachweist, Kant schon seit 1768 des öfteren ausdrücklich erwähnt.

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Das anthropologische Interesse für das Verhältnis von sinnlichen und rationalen Komponenten der Erkenntnis, das Schütz‘ Denken in den siebziger Jahren prägt, weist zwar an und für sich keine Kant-spezifischen Züge auf, wie Schröpfer zuweilen zu unterstellen scheint, sondern entspricht ganz dem allgemeinen philosophischen Trend der Zeit. Als signifikant kann allerdings die Tatsache gelten, dass Schütz bei aller Kritik am Wolffschen Rationalismus keiner ungehemmten Physiologisierung und Psychologisierung der Metaphysik das Wort redet, sondern am Primat der Vernunft festhält und ihre konstitutive Funktion für das Denken und Handeln des Menschen unterstreicht. In dieser Position von Schütz sieht Schröpfer »die entscheidende Voraussetzung für sein Verständnis der Kantischen Vorstellungen von den apriorischen Vermögen der Anschauung, des Verstandes und der Vernunft« (S. 62). Abgerundet wird das erste Kapitel durch einen Abschnitt über Schütz‘ frühe Zeitschriftenprojekte und sein Engagement in der Lehrerausbildung an der Universität Halle, das hohe Anerkennung fand. Hier konnte er bereits seine pädagogischen, publizistischen und kommunikativen Fähigkeiten unter Beweis stellen, die später im Dienste der kritischen Philosophie eine so große Wirkung entfalten sollten.

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Das zweite Kapitel befasst sich mit Schütz‘ Wirken in Jena vor der Herausgabe der Allgemeinen Literatur-Zeitung, also von 1779 bis 1784. In diese Zeit fällt das Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft (1781). Wie Schröpfer darlegt, muss Schütz das Buch unmittelbar nach seiner Veröffentlichung rezipiert haben. Denn schon 1782 findet sich eine Erwähnung des »vor kurzem erschienenen wichtigen Werkes« in einer Schrift über Lessing, in welcher er Kants Diktum vom »Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß«, zitiert. 2 1783 verweist Schütz in einer Anmerkung zu Antoine Jacques Roustans Briefen zur Vertheidigung der christlichen Religion erneut auf Kants Werk. Die frühe emphatische Hinwendung zu einem Buch, das zu diesem Zeitpunkt in der gelehrten Welt noch kaum zur Kenntnis genommen wurde, wird vor dem Hintergrund dessen, was Schröpfer im ersten Kapitel zu Schütz‘ philosophischer Prägung in Halle herausgearbeitet hatte, erklärbar.

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Weichenstellungen in Jena

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Schütz‘ aus Hallenser Zeiten herrührendes Interesse an Kants Philosophie fand an der Universität Jena ein günstiges Milieu in der neologisch orientieren Theologie, wie sie durch die Professoren Ernst Jakob Danovius und Johann Jakob Griesbach vertreten wurde. Zu beiden pflegte Schütz enge freundschaftliche Beziehungen. Nach Schröpfers Auffassung war vor allem der Einfluss von Schütz‘ Schwager Danovius (1741–1782) von Bedeutung; Schröpfer hält es für eine »Tatsache, daß Danovius unbedingt zu den Inspiratoren der Kantrezeption in Jena gezählt werden muß« (S. 111). Als Beleg bezieht er sich auf einen Brief, den der Theologe 1770 an Kant schrieb und der von einer hohen Wertschätzung für den Königsberger Philosophen zeugt. Eher noch als dieser über ein Jahrzehnt zurückliegende Brief ist indes eine (von Schröpfer nicht zitierte) Äußerung Herders geeignet, Danovius‘ Anteil an der Jenaer Kant-Rezeption zu untermauern. Aus einem Brief an Hamann vom 31. Dezember 1781 geht hervor, dass Danovius sich zu diesem Zeitpunkt bereits mit Kants Kritik beschäftigt hatte und in einer Lehrveranstaltung in Jena das Gespräch darauf gebracht hatte. 3

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Schütz selbst ging spätestens seit dem Sommersemester 1784 in seinen Lehrveranstaltungen auf die Kritik ein. Dazu veranlasst wurde er möglicherweise durch das Erscheinen einer überarbeiteten Auflage von Ernst Platners weitverbreitetem Lehrwerk, den Philosophischen Aphorismen, in denen Kants Buch nur in unzulänglicher Weise berücksichtigt wurde. Unterstützung für das Bemühen, Kant an der Jenaer Universität bekannt zu machen, fand Schütz bei seinem Kollegen, dem Philosophie-Professor Johann August Heinrich Ulrich, der ebenfalls im Sommersemester 1784 begann, sich in seinen Vorlesungen auf die kritische Philosophie zu beziehen. 4 Dass Kants Kritik schon kurz darauf »in einer breiteren wissenschaftlichen Kommunikation der Universität Jena eine Rolle spielte« (S. 112), zeigt die Vorrede, die der Theologe und amtierende Prorektor Johann Christoph Döderlein dem Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 1784 / 85 voranstellte; neben Bacon und Pope wird in dieser Vorrede auch Kant zitiert.

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Der letzte Abschnitt des Kapitels stellt die Vorbereitungen für die Herausgabe der Allgemeinen Literatur-Zeitung (ALZ) dar, die in der zweiten Hälfte des Jahres 1784 anliefen. Die Initiatoren des Projekts, der Weimarer Verleger Friedrich Justin Bertuch und Wieland (letzterer stieg Ende des Jahres aus dem Unternehmen wieder aus), gewannen Schütz im Juni 1784 für die Position des leitenden Redakteurs. Schröpfer macht deutlich, dass Schütz von Anfang an maßgeblich an der Etablierung der konzeptionellen Standards beteiligt war, die die ALZ schon bald darauf zu einem der wichtigsten Rezensions-Organe Deutschlands aufsteigen ließen. Dazu gehörte die Öffnung der Zeitschrift für alle Wissensgebiete, die Festlegung bestimmter, dem Kriterium der Objektivität verpflichteter Richtlinien für das Verfassen der Rezensionen, die Orientierung an neuesten philosophischen Strömungen sowie die Werbung kompetenter Autoren. Zur Erfüllung des letzten Punktes begann Schütz ab Juli 1784 eine umfangreiche Korrespondenz mit Gelehrten und Schriftstellern in ganz Deutschland, zu denen auch Kant gehörte. Schütz‘ erster Brief an Kant vom 10. Juli 1784, in dem er ihm Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit zur Rezension antrug, markiert den Beginn einer Zusammenarbeit, die sich für die Wirkungsgeschichte der kritischen Philosophie als äußerst bedeutsam erwies.

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Kapitel drei, das wichtigste und umfangreichste Kapitel des Buches, behandelt zum einen Schütz‘ Aktivitäten als Redakteur der ALZ bis 1790 und zum anderen sein akademisches und administratives Wirken in Jena bis 1803. Was den zweiten Punkt angeht, so gewähren Schröpfers Ausführungen hier durchweg interessante Einblicke in die Zustände und institutionellen Abläufe an einer deutschen Universität im späten 18. Jahrhundert. Im Mittelpunkt steht ein Vorgang, durch welchen dank Schütz‘ Engagement die Kantische Philosophie ab dem Wintersemester 1785 / 86 in der Lehre der Jenaer philosophischen Fakultät auch offiziell verankert wurde: die Herausgabe eines Studienführers, in welchem das Fach Philosophie und seine Teildisziplinen nach Maßgabe des Kantischen Systems vorgestellt werden. Schröpfers ausführliche Rekonstruktion der vorausgehenden Diskussionen unter den Lehrenden zeigt, wie Schütz es durch eine Mischung aus energischem Nachdruck und diplomatischem Geschick erreichte, dass gegen den anfänglichen Widerstand einzelner Kollegen am Ende die Kantische Philosophie de facto als eigenständiges Lehrgebiet an der Universität Jena anerkannt wurde. Damit war ein wichtiger Grundstein zu dem Aufstieg gelegt, den die Jenaer Philosophie in den folgenden Jahren erlebte.

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»Das Buch liegt mir am Herzen«

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Den größten Raum des Kapitels nimmt Schütz‘ Wirken auf publizistischer Ebene ein. Schröpfer kommt auf verschiedene unternehmerische und konzeptionelle Aspekte zu sprechen, die für die erfolgreiche Positionierung der ALZ und ihrer ›Ableger‹ (dem Intelligenzblatt, dem Allgemeinen Repertorium der Literatur und den Revisionen der Literatur) auf dem expandierenden Bücher- und Zeitschriftenmarkt von Bedeutung waren, um sich dann ganz dem Thema der Verbreitung der Kantischen Philosophie zuzuwenden. Mit seinem Zeitschriftenprojekt verband Schütz von Anfang an das Ziel, die Grundsätze der Kritik der reinen Vernunft einem größeren Publikum nahe zu bringen. »Das Buch liegt mir am Herzen«, schreibt er am 10. Juli 1784 an Kant, und im Brief vom 20. September 1785 heißt es:

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Zur Ausbreitung Ihrer vortrefflichen Grundsätze geschieht zwar lange noch nicht genug, aber doch immer hie und da so viel, daß man hoffen kann, sie werden immer häufiger studiret und in Umlauf gebracht werden. [...] Ich werde auch in der Allg. Lit. Zeitung künftig keine Gelegenheit versäumen immer auf Ihre Ideen zurückzukommen.
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Die Propagierung der Kantischen Philosophie in der ALZ verlief, wie Schröpfer nachzeichnet, auf mehreren Ebenen. Zum einen bot Schütz Kant die Möglichkeit, durch Rezensionen für die ALZ den vernunftkritischen Standpunkt in der polemischen Auseinandersetzung mit anderen Autoren öffentlichkeitswirksam zu entfalten. Von dieser Möglichkeit machte Kant mit seinen Herder-Rezensionen in Aufsehen erregender Weise Gebrauch. Weiter legte Schütz Wert darauf, dass Kants eigene Werke frühzeitig und ausführlich besprochen wurden. Häufig übernahm er selbst die Rezension, die er dann in der Regel dazu nutzte, Kants neuartigen philosophischen Ansatz, seine wichtigsten Grundideen und seine schwierige Terminologie dem Publikum in umsichtiger Weise zu erläutern. Und schließlich organisierte oder verfasste Schütz Rezensionen zu Büchern, die Kants Philosophie adaptierten, sie angriffen oder sich in umstrittener Weise auf sie bezogen (wie z.B. die Veröffentlichungen im Pantheismus-Streit). Solche Rezensionen boten die Möglichkeit, gegen vermeintliche Fehlinterpretationen Kantischer Grundsätze vorzugehen und in der Anwendung auf aktuelle philosophische Debatten ihr Profil zu schärfen.

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Ins Zentrum seiner Ausführungen stellt Schröpfer die umfassende Darstellung des Kantischen Systems, die Schütz zwischen dem 12. und 30. Juli 1785 in seiner Zeitschrift veröffentlichte. Äußerer Anlass war die Anzeige von Johann Schultzes Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Critik der reinen Vernunft (1784). Schon von der Seitenzahl her sprengte die Artikelserie jedoch bei weitem das übliche Rezensions-Format, und inhaltlich erweist sie sich bei näherer Betrachtung als völlig eigenständige Einführung in Kants Ideengebäude. Umfang und Niveau der Darstellung mussten für die philosophisch interessierten Zeitgenossen als ein auffälliges Signal wirken, dass die neue Philosophie von jedermann ernst genommen zu werden verlangte. Nicht erst Reinholds häufig genannte Reihe von Briefen über die Kantische Philosophie (1786 / 87), so macht Schröpfer deutlich, sondern schon Schütz‘ Besprechung von 1785 markiert den »Durchbruch« (S. 217) zur allgemeinen Rezeption der kritischen Philosophie. Zu den von Schröpfer angeführten historischen Stimmen, die die Wirkung der Rezension rückblickend bezeugen (neben Reinhold selbst werden Wilhelm Traugott Krug und Georg Andreas Will zitiert, vgl. S. 258), ließe sich noch Buhles Philosophiegeschichte von 1806 hinzufügen. Dort heißt es bezüglich der frühesten Rezeption der Kritik der reinen Vernunft: »Die allgemeinere Aufmerksamkeit ward zuerst auf sie hingelenkt durch eine treffliche Analyse ihres Inhalts in der Allgemeinen Literaturzeitung [...].« 5

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Für die Aufgabe, Schütz‘ Rolle als Propagator Kants in der ALZ angemessen zu würdigen, erweist es sich als Problem, dass die Besprechungen durchweg anonym erschienen. Nicht immer kann man sich bei der Frage, welche Artikel von Schütz stammen, auf eindeutige Belege (etwa in Form brieflicher Äußerungen) stützen. Schröpfers Untersuchung ist hier um Klarheit bemüht, indem sie für mehrere Zweifelsfälle die Indizien zusammenträgt, die für Schütz‘ Autorschaft sprechen. Das letzte Wort ist damit bei der Einkreisung von Schütz‘ Œuvre allerdings noch nicht gesprochen. So geht Schröpfer z.B. in seiner Analyse der Besprechungen, die Schütz für die ALZ schrieb, nicht auf die Doppelrezension ein, die am 8. und 12. Mai 1786 zu Jacobis Wider Mendelssohns Beschuldigungen und Mendelssohns An die Freunde Lessings erschien. Ihr Autor offenbart sich jedoch explizit als derjenige, der schon am 11. Februar Jacobis Über die Lehre des Spinozas besprochen hatte 6 – und der von Schröpfer als Schütz identifiziert wird (vgl. S. 228).

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Rezensionen und Konstellationen

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Wie Schröpfer feststellt, bricht die kontinuierliche rezensorische Begleitung der Werke Kants durch die ALZ Ende der achtziger Jahre ab. Auffälligstes Symptom dafür ist, dass die zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1787) gar nicht besprochen wurde. Erst im Februar 1791 druckte die ALZ eine Rezension zur dritten Auflage der Kritik (1790) ab, deren Verfasser Karl Leonhard Reinhold war. Schröpfers plausible Erklärung ist, dass Reinhold, seit 1787 Professor in Jena, von Schütz als Rezensent der zweiten Auflage vorgesehen war, dass sich die Fertigstellung der Arbeit aber verzögerte, weil sie unter Reinholds Händen zur grundsätzlichen Abrechnung mit dem Kantischen System auf der Basis seines neuen elementarphilosophischen Ansatzes geriet. Das spannungsreiche Verhältnis der ALZ zu den idealistischen Systembildungen Reinholds und Fichtes ist dann schon das Thema des vierten und letzten Kapitels, das Schütz‘ publizistische Aktivitäten von 1790 bis 1804, dem Jahr seines Umzugs nach Halle, beschreibt. Wie Schröpfer betont, erhebt dieses Kapitel nicht mehr im selben Maße wie die vorhergehenden den Anspruch, zu einer umfassenden Beurteilung des Schütz‘schen Wirkens zu gelangen; hierzu sind seiner Meinung nach weitere Untersuchungen nötig.

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Schütz‘ Position in den neunziger Jahren beschreibt Schröpfer als durch einen Zwiespalt gekennzeichnet: Persönlich hatte er ganz das Kantische Denken verinnerlicht und stand den jüngsten Entwicklungen in der Philosophie des Idealismus und der Frühromantik ablehnend gegenüber; als Redakteur der ALZ fühlte er sich jedoch verpflichtet, diese Entwicklungen zu würdigen und seine Leser darüber auf dem laufenden zu halten. Erst als gegen Ende des Jahrzehnts die Spannungen mit den Brüdern Schlegel und mit Schelling eskalierten, gab Schütz sein Neutralitäts-Prinzip auf und machte keinen Hehl mehr aus seinen Vorbehalten gegenüber den neuen philosophischen Strömungen. Kurz zuvor hatte er in der ALZ noch einmal seine »ungebrochene Anteilnahme am Schaffen Kants« und seinen »unentwegten Einsatz für die Verbreitung aller Systembereiche der kritischen Philosophie« (S. 376) durch die Serie von Rezensionen unterstrichen, die den späten, überwiegend rechtsphilosophischen Schriften Kants gewidmet waren. Schröpfers kurzer Aufriss des Konflikts zwischen Schütz und Schelling mündet in das berechtigt erscheinende Plädoyer, diese Kontroverse in das Feld der historisch-genetischen Konstellationenforschung Henrichs, Franks und anderer einzubeziehen (vgl. S. 431).

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Der im vierten Kapitel abgedeckte Zeitraum lässt sich kaum noch unter die Formel bringen, die Schröpfer seiner Studie als Titel vorangestellt hat. Den »Weg in die Öffentlichkeit« hatte die Kantische Philosophie in den neunziger Jahren erfolgreich abgeschlossen; das Amt des »Wegbereiters«, das Christian Gottfried Schütz vorher in so glänzender Weise ausgefüllt hatte, war überflüssig geworden. In der Konfrontation mit den produktiven Weiterentwicklungen der Kantischen Philosophie hatte sich seine Rolle unversehens vom progressiven Künder einer philosophischen Revolution zum Verteidiger des status quo gewandelt. Schütz‘ entscheidende Leistung liegt in den achtziger Jahren, auf denen konsequenterweise das Hauptgewicht von Schröpfers Darstellung ruht.

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Manchmal hätte man sich hier ein bisschen mehr Distanz des Verfassers zu seinem Gegenstand gewünscht. Alles, was über Schütz gesagt wird, dient dazu, das Bild des scharfsinnigen Kopfes, begnadeten Organisators und immer fairen Kritikers zu stützen. Vorbehaltlos macht Schröpfer sich in den gelehrten Auseinandersetzungen, auf die er zu sprechen kommt, die Position seines Helden zu eigen. So kann er z.B. in der aggressiven Polemik der ALZ gegen Gottlob August Tittels Kant-kritische Schrift Ueber Herrn Kant‘s Moralreform von 1786 (Schröpfer weist überzeugend nach, dass es sich beim Rezensenten höchstwahrscheinlich um Schütz handelt) nichts anderes sehen als Ausbrüche gerechten Zorns gegen ein anmaßendes, Kants Thesen verfälschendes Traktat. Dabei wurde in Tittels Schrift eine Reihe ernst zu nehmender Argumente gegen die Kantische Moralphilosophie erstmals formuliert, die später geradezu klassischen Status erlangten, 7 wie z.B. der Vorwurf der Leere des Kategorischen Imperativs oder die später durch Schiller prominent vertretene Kritik an der Härte eines reinen Vernunftgesetzes, das die sinnliche Natur des Menschen vernachlässigt.

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»... dieser würdige Gelehrte ...«

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Etwas angestrengt wirkt es manchmal, wie Schröpfer jede einzelne Handlung, jede beiläufige Äußerung von Schütz oder seinen Verbündeten als absichtsvolles und bedeutsames Element im großen Plan der Verbreitung der Kantischen Philosophie kommentiert. In seinem Bemühen, Schütz‘ Aktivitäten immer wieder an ihre höheren philosophischen Motive zurückzubinden, bleibt er von der Tendenz zum Phrasenhaften nicht ganz frei: Maßgebend für Schütz‘ inhaltliche Konzeption der ALZ war »seine ausgeprägte Sensibilität für Probleme der Erziehung des Individuums und der menschlichen Gemeinschaft, die ihn geradezu beflügelte, seinem Drang zu folgen, im weitesten Sinne aufklärend zu wirken« (S. 129); das Erscheinen von Kants Anthropologie war für ihn »die Bestätigung seines früh ausgeprägten Bestrebens, dem Menschen die ihm gegebene Fähigkeit zur Selbstgestaltung eines verantwortbaren Lebens bewußtzumachen« (S. 172) – Formeln wie diese kehren im Text ständig wieder; in ihrer Häufung wirken sie ermüdend und in ihrer Allgemeinheit und relativen Unvermitteltheit oft beliebig.

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Was die Lesbarkeit ebenfalls beeinträchtigt und bei der Orientierung im Text für Verwirrung sorgt, ist die Tatsache, dass häufig ein und dasselbe Zitat mehrfach angeführt und an verschiedenen Stellen im Buch ausgewertet wird (vgl. S. 88–89, S. 136–137 und S. 201; S. 217 und S. 265; S. 246–247 und S. 359–360; S. 303 und S. 313; S. 389 und S. 398). Der Eindruck der Redundanz wird schließlich noch dadurch verstärkt, dass zuweilen die Analyse der Quellen hinter dem ausgiebigen Zitieren zurücktritt, wie z.B. im Abschnitt über die Auseinandersetzung zwischen Johann Christoph Schwab und der ALZ über die Einheit von Kritik und System bei Kant. Auch bei der Wiedergabe dieser Debatte lässt Schröpfer übrigens keinen Zweifel an der Überlegenheit von Schütz und der Nichtigkeit der Argumente seines Gegners aufkommen, was im merkwürdigen Kontrast steht zu seiner Bemerkung am Ende des Abschnitts, die in dieser Kontroverse aufgeworfenen Probleme würden bekanntlich bis heute diskutiert.

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Die genannten Einwände ändern jedoch nichts daran, dass Schröpfer einen elementaren Beitrag zur Erforschung der frühen Kant-Rezeption vorgelegt hat. Seiner sorgfältigen historischen Rekonstruktion hätte zwar eine etwas konzisere Darstellung nicht geschadet, doch liefert sie in der erhellenden Verbindung von biographischer, institutionen- und ideengeschichtlicher Ebene ein genaues und umfassendes Bild vom vielfältigen Wirken eines Mannes, der den Gang der Philosophiegeschichte entscheidend beeinflusst hat und der nun dank Schröpfers Arbeit wieder zu dem werden könnte, was er, nach der Äußerung eines unbekannten Autors der Neuen Leipziger Gelehrten Zeitung von 1786, für die Zeitgenossen bereits war: der »würdige Gelehrte, dessen Verdienste längst entschieden sind, und dessen Namen jeder Kenner von Wissenschaft [...] nicht ohne Achtung nennt«. 8


Dr. des. Lutz-Henning Pietsch
Universität Tübingen
Deutsches Seminar
Wilhelmstraße 50
DE - 72074 Tübingen

Ins Netz gestellt am 04.07.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Dietmar Till. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Lutz-Henning Pietsch: Die philosophische Revolution braucht ihre Künder. (Rezension über: Horst Schröpfer: Kants Weg in die Öffentlichkeit. Christian Gottfried Schütz als Wegbereiter der kritischen Philosophie. Stuttgart / Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2003.)
In: IASLonline [04.07.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=780>
Datum des Zugriffs:

Zum Zitieren einzelner Passagen nutzen Sie bitte die angegebene Absatznummerierung.


Anmerkungen

Vgl. Horst Schröpfer: Christian Gottfried Schütz – Initiator einer wirkungsvollen Verbreitung der Philosophie Kants. In: Norbert Hinske / Erhard Lange / Horst Schröpfer (Hg.): Der Aufbruch in den Kantianismus. Der Frühkantianismus an der Universität Jena von 1785–1800 und seine Vorgeschichte (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung II/18) Stuttgart – Bad Cannstatt: Fromann-Holzboog 1995, S. 15–35. Bei dem Sammelband handelt es sich um die erweiterte zweite Auflage eines Ausstellungskatalogs, der 1993 unter dem Titel Das Kantische Evangelium erschien.   zurück
Christian Gottfried Schütz: Ueber Gotthold Ephraim Lessing‘s Genie und Schriften. Halle: Gebauer 1782, S. 120.   zurück
Johann Gottfried Herder: Briefe. Gesamtausgabe 1763–1803. Weimar 1977 ff. Hg. von Karl-Heinz Hahn. Bd. 4: Oktober 1776 – August 1783. Bearb. von Wilhelm Dobbek u. Günter Arnold. Weimar: Böhlau 1979, S. 201.   zurück
Als Nachweis bezieht Schröpfer sich auf eine Meldung der Jenaischen gelehrten Zeitungen vom 21. Mai 1784, in welcher Ulrichs Vorlesungsankündigung für das Sommersemester 1784 kommentiert wird. Die Zeitungsmeldung ist auch abgedruckt in der äußerst nützlichen, jedoch noch wenig genutzten Quellensammlung von Albert Landau (Hg.): Rezensionen zur Kantischen Philosophie 1781–87. Bebra: Landau 1991, S. 78.    zurück
Johann Gottlieb Buhle: Geschichte der neuern Philosophie seit der Epoche der Wiederherstellung der Wissenschaften. Bd. 6. Göttingen: Röwer 1804, S. 732.   zurück
Vgl. Landau (Anm. 4), S. 372.   zurück
Vgl. dazu Frederick C. Beiser: The Fate of Reason. German Philosophy from Kant to Fichte. Cambridge/Mass. – London: Harvard University Press 1987, S. 184–185.   zurück
Landau (Anm. 4), S. 433.   zurück