Silvia Serena Tschopp

Kulturwissenschaft(en) für Insider




  • Friedrich Jaeger u.a. (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Gesamtwerk in 3 Bänden. (Grundlagen und Schlüsselbegriffe / Paradigmen und Schlüsselbegriffe / Themen und Tendenzen) Stuttgart: J. B. Metzler 2004. 1783 S. Gebunden. EUR 179,85.
    ISBN: 3-476-01960-8.


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Dass wissenschaftliche Trends besonders zuverlässig am Buchprogramm jener Verlage, die sich primär an akademische Leser wenden, ablesbar sind, ist keine neue Einsicht. Die in den vergangenen Jahren zu beobachtende Konjunktur von Publikationen, welche im Titel oder Untertitel den Begriff ›Kultur‹ enthalten, steht denn auch in engstem Zusammenhang mit jenen Entwicklungen, die gemeinhin unter dem Schlagwort des ›cultural turn‹ subsumiert werden. Wenn neuerdings in dichter Folge Werke auf den deutschsprachigen Markt gelangen, die den Anspruch erheben, das weite Feld der Kulturwissenschaften auf umfassende Weise zu vermessen, darf dies als Indikator dafür verstanden werden, dass die Kulturwissenschaften mittlerweile einen Grad der Ausdifferenzierung und zugleich der Institutionalisierung erreicht haben, der es notwendig erscheinen lässt, sich ihrer zentralen Prämissen, Probleme und Postulate im Rahmen einer systematischen Gesamtschau zu vergewissern.

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In der Art und Weise, wie dies geschieht, unterscheiden sich Publikationen wie beispielsweise Konzepte der Kulturwissenschaften, 1 Grundlagen der Kulturwissenschaften 2 oder das hier vorzustellende Handbuch der Kulturwissenschaften allerdings in erheblichem Maße; Konsens herrscht, so der Eindruck, allenfalls darüber, dass der Terminus ›Kulturwissenschaften‹ geeignet ist, die in kulturalistischem Sinne reformierten nichtnaturwissenschaftlichen Disziplinen zu bezeichnen, nicht jedoch darüber, worin die gemeinsamen Grundlagen und Perspektiven einer zeitgemäßen kulturwissenschaftlichen Forschung bestehen.

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Kulturwissenschaften
oder Kulturwissenschaft?

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Das »theoretische Fundament« der »jungen Disziplin Kulturwissenschaft« zu evidenzieren, ist die im Klappentext verkündete Intention des bisher umfangreichsten Versuchs, die sich mit dem ›cultural turn‹ verbindenden paradigmatischen Verschiebungen innerhalb des Forschungsdiskurses und der Forschungspraxis der geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen systematisch zu reflektieren und im Überblick zu präsentieren. Weshalb an exponierter Stelle der im Titel des Werks im Plural verwendete Sammelbegriff ›Kulturwissenschaften‹ zur Bezeichnung für ein neues Fach mutiert, ist allerdings nicht einsichtig, geht es doch im Handbuch der Kulturwissenschaften sinnvollerweise nicht darum, die Matrix für eine wie auch immer zu beschreibende ›Superdisziplin‹ Kulturwissenschaft zu konzipieren, sondern darum, kulturwissenschaftliche Forschungsperspektiven in den verschiedenen Disziplinen zu vernetzen, ohne die »Pluralität teils traditioneller, teils neuer Fachwissenschaften« preiszugeben (Bd. 1, S. VII).

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Damit bewegt sich das Handbuch der Kulturwissenschaften in einem alle drei Bände durchziehenden Spannungsfeld: einerseits geht es darum, die »Vielfalt von Positionen, Zugriffen und Disziplinen« zu dokumentieren und damit der Heterogenität kulturwissenschaftlicher Ansätze und Fragestellungen Rechnung zu tragen, andererseits soll eine »systematische Reflexion von Grundlagen, Kategorien und Erkenntnisfeldern, von transdisziplinären Voraussetzungen, Implikationen und Funktionen des kulturwissenschaftlichen Denkens, von transdisziplinären Konstellationen, Verflechtungen und Überschneidungen« geleistet werden (Bd. 1, S. VIII). Wer mit der gegenwärtigen Diskussion um die Kulturwissenschaften auch nur oberflächlich vertraut ist, wird erahnen können, welch gleichermaßen faszinierende und herkulische Aufgabe ein derartiges Vorhaben bedeutet, eine Aufgabe, die, das sei hier vorweggenommen, in den einzelnen Bänden mit unterschiedlichem Erfolg gelöst wurde.

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Im Spannungsfeld von
Kohärenz und Kontingenz

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Angesichts der imposanten Zahl von rund hundert mitwirkenden Autorinnen und Autoren, kann es im Folgenden nicht darum gehen, einzelne Beiträge einer ausführlicheren Würdigung zu unterziehen. Der Fokus richtet sich vielmehr auf das sich in der Gliederung, in den Einführungen zu den einzelnen Bänden und schließlich in den durch die Autoren zu verantwortenden Kapiteln manifestierende Gesamtkonzept des Handbuchs der Kulturwissenschaften. Mit welchem Anspruch, so lautet demnach die Frage, tritt das Handbuch der Kulturwissenschaften auf und inwiefern gelingt es ihm, diesen Anspruch zu erfüllen?

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Grundlagen und Schlüsselbegriffe

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Besonders deutlich kommt die bereits angedeutete strukturierende Intention des Werks im ersten – mit »Grundlagen und Schlüsselbegriffe« betitelten Band zum Ausdruck. Anhand von sechs Leitkategorien – Erfahrung, Sprache, Handlung, Geltung, Identität und Geschichte – wird versucht, die heterogenen Ansätze und Perspektiven kulturwissenschaftlicher Forschung zu bündeln. Die Fokussierung auf die genannten Kategorien erscheint plausibel, ermöglichen sie es doch, zentrale Problemstellungen in ein Ordnungssystem zu integrieren, das den Horizont aktueller kulturwissenschaftlicher Reflexion einigermaßen verlässlich abbildet. Weniger plausibel ist bisweilen die Schwerpunktsetzung innerhalb der jeweils einer Leitkategorie zugeordneten Kapitel. Während die Beiträge zu ›Geschichte‹ sich zu einem facettenreichen und differenzierten Ganzen fügen, vermag das konzeptionell wenig geglückte Kapitel zu ›Sprache‹ nicht zu befriedigen: Die starke Gewichtung öffentlicher Kommunikation verdankt sich wohl eher dem besonderen Interesse, auf welches das Mediensystem in der jüngeren Forschung gestoßen ist, als systematischen Überlegungen; die spezifischen Funktionsweisen des Zeichensystems ›Sprache‹ werden nirgends einer hinreichend ausführlichen Analyse unterzogen. Problematisch ist schließlich auch das Kapitel ›Erfahrung‹, das wenig zu einer Klärung jenes Begriffs beiträgt, um den sich die einzelnen Beiträge auf bisweilen geradezu irritierend abstrakte Weise bemühen.

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Paradigmen und Disziplinen

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Im zweiten Band sind es die Schlüsselbegriffe ›Handlung‹ und ›Sprache‹, denen die Aufgabe zukommt, die unterschiedlichen Beiträge zu verklammern. Was der Band tatsächlich leistet, ist, wie der Titel »Paradigmen und Disziplinen« deutlich macht, zum einen eine Präsentation jener theoretischen Ansätze und methodischen Instrumentarien, denen innerhalb der gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Forschung besondere Signifikanz zukommt, und zum anderen eine Darstellung der Konsequenzen, welche die Hinwendung zu einer kulturalistischen Perspektive in ausgewählten geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern gezeitigt hat.

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Beschäftigen sich die Beiträge des ersten Kapitels noch mit dem Verhältnis zwischen den Kulturwissenschaften und lebensweltlichen Zusammenhängen, ist das zweite Kapitel zentralen Problemstellungen wie der Dichotomie von Realismus und Konstruktivismus, der Rolle des kollektiven Gedächtnisses, der Bedeutung des narrativistischen Paradigmas in den Kulturwissenschaften oder dem Verhältnis von qualitativen und quantitativen Methoden gewidmet. Zwei weitere Kapitel befassen sich mit theoretischen Konzepten wie Systemtheorie, Handlungstheorie, Institutionentheorie, Hermeneutik, Dekonstruktion oder Psychoanalyse. Zu den Disziplinen, die im letzten Kapitel des Bandes mit Blick auf deren Reformulierung im Zeichen des ›cultural turn‹ vorgestellt werden, gehören Politikwissenschaft und Soziologie, Ethnologie, Psychologie, Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaft, Philosophie und Theologie.

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Werkzeuge

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Der zweite Band dürfte den Erwartungen der Adressaten an ein kulturwissenschaftliches Handbuch am ehesten entsprechen, enthält er doch einen Überblick über jene ›Werkzeuge‹, auf die Kulturwissenschaftler mit Gewinn zurückgreifen können. Er bietet denn auch eine Reihe prägnanter und inhaltlich überzeugender Beiträge – diejenigen von Jürgen Osterhammel, Wulf Kansteiner, Andreas Göbel, Lutz Raphael, Doris Kolesch, Axel Horstmann oder Petra Gehring seien hier stellvertretend genannt –, offenbart jedoch auch einige grundlegende konzeptionelle Probleme: Zum einen gibt es zwischen den Beiträgen eine Vielzahl von Überlappungen, so etwa in den Kapiteln 9.1 und 9.4, die sich beide ausführlich mit Pierre Bourdieus Handlungstheorie befassen, oder in den Kapiteln 10.2 und 10.3, die eine Auseinandersetzung mit Jacques Derridas Poststrukturalismus bieten. Irritierend ist in diesem Zusammenhang nicht, dass sich zwischen einzelnen Kapiteln Berührungspunkte ergeben, sondern dass diese nur für den Rezipienten erkennbar werden, der alle Aufsätze liest.

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Abhilfe hätte hier ein Personen- und Sachregister geschafft, auf das die Herausgeber aus nicht nachvollziehbaren Gründen verzichtet haben. Dies ist umso bedauerlicher, als sich zwischen den Beiträgen nicht nur der einzelnen Bände, sondern des gesamten Werks eine Vielzahl erhellender Bezüge ergeben, deren Offenlegung sowohl die Benutzerfreundlichkeit als auch den Lesegewinn merklich erhöht hätte.

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Zum anderen lassen die disziplinenspezifischen Beiträge besonders deutlich erkennen, was für das Handbuch der Kulturwissenschaften generell gilt, nämlich, dass die Herausgeber den Autoren bei der Disposition ihrer Texte weitgehend freie Hand gelassen haben. In der Tat fällt auf, dass die Beiträge eine Vielzahl unterschiedlicher wissenschaftlicher ›Genres‹ abdecken: So finden sich wissenschaftsgeschichtliche Rekonstruktion neben programmatischem Entwurf, diskursgeschichtlicher Überblick neben empirisch fundierter Darstellung, konzise Einführung in ein Thema neben spezialisierter Detailstudie. Man mag eine derartige Mischung als anregend empfinden; wer allerdings mit der Erwartung an das Handbuch der Kulturwissenschaften herantritt, darin Artikel zu finden, die das jeweils behandelte Thema auf gleichermaßen grundlegende und umfassende Weise präzise und prägnant darlegen, wird nicht selten enttäuscht.

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Ordnung vs. Kontingenz

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Bemüht sich der erste Teil des Handbuchs der Kulturwissenschaften um systematische Ordnung, herrscht im dritten Teil der Eindruck jener Kontingenz vor, die im den Band eröffnenden Beitrag von Andreas Reckwitz als Begriff im Titel begegnet: In einem ersten Kapitel konstituieren Beiträge zu Religion und Kultur, zu Wissensgesellschaften, Natur und Kultur, zu Körper, zu Trauma, zu Eigenem und Fremdem oder zu Gedächtnis ein insgesamt sehr heterogenes Ensemble von »Brennpunkten einer kulturwissenschaftlichen Interpretation der Kultur« (Bd. 3, S. V). Die drei daran anschließenden Kapitel fokussieren kulturhistorische Perspektiven in den Bereichen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Auch diese Kapitel sind durch augenfällige thematische Vielfalt gekennzeichnet. So beinhaltet das Kapitel, das sich gesellschaftlichen Phänomenen widmet, Beiträge zu Lebensstilen, zu Männlichkeitskonzepten oder zur Stadt als kulturellem Raum.

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Bereits die aufmerksame Lektüre des Inhaltsverzeichnisses offenbart außerdem die Schwierigkeit, die Bereiche des Ökonomischen, des Sozialen und des Politischen trennscharf von einander zu scheiden. Soziale Klassen spielen, um nur ein Beispiel zu nennen, im dem Kapitel »Wirtschaft und Kapitalismus« zugeordneten Aufsatz von Thomas Welskopp ebenso eine Rolle wie in demjenigen von Michael Vester, der den dritten Beitrag des Kapitels »Gesellschaft und kulturelle Vergesellschaftung« bildet. In besonderem Maße entsteht hier der Eindruck eines Werks, das dem Leser zwar eine Vielzahl anregender und teilweise neuartiger Überlegungen und Einsichten bietet, den von den Herausgebern wiederholt formulierten Anspruch auf intellektuelle Ordnungsstiftung jedoch nicht wirklich einlöst. So gesehen ist es bezeichnend, wenn die im ersten Band exponierten Leitkategorien im dritten Band des Handbuchs der Kulturwissenschaften nicht mehr systematisch aufgegriffen werden. Den Band und das Werk als Ganzes, beendet ein ›Ausblick‹ von Jörn Rüsen, der Zukunftsperspektiven einer den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsenen kulturwissenschaftlichen Forschungspraxis entwirft.

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(K)ein Handbuch der Kulturwissenschaften?

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Der Anspruch mit dem die Herausgeber des Handbuchs der Kulturwissenschaften an die Öffentlichkeit getreten sind, ist kein geringer: Den wahrhaft weiten Gegenstandsbereich und die verwirrend vielfältigen theoretischen und methodischen Ansätze, die in ihrer Gesamtheit die Kulturwissenschaften konstituieren, wollen sie dem Leser in sachkundiger und systematisierter Form zugänglich machen; eine kritische Reflexion des bisher Geleisteten mit der Entwicklung zukünftiger Forschungsperspektiven verbinden und schließlich die angesichts zentrifugaler Tendenzen prekär gewordene »Legitimität der Kulturwissenschaften als Instanzen der kulturellen Deutung und Orientierung« (Bd. 1, S. VII) sichern. Dass Ihnen dies nur partiell gelungen ist, darf nicht allein den für das Konzept des Gesamtwerks Verantwortlichen angelastet werden. Wer selber Sammelbände oder Handbücher betreut hat, weiß, wie ungern sich die meisten Autoren auf ein vorgegebenes Ordnungsschema festlegen lassen.

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Dennoch wünscht sich der Leser bisweilen, die Herausgeber hätten den Mut gehabt, dort beherzt einzugreifen, wo, wie beispielsweise in den Beiträgen von Dietrich Böhler und Micha H. Werner (Bd. 2, S. 66–83), Michael Schödlbauer (Bd. 2, S. 395–415) oder Joachim Renn (Bd. 2, S. 430–448), der Abstraktionsgrad eines Textes den Genuss der Lektüre merklich mindert, wo, wie beispielsweise im Falle von Hartmut Essers Überlegungen zu »Sinn, Kultur und ›Rational Choice‹« (Bd. 2, S. 249–265) oder Frank Nullmeiers Versuch, die Bedeutung der Sprechakttheorie für die Politikwissenschaft zu umreißen (Bd. 2, S. 486–501), die Ausführungen nur für einige wenige Spezialisten von Interesse sein dürften oder wo, dies gilt etwa für Georg W. Oesterdiekhoff (Bd. 3, S. 303–317), ein Autor sich im wesentlichen darauf beschränkt, eine bereits an anderer Stelle postulierte These noch einmal zu exponieren, ohne dass dadurch deren Plausibilität erhöht würde. Dass es übrigens auch den Herausgebern nicht immer gelingt, die einem Handbuch angemessene ›panoramische‹ Perspektive einzuhalten, soll nicht verschwiegen werden. Die auffällige Präferenz für handlungstheoretische Ansätze im zweiten Band des Handbuchs der Kulturwissenschaften beispielsweise dürfte den diesbezüglichen Schwerpunksetzungen Jürgen Straubs, der als Mitherausgeber ebendieses Bandes fungiert, geschuldet sein.

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So verdienstvoll die im ersten Band zum Ausdruck gelangende Intention auch sein mag, Kategorien ins Gespräch zu bringen, die bislang nicht im Zentrum kulturwissenschaftlicher Diskussion standen, so fragwürdig erscheint es andererseits, auf eine Grundlegung jener Begriffe zu verzichten, die für das gewandelte Selbstverständnis der Geistes- und Sozialwissenschaften konstitutiv sind. Nicht einsichtig ist etwa, weshalb der Terminus ›Kultur‹ nicht an exponierter Stelle einer Klärung zugeführt wird. Erst im dritten Band holt Andreas Reckwitz mit seinem ebenso sachkundigen wie präzisen Beitrag nach, was wohl die meisten Leser bereits im ersten Band erwartet hätten. Reckwitz ist durchaus nicht der einzige, der sich um eine Bestimmung des aufgrund seiner Ubiquität schwer fassbaren Begriffs ›Kultur‹ bemüht. Um die in den Zusammenhang der einzelnen Autorenbeiträge eingebetteten Definitionen aufzufinden, bedarf es mangels Register allerdings nicht nur ausgeprägten Entdeckergeistes, sondern auch großer Geduld.

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Nicht weniger problematisch ist die marginale Rolle, die den Philologien und der Kunstgeschichte im Konzert der Kulturwissenschaften zugewiesen wird. Ein Blick in die Autorenverzeichnisse zeigt dies in aller Deutlichkeit. So befindet sich unter den insgesamt vier Autoren, die sich im ersten Band mit der Leitkategorie ›Sprache‹ befassen, kein einziger Sprach- oder Literaturwissenschaftler und auch im zweiten Band haben die Herausgeber mit Blick auf das Kapitel »Die Kulturwissenschaften und das Paradigma der Sprache« auf die sprachanalytische Kompetenz von Philosophen und weniger auf das Fachwissen von Philologen vertraut. Es bleibt dem Beitrag von Georg Bollenbeck / Gerhard Kaiser (Bd. 2, S. 615–637) überlassen, den den Literaturwissenschaften zugewiesenen Raum abzustecken. Noch prekärer dürfte sein, dass die sich mit dem ›iconic turn‹ verbindenden Entwicklungen innerhalb der Kunstwissenschaft so gut wie völlig ignoriert werden. Letztere gehört nicht zu den im zweiten Band vorgestellten Disziplinen; ›Kunst‹ wird vielmehr unter dem Begriff ›Medium‹ subsumiert und in Zusammenhang mit medienwissenschaftlichen Überlegungen thematisiert, ohne dass die hinsichtlich ihrer Form und Funktion unterschiedlichen Artefakte ›Text‹ und ›Bild‹ einer differenzierten Untersuchung unterzogen würden (vgl. Bd. 2, S. 638–655).

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Frank Nullmeiers kurze Ausführungen zu Bildanalysen (Bd. 2, S. 498 f.) oder Hans-Georg Soeffners / Jürgen Raabs »Ansatzpunkte für eine sozialwissenschaftliche Hermeneutik des Bildverstehens« (Bd. 2, S. 558–563) wiederum wird man kaum als ausreichenden Ersatz für eine fundierte Darstellung der Bedeutung kunst- oder genereller bildwissenschaftlicher Forschungsbestrebungen und der sich aus diesen Bestrebungen ergebenden Erkenntnisse akzeptieren wollen. Es liegt so gesehen in der Logik der Sache, wenn Ruth Sonderegger in ihrem Beitrag über »Die Kunst als Sphäre der Kultur und die kulturwissenschaftliche Transformation der Ästhetik« (Bd. 3, S. 50–64) den philosophischen Rettungsversuch eines durch die »kulturwissenschaftliche Nivellierung und Totalverdächtigung« (Bd. 3, S. 63) bedrohten, autonom gedachten Kunstbegriffs unternimmt, ohne im Kontext der Literatur- und Kunstwissenschaft entwickelte ästhetische Positionen zur Kenntnis zu nehmen. Spätestens an dieser Stelle kann sich der Leser nicht des Verdachts erwehren, dass die Herausgeber es mit der von ihnen programmatisch angekündigten Pluralität der (Fach)Perspektiven doch nicht so ernst meinen. Im Bemühen, jenes theoretische Fundament in den Blick zu rücken, das als gemeinsamer Nenner der Kulturwissenschaften beschrieben werden kann, verlieren sie, so der Eindruck, bisweilen die spezifischen Diskurse und Praktiken der kulturwissenschaftlichen Disziplinen aus den Augen.

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Fazit

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Man kann dem Handbuch der Kulturwissenschaften mit guten Gründen konzeptionelle Schwächen vorwerfen, man kann bemängeln, dass einige geistes- und sozialwissenschaftliche Fächer eine eher stiefmütterliche Behandlung erfahren, man kann darauf hinweisen, dass zentrale Begriffe innerhalb der aktuellen Diskussion – zu denken wäre neben ›Bild‹ etwa auch an ›Performanz‹ – tendenziell unterbelichtet bleiben, man kann schließlich bedauern, dass die in der Einleitung zum zweiten Band versprochene »begriffliche Klarheit« und »argumentative Bestimmtheit« (Bd. 2, S. XIII) nicht immer erreicht wird, dennoch gilt, dass das Werk allen vorgängig formulierten Einwänden zum Trotz Beachtliches leistet.

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Es geht erstens das Wagnis ein, die Kulturwissenschaften, ungeachtet ihres den Herausgebern sehr wohl bewussten Hangs zur Kontingenz, als vernetztes System theoretisch zu fundieren, und reflektiert in diesem Zusammenhang eine Reihe von Schlüsselbegriffen auf vertraute und zugleich neuartige Weise; es bietet dem Leser zweitens einen Überblick über die im deutschsprachigen Raum dominierenden kulturwissenschaftlichen Paradigmen und es enthält drittens und vor allem eine ganze Reihe informativer und inspirierender Beiträge, die die Lektüre lohnen. Besonders hervorzuheben ist außerdem, dass das Handbuch der Kulturwissenschaften manche überraschende Anregung birgt: Die Idee, die vielfältigen Diskursformationen innerhalb der Kulturwissenschaften mittels ausgewählter Leitkategorien zu strukturieren und in ein konsistentes Modell zu integrieren, ist ebenso bestechend wie schwer zu verwirklichen; der Einbezug der Naturwissenschaft (Bd. 3, S. 175–193), die Fokussierung auf kulturwissenschaftliche Interpretationen ökonomischen Handelns (Bd.3, S. 195–224) oder die Einbettung des Rechts in kulturwissenschaftliche Problemzusammenhänge kann als durchaus originell bezeichnet werden.

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Herausgeber und Verlag des Handbuchs der Kulturwissenschaften haben ein Werk vorgelegt, das den im Titel postulierten Anspruch nur bedingt einlöst und dennoch den Weg in manches Büchergestell finden dürfte. Wer an das Handbuch der Kulturwissenschaften die Erwartung knüpft, darin durchwegs benutzerfreundlich aufbereitete, gut lesbare Artikel mit einführendem Charakter zu finden, wird enttäuscht; wer sich hingegen von der Theorieverliebtheit der Editoren und auch einiger Autoren nicht abschrecken lässt, erntet als Frucht seiner zugegebenermaßen anstrengenden Lektüre eine Vielzahl von Anregungen und neuen Einsichten.


Prof. Dr. Silvia Serena Tschopp
Universität Augsburg
Europäische Kulturgeschichte
Universitätsstr. 10
DE - 86159 Augsburg

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Ins Netz gestellt am 04.11.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.

Empfohlene Zitierweise:

Silvia Serena Tschopp: Kulturwissenschaft(en) für Insider. (Rezension über: Friedrich Jaeger u.a. (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Gesamtwerk in 3 Bänden. Stuttgart: J. B. Metzler 2004.)
In: IASLonline [04.11.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=809>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Ansgar Nünning / Vera Nünning (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart, Weimar: Metzler 2003.   zurück
Elisabeth List / Erwin Fiala (Hg.): Grundlagen der Kulturwissenschaften. Interdisziplinäre Kulturstudien. Tübingen, Basel: Francke 2004.   zurück