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Psychoanalyse versus Dichtung

  • Oliver Pfohlmann: Eine finster drohende und lockende Nachbarmacht? Untersuchungen zu psychoanalytischen Literaturdeutungen am Beispiel von Robert Musil. (Musil-Studien 32) München: Wilhelm Fink 2003. 471 S. Kartoniert. EUR (D) 50,00.
    ISBN: 3-7705-3775-0.
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Gegenstände und Verfahren

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Oliver Pfohlmanns Untersuchung ist die gedruckte Version einer Dissertation, die 2001 an der Universität Bamberg angenommen wurde. Sie hat das Verhältnis zwischen dem literarischen Werk des Schriftstellers Robert Musil (1880–1942) und der Psychoanalyse bzw. der psychoanalytischen Literaturwissenschaft zum Thema. Im Rahmen dieser Aufgabenstellung behandelt das Buch in seinem Hauptteil – so weit ich sehe, sämtliche deutsch- und englischsprachigen – Literaturdeutungen an den Texten Robert Musils, die aus einem psychoanalytischen Blickwinkel oder mit Hilfe der Methodologie und der Begrifflichkeit der verschiedenen psychoanalytischen Richtungen und Schulen erfolgt sind. Dabei beschränkt sich die Untersuchung nicht bloß auf Sigmund Freud und seine Schule, sondern schließt auch Musil-Interpretationen ein, die Jung, Kohut und Lacan verpflichtet sind. Sie liefert eine umfassende Darstellung und Analyse des exakt abgegrenzten Untersuchungsmaterials, die auch für den Nicht-Fachmann und die Nicht-Fachfrau absolut gut lesbar ist.

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Dies verdankt sie zunächst dem Kunstgriff Pfohlmanns, bei der Kommentierung der psychoanalytischen Literaturdeutungen seine eigene Sprache zu verwenden, also die des Kulturwissenschaftlers mit journalistischer Begabung, und nicht dem Jargon der Freudianer, Jungianer, Lacanisten und Postlacanisten auf den Leim zu gehen. Mit dem deskriptiven Nachvollzug der mehr oder weniger gesamten literaturanalytischen Musil-Rezeption müsste für die Erlangung des Doktorgrads wohl genug getan worden sein, doch Pfohlmann setzt noch eins drauf und widmet sich in drei Skizzen, die ich als – äußerst wertvolle – Fleißaufgaben bezeichne, dem Verhältnis zwischen Wissenschaft und Literatur bei Freud, dem Verhältnis zwischen Literatur und Wissenschaft bei Musil, sowie am Ende einer Art theoriegeschichtlich-funktionalen Beziehungssetzung zwischen dem Literaturdiskurs und dem Wissenschafts-/Psychologie-Diskurs im 19. und im 20. Jahrhundert im Geist Luhmanns.

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Im Anhang (S. 401–448) befindet sich ein alphabetisch angeordnetes kommentiertes Verzeichnis des Untersuchungsmaterials, also der gesamten psychoanalytisch inspirierten Musil-Rezeption. Die Kommentierung der Texte im Anhang vollzieht den jeweiligen Deutungsinhalt nach und ergibt zusammengefasst ein vollständiges Mosaik der bisherigen psychoanalytischen Musil-Deutung. Allein für diese Zusammenstellung gebührt Oliver Pfohlmann bereits größte Anerkennung. Vor allem wegen seiner systematischen Art werte ich das ganze Buch als einen Meilenstein innerhalb der Musil-Philologie: es markiert den Übergang von monomanischen Einzelzugängen zu einer integralen Sicht auf das Werk Robert Musils, welche die Kontexte der Rezeption und des Diskurses in den Mittelpunkt stellen.

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Standorte

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Die Arbeit ist von ihrem theoretischen und methodologischen Ansatz her Pfohlmanns Bamberger Lehrer Thomas Anz und den von ihm verwendeten Zugängen zum Psychoanalyse-Diskurs im Zusammenhang mit Schriftstellern der Moderne wie Brecht, Kafka oder Döblin verpflichtet. Das ist die rezeptionsorientierte Warte eines Germanisten, der gelernt hat, Theoriegebäude relativ zu setzen und sie im Wettstreit der Diskurse eher gegeneinander auszuspielen statt sich ihnen völlig zu verpflichten. Oliver Pfohlmann geht bei seiner Untersuchung von keiner Theorie aus, die er in einem Vorspann der Untersuchung erst langmächtig erklären müsste, er zeigt sich offensichtlich auch nicht infiziert oder attachiert von einer der psychoanalytischen Schulen und ihren Deutungsinstrumentarien. Er nimmt den Standort eines Nach-Poststrukturalisten und Nach-Dekonstruktionalisten ein, um die Schulen und ihre Deutungsmethoden in einer strukturierten Rezeptionsgeschichte zu rekonstruieren und ganz gewiss auch zu historisieren.

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Dazu wendet Pfohlmann folgende Verfahren mit viel Geschick an: Gruppenbildung, Modellbildung und Formulierung von Fragen dort, wo die Deutungen ins Leere zu laufen scheinen. Es fiel offenbar nicht schwer, die untersuchten Literaturanalysen nach den angewandten Theorien zu gruppieren (Freuds Triebtheorie, Jungs Archetypenlehre, Kohuts Narzissmustheorie, Lacans strukturale Analyse, Kristevas dekonstruktivistisch-feministische Literaturanalyse). Im folgenden Schritt übernimmt Pfohlmann (von Michael Rutschky) zur Beschreibung der Funktionsweise von Literaturanalysen zwei konkurrierende Modelle, das ›Kooperationsmodell‹ und das ›Therapiemodell‹ und ergänzt sie aus eigenem um das ›Diskurs‹- bzw. ›Literaturmodell‹ und ordnet die Argumentationsstrategien in seinem Untersuchungsmaterial diesen Modellen zu. Das Kooperationsmodell verortet die Literatur als Bundesgenossen der Psychoanalyse, die deren Erkenntnisse vorwegnimmt, wohingegen das Therapiemodell die literarischen Autoren als Analysanden bzw. das in ihren Texten Dargestellte als Analysematerial identifiziert. Die beiden alternativen Modelle sind sinnvolle Ergänzungen, welche die Untersuchung vom Feld der psychoanalytischen Argumentation auf eine Metaebene der Reflexion heben: Das Diskursmodell, dem Pfohlmanns eigener Ansatz verpflichtet ist, ordnet literarische Texte und psychoanalytische Erkenntnisse, die in einem kulturhistorischen Interaktionsverhältnis stehen, einander zu. Das Literaturmodell erkennt in literarischen Texten der Moderne ein Potential der Psychiatrie- bzw. Psychoanalyse-Kritik.

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Systematisierend untersucht hat Pfohlmann anschließend die Objekte des Erkenntnisinteresses von Literaturanalysen. Er arbeitet am Beispiel Robert Musils heraus, in welcher Weise psychoanalytische Fragestellungen an die Autorbiographie und an den Produktionsprozess, an literarische Figuren und an literarische Formen und an Ausdrucksmittel – dies allerdings erst seit der strukturalen Analyse Lacans – herangetragen werden, inwieweit auch Rezeptionsvorgänge ins Visier der Psychoanalyse geraten und wie Psychoanalytiker Pathologisierungen und Wertungen literarischer Texte vornehmen. Schließlich diskutiert Pfohlmann auch die Frage, ob Literaturanalysen nicht als Konstruktionen zu werten sind, die als solche auf ihre Verfasser bzw. die von ihnen vertretenen Theorien zurückfallen, im Sinne der Freudschen ›Gegenübertragung‹. Pfohlmann stellt fest, dass ›Gegenübertragungsanalysen‹ fehlen (das heißt: es besteht ein Mangel an Selbstreflexion) und dass die ›Psychoanalyse der Psychoanalyse-Rezeption‹ der Texte Musils im Prinzip noch aussteht. Er lässt allerdings keine Bereitschaft erkennen, diese Analyse selbst durchzuführen, sondern hüllt sich in ›splendid isolation‹, auch was Abwertungen und Verurteilungen angeht, die ihm in manchen Fällen aber doch auf der Zunge zu liegen scheinen.

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Wertminderung
(der psychoanalytischen Literaturdeutung)

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Welche Ergebnisse zeitigt die Untersuchung? Pfohlmann lässt eine Vorliebe für Partiallösungen erkennen. Nach den einzelnen Abschnitten und Unterabschnitten sind Zwischenresümees eingeschaltet, in denen der Verfasser Kritik und Zustimmung zur Tragfähigkeit der einzelnen literaturanalytischen Ansätze formuliert. Es stellt sich der Eindruck her, dass psychoanalytische Lektüren der Musil-Texte zwar zum Textverständnis beitragen können, dass die von ihnen vertretenen Wahrheitsansprüche aber insgesamt als überzogen bezeichnet werden dürfen. In etlichen Fällen gelingt es Pfohlmann, auf Irrtümer und Wissensmängel aufmerksam zu machen. Musil-Texte werden aus ihrem Kontext gerissen interpretiert oder Kontexte sind den Interpreten unbekannt bzw. falsch. Bei seinen Überprüfungs- und Ergänzungslektüren machte Pfohlmann von der CD-ROM-Ausgabe des Musil-Nachlasses Gebrauch, eine Möglichkeit, die für die von ihm untersuchten Interpretationen noch nicht zur Verfügung stand.

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Seinen Vorsprung, was Musil-Textkenntnis betrifft, macht sich Pfohlmann zunutze, um an einzelnen Fällen Erkenntnisse als Pseudo-Erkenntnisse zu relativieren oder völlig ad absurdum zu führen. Generell jedoch wird die Tragfähigkeit literaturanalytischer Verfahren durch drei Faktoren erschüttert: Erstens werden Literaturanalysen als Vorwand missbraucht, um die Gültigkeit von psychoanalytischen Theoriegebäuden zu untermauern, die Deutung von Musil-Texten generiert dann automatisch das, was die Theorie erwarten lässt. Zweitens erweisen sich die Deutungen als inkonsistent, in der Argumentation und der Bewertung der Ergebnisse tun sich Widersprüche auf. Drittens mangelt es den psychoanalytischen Zugängen an Einsicht in die Geschichtlichkeit des Musil-Texts und ihres eigenen Analysezugangs. Viertens – und das wertet Pfohlmann mit Recht als ein Hauptmanko – besteht bei vielen Interpreten kein klares Wissen über die ›Bewusstheit‹ oder das ›Maß an Bewusstheit‹ des Autors Musil bei seinen literarischen Setzungen.

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Darum setzt er in der Skizze im letzten Teil seines Buchs dazu an, die Psychoanalyse-Kenntnis Musils zu rekonstruieren. Die Skizze bleibt unvollständig, wie Pfohlmann selbst eingesteht. Es macht einen großen Unterschied, ob etwas potentiell psychoanalytisch Bedeutendes im literarischen Text vom Unbewussten des Autors diktiert oder bewusst gesetzt ist. Pfohlmanns Recherche ergibt pauschal, dass wohl stets mit (einem gewissen Maß an) Bewusstheit des Autors zumindest zu rechnen ist. Dies jeweils exakt zu bestimmen wäre wohl eine unabdingbare Voraussetzung für künftige Literaturanalysen an Musil-Texten. Oliver Pfohlmanns Kommentare atmen einen gewissen Optimismus. Im Prinzip ›glaubt‹ er an die Möglichkeit, dass psychoanalytisches Wissen zur Aufhellung der Bedeutung von literarischen Texten beiträgt. Darum: Zurück an den Start!?

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Unbeschadet überstanden
(Musils Texte)

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Was den Musil-Leser angeht, so kann er sich nach all dem des Eindrucks nicht erwehren, dass die ›Dichtungen‹ Robert Musils vier Jahrzehnte lang Angriffe ziemlich unbeschadet überstanden haben. Ohnedies ergoss sich das Sperrfeuer psychoanalytischer Deutungen nicht auf alle Werke mit derselben Intensität, während der Törleß und die Novellen einschließlich der Amsel sich großer Beliebtheit erfreuten, fiel es bei den Schwärmern und dem Mann ohne Eigenschaften offenbar bedeutend schwerer, einen literaturanalytischen Zugang zu finden. Doch davon abgesehen, gilt generell: keine der Literaturanalysen konnte in einem Ausmaß klassisch werden, dass heute eine Lektüre des betreffenden Texts ohne den Rekurs auf die Deutung (sei es Törleß als Ödipus, die stille Veronika als Hysterikerin, Ulrich als Narziss) gar nicht mehr möglich schiene. Dies ist dank der Polysemie der Musilschen Texte nicht der Fall.

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Ob der Sachverhalt mit einer der beiden Diskurs-Linien zusammenhängt, die Oliver Pfohlmann herausstellte? Einerseits werde Musil von den Analytikern verdächtigt, es geradezu darauf angelegt zu haben, gegen das Psychoanalytische anzuschreiben und psychoanalytische Bedeutungen in seinen Texten zu verwischen. Dabei entstehen Textanomalien, ›blind spots‹; man kann es aber auch anders sagen: dabei bildet sich die besagte Polysemie – also geht der ästhetische Mehrwert aus der Verschleierung psychoanalytisch relevanter Komplikationen hervor. Mehr als um diese naive Version, die sich so explizit formuliert bei ihm gar nicht findet, ist es Pfohlmann um die große Linie zu tun, die er am Ende des Buchs zieht: Dabei geht es um rivalisierende Geltungsansprüche zwischen Psychologie und Literatur im Kampf um das Terrain ›Wahrheit‹; Musil entscheidet das Ringen, indem er der Wissenschaft (Psychologie) das Anrecht auf kausal begründete Wahrheit zuerkennt, aber der Dichtung und sich selbst als Dichter den Weg von der Wahrheit zur ›Möglichkeit‹ weist. Er sichert sich und seinen Lesern damit ein Feld, das von Motivierungen, von Bildern, von ganzheitlicher Gestaltung bestimmt ist und nicht von rationalen (Schein)Kausalitäten und partikularisierten Wahrheiten – und sich darum in einer unübersichtlichen Welt mit zerfallenden Kausalzusammenhängen überlegen zeigt.