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Schiller als Historiker

Eine Lebens-, Werk- und Diskursgeschichte

  • Thomas Prüfer: Die Bildung der Geschichte. Friedrich Schiller und die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft. (Beiträge zur Geschichtskultur 24) Köln, Weimar: Böhlau 2002. VIII, 392 S. Paperback. EUR (D) 34,90.
    ISBN: 3-412-05802-5.
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Das Schiller-Jubiläumsjahr 2005 erbrachte aufschlussreiche Diskussionen um die Aktualität des Klassikers, bei der die Frage nach Schillers Verhältnis zur Geschichte zwar erörtert, aber nicht in ihrer ganzen Bedeutung gewürdigt wurde. Wie weit gespannt und zugleich gründlich fundiert Schillers Geschichtsdenken war, demonstriert dagegen die 2002 erschienene Dissertation Thomas Prüfers, die das Konzept des Historikers Schiller zum ersten Mal auf aktueller geschichtstheoretischer Grundlage rekonstruiert. 1

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Schillers historische Phase wurde im Gedächtnis von Forschung und Gesellschaft äußerst unterschiedlich rezipiert: Galt Schiller um 1790 noch als einer der bedeutendsten Geschichtsschreiber, so wurde er nach seinem Tod 1805 in erster Linie als Autor der Dramen Die Räuber, Don Carlos oder Wallenstein wahrgenommen, während führende Historiker des 19. Jahrhunderts, wie Niebuhr und Ranke, ihn nicht als Wissenschaftler akzeptierten und seine historischen Werke als Produkte »eines Dilettanten« (S. 3) ablehnten, der der Geschichte »vor 1787 und nach 1792 […] praktisch nur als Mittel und Zweck seiner Dichtung und Ästhetik Bedeutung« zumaß. Gerade durch den Verlauf der Rezeptionsgeschichte, in der Schiller »alle Zwangsformen einer kanonisierenden Interpretation erlitten hat«, angefangen bei der kurzen Phase als erster Geschichtsschreiber Deutschlands über den Status des Außenseiters der Historiographiegeschichte hin zum Spielball von zuletzt unterschiedlichen Deutungen der Anfänge moderner Geschichtswissenschaft (S. 21), sah sich Prüfer zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Historiker Friedrich Schiller herausgefordert.

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Konzentrische Kreise:
Lebens-, Werk- und Diskursgeschichte

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Als Ziel seiner Untersuchung nennt Thomas Prüfer nun die Schärfung der »Konturen dieses Phänomens«, wobei die rezeptionsgeschichtliche Forschung gezeigt habe, dass diese Untersuchung von einem Standpunkt aus unternommen werden muss, der sich »des komplexen Verhältnisses von Werk und Wirkung bewusst ist.« (S. 9) Um gerade dieser Komplexität gerecht werden zu können, bezeichnet Prüfer seine Vorgehensweise im Verlauf der Untersuchung als »konzentrisch«, womit er den Versuch beschreibt, »die Bedeutung der Geschichtsschreibung Schillers durch sich wechselseitig bedingende Analysen der lebens-, werk- und diskursgeschichtlichen Zusammenhänge einzukreisen.« (S. 9) Prüfer legt dieser Einkreisungsstrategie die Analyse von Schillers Antrittsvorlesung aus dem Jahr 1789 an der Universität Jena zu Grunde – einer »Programmschrift […], die den Problemhorizont des Historikers Schiller umreißt und damit zugleich eine reflektierte zeitgenössische Perspektive auf das Geschichtsdenken am Ende des 18. Jahrhunderts eröffnet.« (S. 23) Auf den »Spuren der Schillerschen Antrittsvorlesung« (S. 24) will Prüfer die Historiographiegeschichte nicht mit Friedrich Schiller als Gegenstand, sondern aus seiner Perspektive darstellen.

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Schiller und die Geschichte im
biographischen Kontext

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Als erstem ›konzentrischen Kreis‹ widmet sich Prüfer der Biographie Schillers. Geplagt von finanziellen Schwierigkeiten, auch nach seiner Berufung als außerordentlicher Professor nach Jena 1789, sei die Geschichte für ihn seit 1787 »Beruf und Berufung« gewesen – und kein »Kompromiss« (S. 36). Von zentraler Bedeutung sind hier, wie in anderen Kontexten, Begriffe wie ›Identität‹ und ›Reflexion‹. Zu Beginn seines Weimarer Aufenthaltes trifft er auf Herder und Wieland – für Prüfer der Auslöser einer »Identitätsreflexion«, die eine Erneuerung seines Verhältnisses zu sich selbst bewirkte und ihn veranlasste, »sein Selbstverständnis zu überprüfen und zu erneuern.« Die hierauf folgende Auseinandersetzung mit der Geschichte bezeichnet Prüfer ausdrücklich als »Bildungsprogramm« (S. 31), wodurch auch der Titel der Dissertation frühzeitig in seine Argumentation aufgenommen wird.

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Geschichte und Bildung

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Vom dritten Kapitel an (»Die Bildung der Geschichte«) setzt sich der Verfasser mit der Geschichte als Bestandteil eines Bildungsprozesses auseinander. Der Nutzen der Geschichtsschreibung liege für Schiller darin, »den Leser zum richtigen, d.h. normgemäßen Handeln anzuleiten.« (S. 100) Durch die Verbindung empirischer, philosophischer und poetischer Verfahren zum »Konzept einer ›reizenden Wissenschaft‹« sorge dieses Regulativ für die »Bildung des Menschen zur Humanität.« (S. 110) Diese Verbindung von Kunst und Wissenschaft spielt laut Prüfer eine zentrale Rolle: Beide arbeiten ›Hand in Hand‹, indem die Wissenschaft »die Re-Konstruktion der Wirklichkeit in intellektueller Gestalt« betreibt und die Kunst »die De-Konstruktion des Realen, aus der ein neues, fiktives Ganzes hervorgeht, das in sich selbst vollendet ist.« (S. 135) Fluchtpunkt beider Aspekte, Kunst und Wissenschaft, bildet für Prüfer die Konstruktivität, die er als »schöpferische Tätigkeit« beschreibt, welche Kunst und Wissenschaft in eine »ambivalenten Synthese« münden lässt. Diese »zeitgemäße Versöhnung« habe bei Schiller die Gestalt einer »kunstvollen Wissenschaft und wissensfundierten Kunst« (S. 136) angenommen. Die Geschichte, die für Schiller zunächst lediglich eine Ansammlung einzelner Daten und Ereignisse ist, erhält erst durch den »Standpunkt einer kunstvollen Wissenschaft« einen »inneren Zusammenhang.« (S. 145) Dieser innere Zusammenhang ist mit der »inneren Wahrheit« der (äußeren) historischen Ereignisse verbunden. Prüfer kennzeichnet diese Eigenschaft der Geschichte als »selbstreflexive Form« (S. 145), durch die Schiller »das rhetorische Konzept der Narration in einen modernen Begriff von Narrativität, der die Geschichte mit der Dichtung verband, ohne sie ineinander aufzulösen« (S. 146), transformierte.

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Geschichte und Anthropologie

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In Kapitel V (»Die Anthropologie der Geschichte«) rückt Prüfer die ›Komponente Mensch‹ in den nächsten konzentrischen Kreis seiner Untersuchung:

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Das Verhältnis von Mensch und Geschichte zählt zu den zentralen Fragen, die die Geschichtstheorie Schillers, also das System der Universalgeschichte, zu beantworten versuchte, da »der Mensch geschichtlich und die Geschichte menschlich ist.« (S. 158) Auch im Zusammenhang mit dem Titel der Untersuchung, der die Geschichte als Bildungstheorie thematisiert, nimmt die Anthropologie einen hohen Stellenwert ein, denn »die konsequente Ausdeutung der rekursiven Form des reziproken Verhältnisses von Mensch und Geschichte« führe zu einer weiteren ambivalenten Synthese von »historischer Anthropologie« und »anthropologischer Historie.« (S. 180) Prüfer sieht Mensch und Geschichte dabei in einem Verhältnis produktiver Wechselwirkungen: Allerdings reagiere der Mensch nach Schiller nicht nur auf äußere Einwirkung: »Die in ihm liegenden Kräfte müssen nicht erweckt werden, sondern werden von selbst aktiv.« Aus eigener Kraft erschaffe sich der Mensch als kulturelles Wesen – bedingt durch den »Trieb seiner Selbstthätigkeit.« (S. 182)

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Geschichte, Fortschritt, Dialektik

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Auf die Darstellung dieses Triebes lässt Prüfer ein Kapitel über den »Fortschritt der Menschheit« (Kapitel VI) folgen. Dieser Fortschritt vollziehe sich nach Schiller als »linearer Prozeß mit zyklischen Dimensionen, der spiralförmig verläuft.« (S. 205) Die in der Geschichte wirkenden Kräfte verkörpern dabei die Auswirkungen der dialektisch wirkenden »Antagonismen« (S. 206). Bei der Herausarbeitung der Fortschrittselemente im Schillerschen Geschichtsbild versucht der Autor zu verdeutlichen, dass eben dieses Geschichtsbild einen Übergang in Form der Transformation, nicht des Bruches, von einem pragmatischen Sinn zu einem idealistischen Sinn verkörpert. Die Eigenart Schillers bestand hierbei in einer »dezidiert konzeptionellen Deutung von Anfang und Ende der Geschichte.« Das teleologische Prinzip der kausalen Abfolge historischer Ereignisse wird von Schiller um einen in der Gegenwart des Geschichtsschreibers angesiedelten Zielpunkt erweitert – den »Zielpunkt des finalen Fortschritts.« (S. 208) Am Beispiel des »humanen Staates« verdeutlicht Prüfer diese Finalität der Geschichte: Die gesellschaftlichen Antagonismen, von denen Altruismus und Egoismus als Stellvertreter genannt werden, wirken als »treibende Kräfte« dialektisch auf das Ziel der »Gesellschaftsgeschichte der Menschheit« hin – auf den »humanen Staat«, in dem sämtliche Antagonismen miteinander versöhnt werden »und damit zur Ruhe gebracht sind.« (S. 223) Parallel dazu durchlaufe der Mensch eine Entwicklung des »Fortschritts der Menschheit zur Humanität« (S. 224), womit wiederum das reziproke Verhältnis von Mensch und Geschichte von Prüfer berücksichtigt wird.

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Geschichte und Historie

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Die letzten drei Kapitel widmet Prüfer dem Schillerschen Geschichtsbild aus der Sicht des Historikers, wobei er mit einer Behandlung der Geschichte aus erkenntnistheoretischer Sicht beginnt (»Die Epistemologie der Geschichte«). Die Quintessenz bildet hierbei die Unterscheidung Schillers hinsichtlich von »Geschichte und Geschehen« als erkenntnistheoretischer Paradigmen, denn der »an sich existierende Zusammenhang der ›Weltbegebenheiten‹ ist für den Menschen nicht als solcher, sondern nur über die Zeugnisse vergangener Zeiten erkennbar und in Form einer ›Weltgeschichte‹ rekonstruierbar.« (S. 244) Als weiteren epistemologischen Aspekt macht Prüfer die »konstruktivistische Dimension« (S. 254) der Geschichte aus. Dem Historiker fällt in der Darstellung dieses »konzentrischen Kreises« die zentrale Rolle zu: In einem Akt »historischer Sinnbildung« vergegenwärtigt er die Vergangenheit gleich einer »schöpferischen Wiederbelebung des Körpers der Geschichte […], dessen Skelett die Forschung ausgegraben hat und der durch philosophische Deutung und ästhetische Darstellung re-konstruiert wird« (S. 261).

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Geschichte und historische Sinnbildung

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Die konstruktivistische Tätigkeit des Historikers wird von Thomas Prüfer im vorletzten Kapitel unter methodischen Gesichtspunkten untersucht. Die Tätigkeit historischer Sinnbildung vollziehe sich in einem Dreischritt aus empirischer Forschung, Verbindung des fragmentarischen Materials zu einer zusammenhängenden und sinnvollen Geschichte sowie der Deutung der Geschichte als »schöpferisch gestaltender Akt.« (S. 263) Diesem Dreischritt lag eine »Integration von Philosophie und Poesie« (S. 271) zu Grunde, die es dem Historiker ermöglichte, eine »konstruktivistische Leistung einer philosophisch-poetischen Sinnbildung, die als organisierendes Zentrum Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung in einem Akt historischer Repräsentation integriert« (S. 277) war, zu vollbringen. Von zentraler Bedeutung ist hier die poetische Leistung des Historikers: »Die an sich tote Geschichte […] kann nach Schillers Überzeugung durch einen philosophisch-poetischen Geist belebt und befruchtet und so zu einem Kunstwerk werden.« (S. 324)

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Der doppelte Gehalt
des Terminus »Geschichtsbildung«

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Prüfers letzter »konzentrischer Kreis« greift den Titel seiner Untersuchung wieder auf (»Geschichtsbildung«). Schillers Geschichtstheorie gelinge einerseits die Begründung einer Vermittlungsleistung des Historikers, deren Zentrum die historische Sinnbildung bildet. Daher wirke die Historiographie im doppelten Sinne bildend:

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Indem sie die Vergangenheit als historischen Sinn (re-)konstruiert, gestaltet sie Gegenwart und Zukunft. Dabei ist der Historiker immer schon in Geschichte(n) verstrickt, insofern sein Wissen nicht nur Grundlage seines Wirkens, wobei dieses zugleich auch Moment des Wissens ist. (S. 331)
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Prüfer differenziert weiter zwischen verschiedenen Bedeutungsebenen des Bildungsbegriffes: Es seien zwei mögliche Kombinationen von Bildung hinsichtlich Schillers Geschichtsverständnis aufzuzeigen: »Die Geschichtsbildung, mit der die Bildungsfunktion der Geschichtsschreibung angesprochen ist, und die Bildungsgeschichte, die das geschichtliche Geschehen als Bildungsprozeß kennzeichnet.« (S. 351)

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Die »integrale Struktur« des Schillerschen Geschichtskonzeptes, so Prüfer, sei bis heute wirksam, da sich grundlegende Elemente noch »in der gegenwärtig elaboriertesten Geschichtstheorie, der Historik Jörn Rüsens« (S. 355), fänden, während ihr Inhalt deutliche Parallelen zur Geschichtstheorie Wilhelm von Humboldts aufweise.

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Fazit

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Mit der Untersuchung Die Bildung der Geschichte liefert Thomas Prüfer eine Studie, die die unterschiedlichsten Facetten des Geschichtsverständnisses Friedrich Schillers äußerst differenziert behandelt. Die geschichtstheoretischen Fragestellungen der einzelnen »konzentrischen Kreise« werden dabei vor ihrem historiographischen oder philosophischen Kontext dargestellt. Die Untersuchung bildet somit einen bedeutenden Beitrag zur Schiller-Forschung im Bereich des historischen Werkes Schillers. Lediglich ein Kritikpunkt ist zu formulieren: Zentrale Quelle von Prüfers Untersuchung ist die Jenaer Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte. Sie »ragt aus einer reichen Landschaft verwandter Schriften heraus.« (S. 353) Sicherlich darf die Bedeutung der Antrittsvorlesung aus dem Jahr 1789 nicht unterschätzt werden. Dennoch wäre, um Prüfers Worte aufzugreifen, eine etwas intensivere ›Landschaftskunde‹, also die Berücksichtigung der kleineren universalgeschichtlichen Vorlesungen oder der großen Monographien zum Dreißigjährigen Krieg oder der niederländischen Befreiungsbewegung, aus deren Einleitung Prüfer immerhin zitiert, wünschenswert gewesen. Sowohl Schillers historiographische Schriften als auch die Entwicklung seines Geschichtsverständnisses nach der Enttäuschung über den Verlauf der Französischen Revolution bewirken eine (implizite oder explizite) Abkehr von Positionen der Antrittsvorlesung, die Prüfer in eindrucksvoller Weise systematisiert und als die Geschichtskonzeption Schillers vorgestellt hat. Die weitere Forschung zu Schillers Geschichtsdenken hat bereits auf Prüfers Arbeit aufgebaut, 2 und sie wird über diese hinausgehen, dabei aber dankbar von deren synthetisierender Energie profitieren.

 
 

Anmerkungen

Eine neue Sicht auf den Historiker Schiller hatte ein von Otto Dann, Norbert Oellers und Ernst Osterkamp im Jahre 1995 publizierter Sammelband eingeleitet (Schiller als Historiker, Metzler).   zurück
Im Juni 2005 fand an der Universität Paderborn unter der Leitung von Jörn Rüsen und Michael Hofmann ein Kolloquium über Schillers Verhältnis zur Geschichte statt, dessen Beiträge 2006 im Fink-Verlag erschienen sind (Schiller und die Geschichte, hg. von Michael Hofmann, Jörn Rüsen und Mirjam Springer).   zurück