Alessia Bauer

Handbuch für die älteren Runeninschriften




  • Tineke Looijenga: Texts and Contexts of the Oldest Runic Inscriptions. (The Northern World 4) Leiden, Boston: Brill 2004. XIV, 410 S. Hardback. EUR 105,00.
    ISBN: 90-04-12396-2.


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Der vorliegende, schön und sorgfältig gedruckte Band präsentiert etwa 300 Runeninschriften im älteren Futhark. Er ergänzt die alte Edition von Krause / Jankuhn (1966) und bringt den Katalog der älteren Runeninschriften auf den neuesten Stand.

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Das Werk besteht aus zwei getrennten Teilen. Dem eigentlichen Kern − dem Katalog mit der Präsentation und Deutung der Runeninschriften − wird eine lange und umfassende Einleitung (und eigentümlicherweise auch die Ergebnisse) vorangestellt. Bereits aufgrund des Titels, der »Texts and Contexts« (Hervorhebung von mir) lautet, würde ich den Katalog als den Hauptteil des Buches erwarten. Im Laufe der Lektüre sieht man sich aber in dieser Vermutung nicht bestätigt, denn erst auf S. 149 beginnt der Inschriftenteil.

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Aufbau

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Im ersten Teil werden in vier Kapiteln folgende Themen behandelt: Das 1. Kapitel ist eine knappe Einleitung über die allgemeinen Fragen der Runologie (S. 1–26). Das 2. Kapitel stellt eine äußerst detaillierte Schilderung der historischen Lage bzw. des archäologischen Kontextes dar (S. 27–77). Im 3. Kapitel geht die Verfasserin auf die Frage der Runenentstehung ein, wobei sie sich auf ihre eigene Hypothese beschränkt und versucht, diese mit historischen Argumenten zu untermauern (S. 78–104). Im 4. Kapitel werden die Ergebnisse der Untersuchung der Inschriften zusammengefasst (S. 105–145).

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Der zweite Teil des Buches enthält in den Kapiteln 5–9 den Katalog, in denen die Runenfunde je nach Herkunft präsentiert werden, in der Reihenfolge: Funde aus Dänemark und dem ostgermanischen Raum (S. 149–189), Runeninschriften auf Brakteaten (S. 190–222), kontinentale Runeninschriften (S. 223–272), Inschriften aus England (S. 273–298), den Niederlanden (S. 299–328) und Skandinavien (S. 329–360).

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Grundsätzlich scheint mir der Aufbau des Werkes nicht systematisch durchdacht zu sein. Während die logische Struktur des Katalogs klar zu erkennen ist, erscheint der Plan des ersten Teils undurchschaubar. Anstatt einen kompakten Abschnitt mit ausführlichen Informationen über die Runenschrift zu geben, zieht die Verfasserin es vor, zusammengehörende Runen-Themen durch einen historisch-archäologischen Abschnitt zu trennen. Doch am problematischsten erscheint mir das 4. Kapitel, das die Ergebnisse der Untersuchung vorstellt, die erst ab dem 5. Kapitel ansetzt. Der Leser kann dieser Zusammenfassung nicht folgen, weil er die Inschriften noch nicht kennt.

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Zu einzelnen Kapiteln

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Zu den einzelnen Kapiteln möchte ich folgendes bemerken. Das 2. Kapitel bildet den eigentlichen Anfang des Werkes. Hier geht es darum, den Kontext (sowohl historisch als auch archäologisch) zu skizzieren, in dem die Runenschrift entstehen und sich entwickeln konnte. Äußerst interessant finde ich die ausführliche Darstellung des archäologischen Hintergrunds, die jedem Runologen bzw. Sprachwissenschaftler dabei hilft, sich ein vollkommeneres Bild des Objektes, das die Inschrift trägt, zu verschaffen. Die Besonderheit von Runeninschriften besteht u.a. darin, dass sie nicht lediglich als Texte gelesen werden, sondern dass man dabei auch Objekt, Fundort und Trägermaterial berücksichtigen muss, um eine sinnvolle Deutung vorschlagen zu können. Die Beschreibung geht sehr in die Tiefe und ist gut ausgearbeitet. Einziger Nachteil ist, dass einige Wiederholungen in Kauf genommen werden, da zahlreiche Inschriften bereits im 2. Kapitel präsentiert wurden, die anschließend im eigentlichen Hauptteil wieder besprochen werden. Wie die Autorin auf S. 10 betont, ist ihr Bestreben »[to] obtain information about the use, spread and purpose of runic writing in the period under discussion. If the nature and status of runic usage in the Roman Period and the early Middle Ages can be roughly established from the inseparable trio of object, text and (archaeological) context, we may gain some insight into the reasons why people created runic script«.

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Kapitel 3 bietet eine lange Übersicht über die Entstehung der Runen − die man eher am Anfang erwartet hätte. Die Verfasserin erläutert an dieser Stelle ihre eigene These über den Ursprung der germanischen Schrift, der zufolge sie in der Rheingegend dank der Vermittlung der dort angesiedelten Römer entstanden sei. Die Idee, sich auf die eigene These zu konzentrieren, ist m.E. grundsätzlich gut. Ich hätte dennoch begrüßt, dass Looijenga sich nicht lediglich auf die historischen Umstände, sondern auch auf die Lautwerte und Zeichen bezieht, da dementsprechende Argumente ihre Hypothese untermauern könnten. Looijenga setzt die Entstehung der Runenschrift ins 1. Jh. n. Chr. Folgt man jedoch der opinio communis, so vergehen zwischen der ›Erfindung‹ einer Schrift und ihrer tatsächlichen Anwendung ca. 100–200 Jahre. Aufgrund der ältesten Funde im 2. Jh. n. Chr. müsste man dann nach diesem Prinzip die Entstehung der Runenschrift in der Zeit um Christi Geburt postulieren.

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Während die Themen der Kapitel 2 und 3 ausführlich und umfassend behandelt sind, würde man vielleicht im ersten Kapitel eine präzisere Einführung in die Probleme der Runenschrift erwarten. Hier ergeben sich zudem einige Ungenauigkeiten, die ich an dieser Stelle kurz ansprechen möchte.

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Die Verfasserin setzt auf S. 5 das dänische Futhark mit dem jüngeren Futhark gleich und behauptet, die Kurzzweigvariante sei eine spätere Entwicklung. Tatsache ist, dass beide Varianten mehr oder weniger gleichzeitig belegt sind, was einigen Forschern Anlass gab, die norwegisch-schwedischen Runen als die ältere Variante zu bezeichnen (vgl. Barnes 1 ).

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Abschnitt 3, »The futhark and the rune names«, ist viel zu kurz geraten und äußerst ungenau. Der Codex Leidensis überliefert beispielsweise kein ›rune poem‹, sondern lediglich die Runennamen, mit der einzigartigen Besonderheit, dass sie mit Runen und zusätzlich mit lateinischen Buchstaben völlig ausgeschrieben sind. Hingegen stellt das Abecedarium Nordmannicum in der Tat eine Art Runengedicht dar und wird heute nach opinio communis um 850 datiert (vgl. Bischoff 2 ). Zuletzt muss erwähnt werden, dass die Handschrift Cotton Otho X, die bekanntlich das einzige Exemplar des angelsächsischen Runengedichtes enthielt, zwar bei einem Brand verloren ging, aber davor von George Hickes 1705 veröffentlicht worden war. Somit relativiert sich Looijengas Aussage, der zufolge der Text »unfortunately lost« sei.

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Ebenfalls erscheint mir die schematische Darstellung der Runennamen verbesserungsbedürftig. Es fehlt die nordische Überlieferung der Runennamen des jüngeren Futhark und ein kurzer Überblick über die Lautwerte sowie die Deutungsschwierigkeiten im Falle einiger Runennamen (beispielsweise gilt es nicht als endgültig bewiesen, daß germ. *algiz, der Name der z-Rune, ›Elch‹ bedeutete).

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Gleich auf der ersten Seite räumt die Autorin ein: »there was no room for extensive linguistic considerations and exhaustive references to other interpretations«. Daraufhin stellt sich die Frage, wem mit einem derartigen Werk gedient sei. Ich sehe den Band als nützliches Handbuch für ›Einsteiger‹ an, die sich intensiver mit den älteren Runeninschriften beschäftigen möchten. Für Forscher fehlen hingegen oft ausführlichere, gründlichere Besprechungen der linguistischen bzw. graphemischen Eigenschaften der Inschriften, so dass das Werk nur neben anderen benutzt werden kann.

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Katalog

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Was den Katalog betrifft, erscheint mir dessen Aufbau − wie bereits erwähnt − sehr übersichtlich und logisch. Die Behandlung der Runeninschriften aus den verschiedenen Landschaften wirkt dennoch unterschiedlich. Es macht sich der bereits erwähnte ›Platzmangel‹ bemerkbar, vor dem wir auf der ersten Seite gewarnt worden waren. Die Besprechung der einzelnen Inschriften ist in der Regel ein wenig knapp, was in Anbetracht der großen Anzahl behandelter Inschriften sicherlich verständlich ist. Um sich nicht lange mit der Erwähnung von Deutungsschwierigkeiten herumschlagen zu müssen, tendiert die Autorin gelegentlich dazu, umstrittene Hypothesen als bewiesen zu präsentieren. So identifiziert sie beispielsweise tout court den Theoderic des Rök-Steins als »King Theoderic of the Ostrogoths« (S. 175).

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Vermisst wird v.a. in den Kapiteln 5–7 die Beschreibung der Runenformen und der graphischen Besonderheiten. Erst im 8. und 9. Kapitel kommt es zu einer ausführlicheren Besprechung der Inschriften, mit nützlichen Hinweisen auf die Runenformen. Die Abbildungen aller Objekte hätten natürlich solche Beschreibungen ersetzen können, wobei es klar ist, dass dies aus Kostengründen schwer realisierbar war.

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Grundsätzlich gewinnt man den Eindruck, dass Looijenga sich am besten im System des älteren Futhark auskennt, während sie mit der späteren Entwicklung der verschiedenen Runenreihen nicht immer vertraut zu sein scheint.

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Bei der Besprechung einer Inschrift aus England macht sie beispielsweise den Leser darauf aufmerksam, dass die Rune ᛉ dort für den Laut x verwendet wird, und bezeichnet dies als »remarkable« (S. 286). Tatsache ist, dass im angelsächsischen Bereich die alte Rune ᛉ systematisch für x steht.

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Ebenfalls behauptet sie (S. 310), das Runezeichen ᛅ könne eine Variante der dänischen Rune für æ darstellen. Doch steht dieses Runenzeichen in der Langzweig-Variante des jüngeren Futhark durchgehend ausschließlich für den Lautwert a. Erst durch die mittelalterliche Vermehrung der Runenzeichen in der Kurzzweig-Variante wird in Norwegen das Zeichen ᛅ für æ hinzugefügt, während ᛆ weiterhin für a steht.

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Wie es zu erwarten war, ist das 9. Kapitel am ausführlichsten. Looijenga zeigt hier ihre langjährige Beschäftigung mit den Funden und den Inschriften aus den Niederlanden und kann uns ihre Kenntnisse musterhaft vermitteln. Es wäre vielleicht für ›Laien‹ nützlich gewesen, gleich am Anfang des Kapitels ›gewarnt‹ zu werden, dass die Runenformen des friesischen Corpus extrem variabel und ungewöhnlich sind.

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Interpretation der Runeninschriften

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Eine durchaus positive Einstellung der Autorin, die sich durchgehend in der Interpretation der Runeninschriften widerspiegelt, besteht darin, dass sie zu den sog. ›skeptischen‹ Runologen gehört und äußerst vorsichtig gegenüber wilden Spekulationen auch im problematischen Corpus der älteren Runeninschriften ist (auf S. 16 behauptet sie: »In the case of apparently meaningless sequences there are two choices: either one gives up any attempt to interpret, or one tries to find a likely interpretation. The former option is unsatisfactory and the latter is dangerous, because one can easily be tempted into speculation«). Einen guten Ansatzpunkt stellt beispielsweise die Behauptung dar, die Inschriften könnten zwar eine magische und / oder kultische Bedeutung gehabt haben, doch in Anbetracht der Tatsache, dass die Mehrzahl der ältesten Runeninschriften lediglich aus Eigennamen bestehe, könne man nicht zwangsläufig von einer mantisch-magischen Anwendung der Schrift ausgehen.

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Andererseits bietet Looijenga, gerade um magische Interpretationen zu vermeiden, gelegentlich recht problematische Deutungen. Des öfteren zieht sie beispielsweise die Möglichkeit in Erwägung, verschiedene Inschriften als Stammesnamen zu lesen (S. 161, 333, 335, 337, 347). Dabei nimmt sie in Kauf, dass der Fundort des Runenobjektes und die vermeintliche Heimat der Stämme zu dem Zeitpunkt der Inschrift nicht miteinander übereinstimmen. Auf diese Weise erweisen sich die Deutungen als recht spekulativ.

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Ebenfalls ungenau erscheinen manche linguistische Interpretationen. Die stark verderbte Inschrift auf der Scheibenfibel von Osthofen (S. 252f.) belegt ein Wort fura, dass Looijenga zielsicher als Präposition mit der Bedeutung ›vor‹ identifiziert. Nun stellt fura ein Hapax legomenon für ein mehrfach belegtes fora dar. Um das darauffolgendes Wort zu rekonstruieren, schlägt Looijenga die beiden Möglichkeiten di(h) (Akk.) bzw. di(r) (Dat.) vor, ohne zu bedenken, dass fora ausschließlich den Dativ regiert.

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Fazit

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Auch ein gutes Werk bietet unvermeidlich Anlass zur Kritik. Doch alles in allem genommen stellt die vorliegende Arbeit ein nützliches Handbuch für die älteren Runeninschriften dar, einen Ausgangspunkt für weitere tiefgreifendere Forschungen. Looijenga hat jedem Runeninteressierten einen großen Dienst erwiesen, indem sie alle Inschriften auf den neuesten Stand zusammengetragen hat. Zu den überzeugendsten Punkten gehört sicherlich die gründliche, umfassende Schilderung des archäologischen Kontexts.


Dr. Alessia Bauer
Universität München
Institut für Nordische Philologie
Geschwister-Scholl-Platz 1
DE - 80539 München

Ins Netz gestellt am 12.01.2005

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Wilhelm Heizmann. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Oliver Dürselen.

Empfohlene Zitierweise:

Alessia Bauer: Handbuch für die älteren Runeninschriften. (Rezension über: Tineke Looijenga: Texts and Contexts of the Oldest Runic Inscriptions. Leiden, Boston: Brill 2004.)
In: IASLonline [12.01.2005]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=781>
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Anmerkungen

Michael P. Barnes: The Origins of the Younger fuþark – A Reappraisal. In: Runor och runinskrifter: Föredrag vid Riksantikvarieämbetets och Vitterhetsakademiens symposium 8–11 september 1985 (Kungl. Vitterhets Historie och Antikvitets Akademien, Konferenser 15) Stockholm 1987, S. 29–45.   zurück
Bernhard Bischoff: Eine Sammelhandschrift Walahfrid Strabos (Cod. Sangall 878). In: B. B.: Mittelalterliche Studien. Ausgewählte Aufsätze zur Schriftkunde und Literaturgeschichte 2. Stuttgart 1967, S. 34–51.   zurück