Torsten Schaßan

Über das Identifizieren mittelalterlicher lateinischer Texte




  • Richard Sharpe: Titulus. Identifying Medieval Latin Texts. An Evidence-Based Approach. (Brepols Essays in European Culture 3) Turnhout: Brepols 2003. 301 S. Paperback. EUR 35,00.
    ISBN: 2-503-51258-5.


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»Medieval texts live by their reception and are modified by their fortuna«. Dieses Zitat (S. 21) bezeichnet die Herausforderung, der sich der Autor stellt: die Rezeption eines Werkes in seiner Überlieferung zu entdecken und seine Veränderungen durch Fortuna zu entschlüsseln. Dem Zweck, die Probleme rund um die Katalogisierung mittelalterlicher Texte lösen zu helfen, ist der Essay gewidmet, der den ersten Teil der Monographie ausmacht. Im zweiten Teil werden Hilfsmittel versammelt, um diese Aufgaben zu bewältigen: eine kommentierte Bücherliste, gegliedert nach Autoren, Texten, bibliographischen Werken und größeren Textsammlungen.

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Als Band 3 der neuen Serie »Brepols Essays in European Culture« werden im ersten Teil auf 230 Seiten in 15 Kapiteln essayartig die Probleme diskutiert, die jedem vertraut sind, der sich jemals mit der Überlieferung mittelalterlicher Texte beschäftigt hat: ein und derselbe Text mag im Laufe der Zeit verschiedenen Autoren zugeschrieben worden sein oder verschiedene Titel getragen haben; andererseits können verschiedene Texte unter einem Titel in den Handschriften auftreten, so dass die Unterscheidung erschwert wird. Wie also können Texte und deren Autoren identifiziert werden?

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Was bedeutet Evidenz-basiert?

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Der Ansatz zur Identifikation ist »Evidenz-basiert«. Der Autor versteht darunter das Zusammenführen von bibliographischen Angaben über Autor und / oder Titel eines Werkes mit jenen Hinweisen, welche sich in der handschriftlichen Überlieferung finden. Vor allem diese zeitnahen Informationen sind es, die uns präzise und unzweideutige Aussagen über Texte erlauben. Sharpe verwendet den Begriff »to identify« vor allem in Abgrenzung von »to recognize«. Letzterer beinhaltet, dass zwei Texte in einem näheren, aber unbekannten Zusammenhang stehen. Solches ist zum Beispiel der Fall, wenn man zwei Textzeugen als Kopien eines Textes erkannt hat, aber noch keinen eindeutigen Autor beziehungsweise Titel des Werkes benennen kann. Die Identifikation besteht demgegenüber in dem Wissen, einen Text zu erkennen und eindeutig über ihn sprechen zu können. (»having or deriving the knowledge both to pin down the text and to communicate its identity«, S. 59)

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Die notwendigen Elemente zur Identifikation eines Textes sind zuerst Autor und Titel des Werkes, danach aber auch Incipit(s) und Explicit(s) und im Sprechen über den Text eventuelle Referenzen und Editionen (S. 63). Es bedarf nach Sharpe eines methodisch geleiteten Vorgehens, um aus den hinterlassenen Hinweisen die notwendigen Informationen gewinnen zu können. In der Vergangenheit haben seiner Meinung nach allzu oft die Bequemlichkeit beziehungsweise das Verlassen auf Informationen anderer oder ein zu hoher Grad an Spezialisierung die eindeutige Identifizierung von Texten verhindert: Benutzer und Editoren von Texten verlassen sich auf die Handschriftenkataloge, die Katalogisierer haben allerdings keine Möglichkeit, Texte zu vergleichen, da sie die Bestände von einzelnen Institutionen beschreiben. In den Katalogen wie auch in der Bibliographie mittelalterlicher Texte wurden die Merkmale, die die Handschriften aufweisen und die zur Identifikation dienen könnten, aber in der Regel nicht aufgeführt (S. 28 f.). Darüber hinaus sehen Paläographen nur Schrift statt auch Texte, Editoren nur Lesarten statt Bücher und betrachten die Handschriften allzu häufig nur als Siglen. Daraus ergibt sich oftmals ein Teufelskreis zunehmend fehlerhafter Informationsgewinnung.

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Mit der evidenz-basierten Identifikation von Texten dagegen steigt nach Meinung des Autors unsere Fähigkeit, über Texte zu sprechen und unser Verständnis davon, was im Mittelalter gelesen wurde und wie Texte in der handschriftlichen Überlieferung verbunden waren.

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It would allow us to treat medieval texts as medieval works, and, coupled with an awareness of the manuscript and library contexts of the middle ages, it would help us to reunite text and codex as medieval book. (S. 69)
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Um die Differenzen zwischen mittelalterlichem und neuzeitlichem Verständnis von Texten zu überwinden, empfiehlt Sharpe, den Kontext der Überlieferung – neben den Zeugnissen in den Handschriften selbst vor allem mittelalterliche Bibliothekskataloge – zu berücksichtigen. Vorbeugen möchte er auch der allzu schnellen Standardisierung von Titeln, da dies das nötige kritische Bewusstsein für die Komplexität der Probleme einschläfern kann.

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Manche der gezogenen Rückschlüsse aus vorher dargestellten Beobachtungen sind ebenso einfach wie einleuchtend: beispielsweise sollten in Referenzwerken latinisierende Namen für Texte, denen kein eindeutiger Titel zuzuweisen ist, vermieden werden. Ein (im Falle von Sharpe) englischer Titel macht stattdessen die historische Distanz zu den Texten deutlich und vermeidet den Eindruck, dass der Text tatsächlich unter dem zugeschriebenen Namen zirkuliert ist (S. 173).

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Beispiele und Prinzipien

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Als Ergänzung der zuvor eher narrativen Darstellung persönlicher Erfahrungen verdeutlicht Sharpe seine Vorstellungen eines methodisch geleiteten Vorgehens zur Identifizierung eines Textes gegen Ende ausführlicher an zwei Beispielen: im ersten liefern die Handschriften ein klares Bild, welches aber durch die Literatur vernebelt wird. Hier kommt es darauf an, sich nicht auf die Sekundärquellen zu verlassen, sondern das Zeugnis der Handschriften zu berücksichtigen. Das zweite Beispiel geht von einer Situation aus, in der die Evidenz der Handschriften stark variiert. Sharpe kommt es an dieser Stelle darauf an, »to show how separating tituli from their manuscript context can convert the transmitted evidence for title and author into a jumble of meaningless information.« (S. 218) In einem solchen Fall sollten »tituli« und Incipits Startpunkte der Untersuchung sein, eventuell sogar nur die Incipits. Autor (und Titel) sollten solange unberücksichtigt bleiben, bis vollständige Gewissheit herrscht. »When the evidence is analysed, author and title will emerge, sometimes quickly, easily, even obviously, and sometimes only after considerable thought and then perhaps as a complex of evolving perceptions.« (S. 244)

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In seiner Zusammenfassung hebt Sharpe die Bedeutung der Handschriften erneut hervor. Seine zentrale Frage lautet: »What would the manuscripts that contain the text tell me?« Im Zusammenhang der Benutzung der Referenzliteratur ruft er zu mehr kritischem Denken und Eigenverantwortung auf: »Do not simply accept what you are told. Ask, Where is the information coming from?« (beides S. 246)

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Aus seinen Erfahrungen leitet Sharpe sieben Prinzipien ab: (S. 246–248)

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1st »record the evidence of author and title that has been transmitted with the text«

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2nd »use the evidence of tituli in a text-critical way«

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3rd »put more weight on the manuscript in hand than on identifications culled from bibliographical sources«

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4th »be aware of the older bibliographical traditions and current conventions. […] In replacing bibliographical traditions with evidence-based identifications, it can be confusing if the connexions between old and new perceptions are not made explicit.«

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5th »reference-works and databases that exist to help research must be used both critically and creatively«

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6th »A rational awareness of complexity – whether it comes from the medieval evidence or from generations of overlay – coupled with searchability will serve scholarship better than a drive towards standardization.«

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7th »work from the known to the unknown«

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Einordnung in die Forschungstradition

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Richard Sharpe ist in seinen Ausführungen deutlich der Wissenschaftstradition der Bibliographical Studies verhaftet, was sich unter anderem in einem eher traditionellen Textbegriff widerspiegelt: neuere Diskussionen um Autorrolle und Textbegriff werden hier in keinster Weise berücksichtigt oder auch nur angedeutet. An welcher Stelle der oben vorgestellten Vorgehensweise Texte voneinander geschieden werden, inwieweit also Eingriffe in den Text durch Redaktoren / Schreiber / etc. einen anderen, einen neuen Text entstehen lassen, welche Rolle dabei der Autor einnimmt und welche Auswirkungen dies auf die Zuschreibung bzw. Identifikation hat, bleibt unklar. Implizit vermittelt Sharpe den Eindruck, dass letzte »Gewissheiten« in Bezug auf Text und Autor möglich sind.

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Aufgrund der enormen Erfahrung des Autors, die sich in zahlreichen Beispielen aus der Praxis widerspiegelt, sind die Ausführungen dennoch ein wahrer Genuss und Gewinn, flüssig und unterhaltsam geschrieben sowie konkret und praktisch nutzbar in der alltäglichen Editions- oder Katalogisierungsarbeit. Dass der Autor in der Argumentation auch auf eigene Fehler verweist, ist mehr als nur eine rhetorische Figur. Dabei spart Sharpe besonders im zweiten Teil, der Literaturliste, nicht mit teilweise harscher Kritik, die aber stets die gute Sache im Auge behält: Nützliches soll von weniger Hilfreichem geschieden werden. Ziel war »first to help my postgraduate students in Oxford find their way to what exists and learn how to use it.« (S. 10) Hier ist manch herzerfrischend-unwissenschaftlicher Kommentar zu finden. Über Thorndike / Kibre 1 heißt es beispielsweise: »One of those books which I can hardly pick up without wanting to throw it against the wall! But, alas, scientific writing is so voluminous and so little mapped that Thorndike / Kibre is almost indispensable – though it will rarely tell you anything that brings your search to a satisfactory conclusion.« (S. 278)

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Die reiche Gabe von Referenzwerken und deren Kommentierung ermöglichen den schnellen Einstieg in das Feld der Identifikation mittelalterlicher lateinischer Texte und befördern den kritischen Umgang mit diesen Werken. Allein schon deswegen gehört dieses Buch in jede Bibliothek und auf den Schreibtisch eines jeden, der mit mittelalterlichen Handschriften befasst ist. Der Autor betont, dass die Bemerkungen natürlich nur seine eigenen Vorurteile widerspiegeln und dass der Leser selbstverständlich anderer Meinung sein kann. Kann man, muss man aber nicht.


Torsten Schaßan, M.A.
Universität zu Köln
Historisch-Kulturwissenschaftliche Informationsverarbeitung
Kerpener Str. 30
DE - 50931 Köln

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Ins Netz gestellt am 02.08.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserer Fachreferentin Dr. Bettina Wagner. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.

Empfohlene Zitierweise:

Torsten Schaßan: Über das Identifizieren mittelalterlicher lateinischer Texte. (Rezension über: Richard Sharpe: Titulus. Identifying Medieval Latin Texts. An Evidence-Based Approach. Turnhout: Brepols 2003.)
In: IASLonline [02.08.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=788>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Lynn Thorndike / Pearl Kibre: A Catalogue of Incipits of Medieval Scientific Writings in Latin. Cambridge, MA 1937.   zurück