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Stationen einer Hassliebe
Max Frisch und die NZZ

  • Daniel Foppa: Max Frisch und die Neue Zürcher Zeitung. Zürich: NZZ Libro 2003. 516 S. 20 s/w Abb. Gebunden. EUR 33,00.
    ISBN: 3-03823-041-3.
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Vor kurzem beklagte Pia Reinacher in der FAZ die Krise der Schweizer Gegenwartsliteratur, die nicht zuletzt auch eine Krise der Medien sei.

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An den Schweizer Feuilletons lassen sich die Krise der Printmedien seit 2001 und ihre Auswirkungen auf die Literatur geradezu modellhaft studieren. In den einflußreichen Leitmedien finden sich kaum noch Instanzen, welche die Schweizer Literatur kontinuierlich beobachten, begleiten und fördern. Eine Persönlichkeit vom Format eines Werner Weber, der in der NZZ die Generation der heute siebzigjährigen Schriftsteller konstant aufbaute, druckte und im ständigen Gespräch mit ihnen war, existiert nicht mehr. 1
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Internationalen Ruhm wie zu Zeiten eines Friedrich Dürrenmatt oder Max Frisch ernte die Schweizer Literatur heute nicht mehr. Wie sehr in der Tat gerade Max Frisch (1911–1991) in den Literaturdebatten des Feuilletons der NZZ rund sechs Jahrzehnte bis zu seinem Tod präsent war, zeigt die an der Universität Freiburg / Schweiz entstandene Dissertation von Daniel Foppa, die sich dem Verhältnis von Max Frisch zur Neuen Zürcher Zeitung widmet.

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Es sind denn auch weniger die bekannten Texte, denen sich Foppa »induktiv« vorgehend widmet, als vielmehr die »in Vergessenheit geratenen Texte«(S. 9) sowie vor allem die 46 im Zuge seiner ausführlichen Recherchen »neu entdeckte(n) NZZ-Texte«, die er mit Hilfe von NZZ-Texten über Max Frisch (bis zu seinem zehnten Todestag sichtet Foppa die Texte, die zu und über Max Frisch in der NZZ erschienen sind) sowie Frisch-Äußerungen über die NZZ in seiner »empirisch ausgerichteten Dokumentation« (S. 9) versammelt. Neben »Stil- und Themenanalysen« (S. 14) und einer Kontextualisierung der Texte folgen am Ende ausführliche Gespräche mit ehemaligen NZZ-Redakteuren wie Ernst Bieri (S. 357–362), Hanno Helbling (S. 362–370), Fred Luchsinger (S. 370–372), Beatrice von Matt (S. 373–377), Klara Obermüller (S. 377–381) und nicht zuletzt mit dem eingangs erwähnten Werner Weber (S. 381–387).

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Gerade die subjektive Deutung des Verhältnisses von Zeitung und Autor durch die NZZ-Redakteure rundet die materialreiche Darstellung entscheidend ab, stand doch bis dahin im Wesentlichen die Perspektive Frischs im Vordergrund. Hilfreich ist schließlich auch die detaillierte Übersicht über Frischs Beiträge in der NZZ, chronologisch und nach Stilformen geordnet sowie mit knappen Angaben eines möglichen Wiederabdrucks in Buchform versehen.

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Unbekümmerter Ton
des freien Journalisten Frisch

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Bekanntlich war die Beziehung zwischen Max Frisch und seinem Herkunftsland Schweiz ausgesprochen ambivalent. Nicht weniger zwiespältig war das Verhältnis von Frisch zur Neuen Zürcher Zeitung, für die er bereits als Zwanzigjähriger erste Artikel verfasste. Bis zu seinem Tod 1991 hat Max Frisch von 1931 an über 200 Artikel für die NZZ verfasst, »von denen die wenigsten in die Gesammelten Werke von 1986 aufgenommen wurden« (S. 9), wie Foppa bemerkt. Ihren Anfang nimmt die journalistische Tätigkeit Frischs 1931, als der Zwanzigjährige der NZZ-Lokalredaktion einen »kritischen Bericht über eine Theaterkunstausstellung aufs Geratewohl« (S. 19) zusendet. Ab 1932 – Frisch muss nach dem Tod des Vaters sein Germanistik- und Journalistikstudium abbrechen –»veröffentlicht Frisch in der NZZ sowie in weiteren Periodika regelmässig Artikel.« (S. 19)

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Und schon im Februar 1933 reist Frisch im Auftrag der NZZ und des »Tages-Anzeigers« nach Prag, um über die Eishockey-Weltmeisterschaft zu berichten. Die etwa achtmonatige Reise ist jedoch eher Mittel zum Zweck, um sich zunächst einmal als Journalist ausprobieren zu können, wie vor allem die Reisefeuilletons in dem von Walter Obschlager 2000 im Suhrkamp Verlag herausgegebenen Band »Im übrigen bin ich immer völlig allein« 2 belegen. Denn die Reise führt das »liebe Mäxelein« nach Abschluss der Weltmeisterschaft über Belgrad, Sarajevo, Dubrovnik nach Istanbul. 3 Es entstehen eine Reihe von Reisereportagen und Feuilletons, wobei die meisten der frühen NZZ-Texte durch Frischs »Anfeaturen« (S. 56) zu Beginn die Leseraufmerksamkeit wecken wollen.

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In seine Reisereportage eingeflochten finden sich stellenweise historische Abhandlungen. Sie fügen sich mit ihren vielfach oberflächlichen Behauptungen in die in betont unbekümmertem Ton gehaltenen Artikel. Frisch beabsichtigt offensichtlich, mit seinen Reportagen in erster Linie zu unterhalten, wobei sich auch reflektierende und erklärende Textteile dieser Absicht zu unterwerfen haben. Die Artikel erscheinen im Feuilletonteil, der in damals üblicher Weise mit einem Strich vom übrigen Teil der Zeitung getrennt wird. (S. 57)
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Anfangs ist die Beziehung Frischs zur NZZ durchaus unbefangen, ja unkritisch, sind doch seine frühen Texte weitgehend unpolitisch, wie Foppa an der im Mai 1936 erschienenen Lokalreportage Man badet wieder! deutlich macht. Der Text über die Saisoneröffnung des Wellenbades Dolder in Zürich

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ist ein klares Bekenntnis Frischs zur Unbefangenheit in politisch unruhiger werdenden Zeiten. Frisch selbst greift dabei zu einem treffenden Bild für seine apolitische Haltung jener Jahre – indem er die Badegäste mit dem Ablegen der Kleider zugleich auch ›den Zeitgenossen abstreifen‹ lässt. (S. 56)
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Foppa rubriziert 25 NZZ-Texte von Frisch als Lokalreportagen aus dem »Grossraum Zürich« (S. 46), 18 von ihnen »können als neu entdeckte Frisch-Texte gelten« (S. 47). Sie kommen – cum grano salis – ähnlich langatmig daher wie die Mehrzahl seiner Reportagen aus den Alpen, die in erster Linie Landschaftsbeschreibungen sind (vgl. S. 61).

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Frisch verfasst auch Aufführungs- und Vortragskritiken, Ausstellungs- und Zeitschriftenbesprechungen und nicht zuletzt Buchrezensionen: »Er bespricht zwischen 1932 und 1945 in 18 Artikeln 24 Werke. In den meist kurz gefassten Literaturbesprechungen erweist sich der Kritiker grundsätzlich einem bürgerlich-bewahrenden Standpunkt verpflichtet.« (S. 78) Insofern nimmt es nicht wunder, dass Frisch in den ersten Jahren als freier Journalist bei der NZZ nicht aneckt. Insgesamt, so Foppa, lassen seine NZZ-Rezensionen, die Auftragsarbeiten sind, »ihren Verfasser grundsätzlich als Anhänger einer vitalistisch-antiintellektuellen Literatur im Dunstkreis der Heimatdichtung erscheinen.« (S. 84)

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Journalistisch geht es für Frisch noch einige Jahre weiter. Allerdings veröffentlicht Frisch von »Beginn der vierziger Jahre« (S. 102) immer weniger Artikel in der NZZ.

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Insgesamt lassen die journalistischen NZZ-Texte Frischs, die binnen eineinhalb Jahrzehnten erschienen sind und »ein betont vielfältiges Themenspektrum« (S. 105) abdecken, »relativ wenig Spuren einer sich verändernden politischen oder weltanschaulichen Haltung ihres Autors erkennen« (S. 104). Dennoch sind sie nicht zuletzt auch für das literarische Werk von Interesse, tauchen doch vereinzelt, »erstmals Stoffe und Motive« (S. 105) auf, die später Eingang in das literarische Werk Frischs finden: so das Märchen von Rip van Winkle (7.10.32), die erste Nennung des Namens ›Andorra‹ (21.12.32) oder Themen im Umfeld von Frischs Beschäftigung mit der Identitätsproblematik (11.3.34). »Bezeichnenderweise«, so Foppas Resümee dieser ersten NZZ-Beziehungsphase, »sind diese frühen Texte meist in Vergessenheit geraten, und die Forschung bestimmt in der Regel Stellen aus dem Tagebuch 1946–1949 als Quellen für Frischs spätere literarische Werke« (S. 105).

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Irrelevanz unserer schweizerischen Existenz

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Schwierig wird das Verhältnis zwischen Frisch und der NZZ in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre. In der Auseinandersetzung und in »Stellungnahmen im Kontext der NZZ« (S. 126) wird, so Foppas These, Frisch zunehmend politisch sensibilisiert: »Dieser von 1945 bis 1948 ablaufende Prozess« deute sich bereits in seinem NZZ-Essay Über Zeitereignis und Dichtung an. Eigentlicher Ausgangspunkt sei jedoch Ernst Bieris Anschuldigung, Frischs Stück Nun singen sie wieder verwische die Schuldfrage sowie die von Frisch formulierte Replik vom Versagen des Geistes, die allerdings von der NZZ nicht abgedruckt wurde und stattdessen in der »Neuen Schweizer Rundschau« erschien. Anlass für einen ersten Höhepunkt der Auseinandersetzung ist der Schlusssatz in seiner Reisereportage vom 6. März 1948, der durch eine Leerzeile vom übrigen Text abgehoben lautet: »Ein Gefühl, das sich jetzt bei jeder Heimkehr nicht nur wiederholt, sondern von Mal zu Mal verdichtet: das Gefühl von der Irrelevanz unserer schweizerischen Existenz.« (S. 109) Foppa konstatiert eine »breite Wirkung« dieser Aussage, für Frisch die Initialzündung zu einer »kritischen Zeitgenossenschaft« und »für seine in diesen Jahren ansetzende Beschäftigung mit der Schweiz« (S. 111).

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Ein weiterer Höhepunkt im Prozess einer »gegenseitigen Entfremdung« (S. 126) ist eine polemische Auseinandersetzung in der NZZ um Frischs Teilnahme am Breslauer Friedenskongress 1948. Es war wiederum Ernst Bieri, der Frisch mit der Frage provozierte: »Die schweizerische Öffentlichkeit würde wohl gerne erfahren, wie sich die schweizerischen Vertreter zu den heftigen Ausfällen der russischen Sprecher gegen die westliche Welt verhielten und dem Manifest zustimmten« (S. 133). Frisch antwortet Bieri in einem Brief, den er zudem in der NZZ abdrucken lassen möchte. Frischs Bitte wird jedoch verweigert, während einige Tage später Bieri einen Satz aus dem Brief Frischs im Inlandteil der Zeitung zitiert und entsprechend kommentiert. Dieses wiederum versetzt Frisch in Wut, die er in einem scharfen Brief an den Feuilletonchef Eduard Korrodi zum Ausdruck bringt, der sich jedoch auf die Trennung von Politikteil und Feuilleton beruft. Infolgedessen hat »das NZZ-Feuilleton einen seiner regelmässigen Mitarbeiter verloren.« (S. 136)

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Die gegenseitigen Verletzungen gehen – nicht zuletzt auch im Gefolge der Nichtberücksichtigung der beiden Tagebücher – weiter. Möglicherweise war für das »Ignorieren« (S. 138) des ersten Tagebuchs auch eine verschlüsselte Karikatur Korrodis ausschlaggebend:

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Mit Sicherheit haben aber Frischs politisch-engagierte Tagebuch-Äußerungen zur vornehmen Gesellschaft Zürichs, seine Spitzen gegen die Presse (und damit gegen die NZZ), seine Kritik der bürgerlichen Gesinnung in der Schweiz und seine frühe Absage an das Blockdenken des Kalten Krieges den Widerstand der NZZ-Feuilleton- und Politikredaktoren hervorgerufen, bis hinauf zu Chefredakteur Bretscher. (S. 138)
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Immer wieder flackert ein Streit, flammen Meinungsverschiedenheiten auf, Wunden werden hüben wie drüben zugefügt und vernarben nur oberflächlich, sei es in der Auseinandersetzung um achtung: die Schweiz (1955) oder im Konflikt um Literatur und Öffentlichkeit, die Dankesrede Emil Staigers für die Überreichung des Literaturpreises der Stadt Zürich Ende 1966, oder im Zusammenhang mit den Jugendunruhen in Zürich.

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Frisch wiederum revanchiert sich mit einer ebenso offenen wie harschen Kritik an der NZZ, sei es in Interviews oder in seinem Werk. So heißt es in seiner Solothurner Rede Am Ende der Aufklärung steht das Goldene Kalb (1986) etwa:

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Allerdings protestiere ich auch, wo das hiesige Weltblatt schweigsamer wird: gegen die Folter in Chile (seit Salvatore Allende als Staatsoberhaupt, das in Washington nicht gefiel, ermordet worden ist) und gegen die Folter in der Nato-Türkei (wo der schweizerischen Industrie durch unseren Bundesrat eine Risikogarantie gewährt ist) und gegen die Folter in anderen Investitionsländern des real existierenden Kapitalismus. (S. 326)
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Die Kritik an der NZZ, so Foppas Fazit,

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fällt umso stärker aus, als sie Frischs eigenem hinterfragend-aufklärerischem Impetus nach eigentlich eine Verbündete sein sollte, auf Grund ihrer streng bürgerlichen Linie und ihres kompromisslosen Blockdenkens zur Zeit des Kalten Krieges in seinen Augen jedoch dieser Aufgabe nicht nur nicht genügt, sondern ihr vielmehr durch Scheinobjektivität zuwiderhandelt. Persönliche Enttäuschungen (Verrisse, Ignorieren von Werken und Ablehnen von Gegendarstellungen) und offene Fehden (in den Jahren um 1968) wirken sich zusätzlich darauf aus, dass Frisch zumeist auch dann die NZZ als Beispiel ins Feld führt, wenn er grundsätzlich Medien- oder Systemkritik betreibt. (S. 327)
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Wichtiger Blick in die Literaturgeschichte
zur Zeit des Kalten Krieges

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Pia Reinacher vermisst gegenwärtig Feuilleton-Persönlichkeiten vom Rang eines Werner Weber, die die Literatur fordern und fördern. Wie wichtig die von Reinacher geforderte »offene Diskussion der Verhältnisse« für den Literatur- und Kulturbetrieb im Allgemeinen und die Entwicklung eines Autors im Besonderen sein kann, zeigt Daniel Foppa am Beispiel des Verhältnisses von Max Frisch zur Neuen Zürcher Zeitung. So eröffnet Foppa summa summarum durch seine »möglichst lückenlose Dokumentation« (S. 15), die an manchen Stellen allerdings auch durch Redundanzen etwas ermüdend ist, ganz nebenbei einen nützlichen Blick in die Kultur- und Literaturgeschichte zur Zeit des Kalten Krieges.



Anmerkungen

Pia Reinacher: Freudlos im Hinterzimmer. Die Schweizer Literatur in der Krise. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 11, 13. Januar 2006, S. 31.   zurück
Max Frisch: »Im übrigen bin ich immer völlig allein« – Briefwechsel mit der Mutter 1933. Berichte von der Eishockeyweltmeisterschaft in Prag, Reisefeuilletons. Hrsg. von Walter Obschlager. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000. 320 S. 17 von 23 Reisefeuilletons werden erstmals wieder zugänglich gemacht.   zurück
»Entstanden ist in diesen acht Monaten ein Briefwechsel, der das ambivalente Verhältnis von Mutter und Sohn ebenso spiegelt, wie die Reisefeuilletons (…) Spuren des Virtuosen der Ich-Form ahnen lassen«, so meine Kurzbesprechung in: Germanistik 43 (2002; H.1/2), S. 485 f.   zurück