Michel Espagne

Internationalität einer »deutschen Wissenschaft«




  • Christoph König (Hg.): Internationales Germanistenlexikon 1800-1950. Walter de Gruyter 2003. LXXXV, 2200 S. Leinen. EUR 428,00.
    ISBN: 3-11-015485-4.


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Das von Christoph König herausgegebene internationale Germanisten-Lexikon ist einer der bedeutendsten Beiträge des letzten Jahrzehntes zur Fachgeschichte der Geisteswissenschaften, die im Marbacher Zentrum zur Erforschung der Geschichte der Germanistik eine Hochburg gefunden hat. Das Werk konnte Vorarbeiten von Wilhelm Voßkamp oder Klaus Weimar verwenden, um nur auf einige wenige Fachhistoriker der letzten Jahre zu verweisen. Beeindruckend ist zunächst der Umfang eines Unternehmens das nicht weniger als 1514 Lebensgeschichten von Germanistinnen und Germanisten umfasst, von denen etwa 870, d.h. nur 57 % in einem deutschsprachigen Land tätig gewesen sind. Zum ersten Mal wird also die Vorstellung der Germanistik als deutscher Wissenschaft oder gar Wissenschaft des Deutschtums zielgerichtet beseitigt. Dies erfordert eine neue Definition einer Wissenschaft, die lange als Selbstinszenierung der Nation vor allem einen unausgesprochenen Auftrag zu erfüllen hatte.

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In der kurzen aber sehr informativen Einleitung wird die Analyse der Forschungsgeschichte selbst zur Wissenschaft erklärt, und wenn eine Publikation die Zusammengehörigkeit von Fachgeschichte und Wissenschaft je bewiesen hat, dann ist es wohl dieses Lexikon, das in internationaler Kooperation aber mit starkem persönlichen Einsatz der Redaktion an der neben Christoph König auch Birgit Wägenbaur stark beteiligt war, entstanden ist.

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Die entscheidende Innovation ist, sagten wir gerade, die Entgrenzung. Obwohl die Auslandsgermanisten in vielen Fällen auch Muttersprachler gewesen sind (man denkt etwa an die starke jüdische Emigration, an die Elsässer in Frankreich), ihre Perspektive auf die deutsche Literatur- und Kulturgeschichte war notwendigerweise eine andere als die der Inländer. Die deutsche Literatur war für sie ein allgemeinmenschliches Erbe, das als solches den Studenten der verschiedenen Länder zu vermitteln war. Dieser Vermittlungsprozess implizierte eine sprachliche aber auch anthropologische Übertragung der deutschen Literatur in ein anderes semiotisches und kulturelles Umfeld, eine Übertragung, die das Gebiet der Germanistik drastisch erweitert. Für einen Russen oder Chinesen sind die deutschen literarischen Werke notgedrungen vor dem Hintergrund der anderen Kultur relevant.

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Die Laufbahn von Viktor Zirmunskij verbindet beispielsweise die germanistische Romantikforschung mit der Entstehung des Formalismus. Dass diese Erweiterung keineswegs als Substanzverlust oder als Durchbruch der Peripherie, sondern als eigentliche wissenschaftliche Legitimation verstanden wird, kann man nur begrüßen. Als ein muslimischer Germanist namens Mahmoud Ibrahim Ed-Dessuki Hermann Sudermann und Emil Ludwig ins Arabische übertrug, erhöhte er nur die Relevanz dieser Autoren und warf die Frage auf, wie der Leser in Kairo auf diese Bücher reagiert hat. Die Erweiterung der Perspektive hat sicher eine Rückwirkung auf die Wahrnehmung der innerdeutschen Germanistik gehabt. Je nach Kulturgebiet nimmt die Auseinandersetzung mit der deutschen Sprache und Kultur, unabhängig vom rein sprachlichen Unterricht, recht unterschiedliche Formen an, die bis zur Negierung der Germanistik als besonderes Fach (Russland) gehen. Insgesamt ist der Abbau einer historisch anthropologisch definierbaren Differenz unerlässlich.

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An diesen Kriterien gemessen muss aber die Inlandgermanistik auch revidiert werden. Autoren die außerhalb der Institution standen, aber eine starke Ausstrahlung hatten, politisch oder rassisch Verfolgte, die nie auf einen Lehrstuhl berufen wurden, sind als Germanisten zu betrachten. Wenn man den italienischen Aufklärer in Berlin Carlo Denina oder Benedetto Croce als Germanisten bezeichnen darf, dann gibt es keinen Grund, warum man Walter Benjamin diesen Titel verweigern würde. Auch müssen durch die Internationalisierung die Fachgrenzen relativiert werden. Wenn man berechtigterweise Georg Lukacs oder den Philosophen Roman Ingarden als Germanisten betrachtet, gibt es keinen Grund, den Philologen Karl Lachmann oder den Kunsthistoriker Gottfried Kinkel oder den Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer nicht ebenfalls aufzunehmen. Die Germanistik, die man ursprünglich als einen festen Gegenstand zu umreißen hoffte, ist am Ende eher ein offenes Problem, und es ist gut so.

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Jenseits der Institution

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Die getroffene Auswahl erlaubt eine Hin- und Herbewegung zwischen stereotypen Fachvertretern und den schillernden Figuren allseitig anerkannter Außenseiter. Als Germanist galt schließlich der Gelehrte, der in den jeweiligen Ländern für einen Germanisten gehalten wurde. Neben den großen Fachvertretern werden in Deutschland wie in den anderen Ländern Germanisten aufgenommen, deren Name man zum ersten Mal beim Durchblättern des Lexikons liest, die aber in ihrem Wirkungskreise eine besondere Bedeutung hatten. Und hier muss man die historische Akribie bei der Suche nach biographischen Details sehr loben. Für den Kulturhistoriker, der vom Lexikon ausgehend neue Fragestellungen entwerfen möchte, werden Hinweise auf Nachlassverzeichnisse oder Archivmaterial hinzugefügt. Auch die Etappen der Laufbahn oder die einzelnen Zeitschriftenpublikationen der Literaturwissenschaftler weltweit zu registrieren, erforderte eine mühsame archivalische Arbeit, ohne welche das Denkmal nie hätte gebaut werden können. Die Zusammenstellung der Publikationsliste war für einzelne Germanisten nie gemacht worden und bietet nun eine reiche Quelle für weitere Forschungsarbeiten. Neben der Angabe zu Mitgliedschaften in Gesellschaften und Akademien, die etwa den einzelnen Germanisten in seinem Kontext verorten, sind zwei Rubriken besonders wichtig. Die Liste der Schüler ermöglicht die Rekonstruktion von genealogischen Vernetzungen. Die Angaben über die Übersetzungen oder die belletristischen Publikationen schlagen eine Brücke von der reinen Wissenschaft zu anderen Formen der Aneignung literarischer Werke.

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Es wäre müßig eine Liste möglicher Lücken zu erstellen. Der Professor in Lyon Guillaume-Alfred Heinrich hat die erste akademische Geschichte der deutschen Literatur in Frankreich publiziert und musste als solcher erwähnt werden. Heinrich Heine hatte aber wenige Jahre vorher die Romantische Schule in französischer Sprache publiziert, deren Resonanz eindeutig stärker war als die der Literaturgeschichte Heinrichs. Wird man dem Herausgeber den abwegigen Vorwurf machen, dass er Heinrich Heine vergessen hat? Auch ließe sich über die Gewichtung der einzelnen Länder streiten. Gab es wirklich insgesamt nur 8 Chinesen und 4 Brasilianer, die man als Germanisten betrachten kann? Bei allem guten Willen ist hier wohl das Gefälle zwischen Peripherie und Zentrum nicht restlos überwunden worden. Andererseits ist die Entscheidung, den Grad der Wirksamkeit nicht nach der Anzahl der Schüler zu ermessen ein wichtiger Schritt in Richtung einer Rehabilitierung ›verhinderter‹ Germanisten, die gegen ihren Willen ihr Leben im Ausland fristen mussten.

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Dafür scheint die DDR-Germanistik eher spärlich vertreten zu sein, obwohl keine statistische Angaben im Band eine Übersicht über die akademische Pflege des deutschen literarischen Erbes im anderen deutschen Staat erlauben. Die Herausgeber hätten sich vielleicht noch deutlicher über die Tendenz zur Wertung der Germanisten an der Akademie der Wissenschaften, an der Humboldt-Universität, in Leipzig, Jena, Halle, Rostock und Greifswald hinwegsetzen können. Manche haben wohl genauso kontextabhängig gearbeitet wie die Emigranten der 1930er Jahre. Wichtige Ausnahme ist allerdings Hans Mayer, dessen Laufbahn und Publikationen sowohl in der DDR wie in der Bundesrepublik nach 1963 sehr genau erörtert werden. Die Aufnahme Karl-Heinz Hahns ist auch zu begrüßen, obwohl seine Funktion im Vorstand der deutsch-deutschen Goethe­gesellschaft nicht erwähnt wird.

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Auch wenn die deutsche Mediävistik von Quint, dem Eckhart-Herausgeber, bis Peter Wapnewski gut vertreten ist, haben die Herausgeber vielleicht eine uneingestandene Vorliebe für die Zeit der Geistesgeschichte, deren Hauptvertreter (Gundolf, Cysarz, Strich, Walzel, Nadler und bis zu dem vor Verdun gefallenen Hölderlin-Forscher Norbert von Hellingrath) beinahe vollzählig erörtert werden. Die Zeit der Geistesgeschichte – deren Gründungsvater, der Philosoph Dilthey, auch behandelt wird – kennzeichnet sich durch den Anspruch der Wissenschaft auf eine kongeniale Auseinandersetzung mit den Autoren der deutschen und überhaupt der europäischen Tradition. Denn die Germanisten sind oft allgemeine Literaturwissenschaftler mit germanistischem Schwerpunkt.

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Der 1848 vertriebene Karl Hillebrand, der seine Laufbahn in Frankreich fortsetzte und sich schließlich in Italien etablierte, hat vor allem über Frankreich und Italien publiziert. Man könnte ihn eher als Kulturwissenschaftler betrachten. Von Theodor Mundt, dem Schriftsteller des jungen Deutschlands, kennt man vor allem die belletristischen Produktionen (etwa Madonna) und die ästhetischen Beiträge. August Vilmar, dessen literaturhistorische Publikationen ein großes Echo fanden, war vor allem ein Gymnasiallehrer und wurde erst spät zum Professor für praktische Theologie in Marburg berufen. Der freie Schriftsteller Charles Du Bos, dessen Vermittlerrolle nicht bezweifelt werden kann, reihte die deutsche Literatur in die gesamteuropäische Literaturgeschichte, der sein eigentliches Interesse galt. Hier stellt sich die Frage der Komparatistik, die sich zum Teil auch mit germanistischen Themen befasst. Viele Komparatisten sind ins Lexikon aufgenommen worden. Nur vor der germanistischen Dimension der Romanistik sind die Herausgeber zurückgeschreckt. Im Laufe seines Lebens hatte Friedrich Diez immerhin 28 Vorlesungen über althochdeutsche Literatur und 27 Vorlesungen über deutsche Dichter des 13. Jahrhunderts gehalten.

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Die stufenweise Emanzipation vom engen institutionellen Rahmen einer Disziplin führt zu einer Grauzone von Figuren, die unter Umständen hätten auch aufgenommen werden können. Ob der deutschlandorientierte englische Schriftsteller Carlyle oder der Romanschriftsteller, Deutschlandberichterstatter und Kafka-Entdecker Alexandre Vialatte, oder Ferdinand de Saussure, der nach seiner Promotion in Leipzig immerhin zeitweise Gotisch unterrichtet hat, irgendwie zur Germanistik gehören, lassen wir dahingestellt. Eine solche Verlängerung der Liste aufgenommener Figuren hätte rasch zum uferlosen Problem »Deutschland als Inspirationsquelle« geführt. Wichtig ist vor allem der klare Hinweis darauf, dass die Vermittlung deutscher Sprache und deutscher Literaturtradition und die kritische Auseinandersetzung mit dieser Tradition sich nicht nur in einem institutionellen Rahmen abspielen und doch diesen Rahmen benötigen.

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Besonders hilfreich sind die verschiedenen Register, die den dritten Band abschließen. Die chronologisch angelegten Register von Promotion und Habilitation ermöglichen einen einmaligen Überblick über die Trends der Forschung. Die Register nach Wirkungsorten sind der Kern einer Darstellung der einzelnen Institute, die man auch hätte wünschen können, die aber den schon beträchtlichen Umfang der Arbeit gesprengt hätte. Wohl am nützlichsten wird aber wohl das kurze Register der Forschungsschwerpunkte sein, das uns sehr schnell einen Überblick über die Rezeption eines Autors unter den registrierten Germanisten verschafft. In dieses Register hätten eventuell auch linguistische Themen aufgenommen werden können. Überhaupt scheint die Linguistik, auch wenn ein ausführlicher Beitrag den Leser über Konrad Du­den informiert, leicht unterbelichtet zu sein.

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Die Frage
der Parteimitgliedschaft

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Die ersten Rezensenten haben sich unglücklicherweise auf die Erwähnung der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit einzelner Germanisten zur NSDAP konzentriert. Dadurch ist dem Lexikon ein schlechter Dienst erwiesen worden. Wie die unumgängliche Religionszugehörigkeit ist die Parteizugehörigkeit, so vorläufig und kontextbedingt sie auch sein mag, ein Moment der Biographie, und nur ein Moment. Jeder kann anschließend die Unterscheidung zwischen einem mehr oder weniger zufällig registrierten, kaum erwachsenen NSDAP-Mitglied und einem überzeugten Anhänger treffen, dessen spätere Schriften von einem völkischen Geist geprägt waren.

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Friedrich Sengle trat 1937 der NSDAP bei, aber seine erste Publikation nach der Katastrophe war eine Wieland-Biographie und seine Schüler Manfred Windfuhr und Jost Hermand gehören zu den anerkanntesten Heineforschern. Wenn die Herausgeber diese Parteizugehörigkeit verschwiegen hätten, hätten sie einfach die Gestalt eines der führenden Germanisten des 20. Jahrhunderts um ihre Komplexität gebracht. Andrerseits sind anerkannte Fachvertreter wie Walter Müller-Seidel nicht nur deshalb als wichtige Geisteswissenschaftler anzusehen, weil ihr Name sich in keiner Liste von jugendlichen NSDAP-Mitgliedern finden lässt. Man könnte sich aber ernsthaft fragen, was es für die Position des Faches bedeutet, dass einzelne Medien unter Hinweis auf das politische Bekenntnis von 18-jährigen die Disziplin selbst diskreditierten. Oder gab es in der NSDAP prozentual weniger Juristen, Historiker oder Volkswirtschaftler als Germanisten? Solange man die Schlussfolgerungen einer frühen Parteimitgliedschaft mit Augenmaß, d.h. als kritischer Historiker, zieht, bleibt diese biographische Angabe absolut wünschenswert.

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Es wäre sicher eine angemessenere Beurteilung gewesen, die internationale Öffnung der germanistischen Fachrichtung sowie den Versuch einer Definition des wissenschaftlichen Ansatzes jenseits der Institution als Hauptmerkmale dieses anspruchsvollen Werkes zu würdigen. Auch wenn man sich des Eindrucks schlecht erwehren kann, dass die Bilanz einer Disziplin sozusagen am Ende ihrer glorreichen Geschichte kommt, birgt gerade die Vielfalt der Definitionsansätze die Dynamik einer Erneuerung in sich. Das Lexikon ist also nicht nur den Germanisten, sondern denjenigen, die sich für die Geschichte (d.h. für die Vergangenheit und die Zukunft) der Geisteswissenschaften im deutschen Sprachraum interessieren als unumgänglicher Bestandteil ihrer Bibliothek wärmstens zu empfehlen.


Prof. Dr. Michel Espagne
UMR Pays germaniques (Transferts culturels)
45 rue d'Ulm
FR - 75230 Paris Cedex 05

Ins Netz gestellt am 16.07.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Hans-Harald Müller. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Michel Espagne: Internationalität einer »deutschen Wissenschaft«. (Rezension über: Christoph König (Hg.): Internationales Germanistenlexikon 1800-1950. Walter de Gruyter 2003.)
In: IASLonline [16.07.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=795>
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