Dorit Müller

»Liebesheirat« oder »Vernunftehe«?

Beziehungen zwischen Literaturwissenschaft und Linguistik seit 1960




  • Ulrike Hass / Christoph König (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik von 1960 bis heute. (Marbacher Wissenschaftsgeschichte 4) Göttingen: Wallstein 2003. 304 S. Kartoniert. EUR 29,00.
    ISBN: 3-89244-698-9.


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1972 verspricht sich Jens Ihwe von einer linguistischen Literaturwissenschaft eine »grundlegende Änderung des bisherigen Literaturbetriebs ›auch von innen her‹«. 1 Fünfundzwanzig Jahre später konstatieren Ingrid Kasten, Eva Neuland und Jörg Schönert in einem Aufsatz Literaturwissenschaft und Linguistik, dass die weitreichenden Erwartungen an eine linguistisch informierte Literaturwissenschaft enttäuscht und weiterführende Vorschläge vergessen wurden. 2 2003 erscheinen zwei Publikationen, die sich dem Verhältnis der Teilfächer erneut zuwenden: ein von der »Gesellschaft für Angewandte Linguistik« angeregter Sammelband zum Thema Berührungsbeziehungen zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft 3 und der vorliegende Tagungsband. Die beiden jüngsten Veröffentlichungen treten mit dem Anspruch auf, die Teilfächer ins Gespräch zu bringen und über gemeinsame Arbeitsfelder nachzudenken.

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Ausgangspunkt dieser Diskussionen ist ein brisantes Kapitel germanistischer Fachgeschichte. Ende der 1960er Jahre wurde das Fach umstrukturiert. Die ›Alte Abteilung‹, in der Literatur vor allem unter sprachgeschichtlichem Aspekt untersucht wurde, und die ›Neuere Abteilung‹ der Germanistik wurden neu geordnet. 4 Neben ›Ältere‹ und ›Neuere deutsche Literatur‹ trat die sich unter dem Einfluss strukturalistischer Theorien etablierende Linguistik, die in den 1970er Jahren für Bereiche der Literaturwissenschaft attraktiv wurde. Einerseits gab es Ansätze, linguistische Theorien für literaturwissenschaftliche Fragestellungen fruchtbar zu machen, andererseits versprach man sich – etwa von der Soziolinguistik – gesellschaftskritische Wirksamkeit. Spätestens zu Beginn der 1980er Jahre jedoch versiegte das Interesse der Literaturwissenschaft für die Linguistik und die bis heute bestehende institutionelle Struktur einer Dreiteilung des Fachs (hinzugekommen ist die Didaktik) verdankt sich weitgehend dem Curriculum der Lehramtsstudiengänge.

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»Kritische Würdigung
des vormals Unternommenen«?

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Der hier vorzustellende Band ist Ertrag einer Tagung, die im November 2002 vom »Marbacher Arbeitskreis für Geschichte der Germanistik« veranstaltet wurde. Anliegen der Herausgeber ist es, das Verhältnis von Linguistik und Literaturwissenschaft aus historischer Distanz zu betrachten – davon ausgehend, dass »heute [...] alte Konflikte und Interessen abgeebbt sind und man in der Trennung Sicherheit gefunden hat« (S. 10). Anders als der Band über die Berührungsbeziehungen zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft, der verschiedene Felder eines grenzüberschreitenden Arbeitens in den Mittelpunkt stellt, haben sich die Beiträger der vorliegenden Publikation vorgenommen, »erstmals eine gegenwärtige Problemlage des Fachs historisch« zu reflektieren und damit ein »kritisches Verständnis von Wissenschaftsgeschichte« zu bezeugen (S. 11).

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Ein solches Programm bedarf – will der Band nicht zu einem Sammelsurium verstreuter Ansätze und Überlegungen werden – einer theoretischen Perspektivierung. Eine historische Rekonstruktion der Vermittlungsformen zwischen den beiden Teilfächern hätte sich zunächst einmal mit Kategorien zur Beschreibung von Inter- und Transdisziplinarität auseinander zu setzen, um ein geeignetes Instrumentarium zur Konzeption und Vergleichbarkeit der historischen Studien zu gewinnen. Es müsste geklärt werden, welche Formen der Beziehungen überhaupt denkbar sind: z.B. die Annäherung über ein gemeinsames Forschungsthema, ein wechselseitiger Austausch auf der Suche nach neuen Lösungsansätzen oder die Verbindung über eine ähnliche Zielstellung, die im Rahmen eines gemeinsamen theoretischen Konzepts verfolgt wird.

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Überlegungen dieser Art finden sich in der Einleitung des Bandes leider nicht. Statt dessen schlagen die Herausgeber eine Systematisierung vor, die »dem Zusammenspiel von Übergängen, Institutionen, Methoden und Gemeinsamkeiten« folgt und die »Historiographie in eine kritische Würdigung des vormals Unternommenen« überführen soll (S. 12). Der erste Abschnitt (»Übergänge«) befasst sich mit dem Verhältnis von Disziplin, methodischer Innovation und politischer Reflexion in der Etablierungsphase der Linguistik und der damit verbundenen Teilung der Fächer. Der zweite Teil (»Institutionen«) fragt nach dem Einfluss institutioneller Bedingungen auf die Beziehungen von Linguistik und Literaturwissenschaft. Der dritte Teil (»Methoden«) diskutiert Theorie-Konzepte, die ihre Entstehung der damaligen Situation verdanken und sich bis heute für gemeinsame Problemlösungen anbieten. Der vierte Komplex (»Gemeinsamkeiten«) prüft Arbeitsfelder, die sowohl für die Linguistik als auch für die Literaturwissenschaften interessant sind und womöglich neue Kooperationsmöglichkeiten eröffnen.

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Zwischen Beharrung und Neuorientierung:
Die Etablierung der Linguistik

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Die Beiträge im ersten Teil (»Übergänge«) beschäftigen sich zum einen mit den Reaktionen der Altgermanistik auf die Etablierung der Linguistik und zeigen zum anderen, welche politischen Hoffnungen das neue Fach in linken Studentenkreisen hervorgerufen hat. Sie zeigen, dass eine Kooperation nach der Trennung der Teilfächer entweder nicht zustande kam oder von Seiten der Literaturwissenschaft sehr schnell wieder verworfen wurde.

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Ulrich Wyss konstatiert, dass die Etablierung der Linguistik und die damit einhergehende Neugliederung des Fachs für die altgermanistische Literaturwissenschaft keine tiefgreifenden Veränderungen mit sich brachte. Die Mittelalterwissenschaft konnte sich zwar – befreit von der Sprachgeschichte – stärker auf die Literatur konzentrieren, doch eine »Entphilologisierung« habe die Trennung von der Sprachwissenschaft nicht herbeigeführt. Eine intensive Kommunikation zwischen Linguistik und Mediävistik hat nach Wyss’ Ansicht nicht stattgefunden und scheint auch für die Gegenwart nur schwer vorstellbar.

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Dass die neu entstehende Linguistik für Vertreter einer studentenbewegten deutschen Literaturwissenschaft attraktiv war, weil man sich von ihr eine »Politisierung der Wissenschaft« und »Verwissenschaftlichung der politischen Kritik« versprach, erläutert der Aufsatz von Joachim Gessinger (S. 38). Das Verhältnis der Studentenbewegung zur Linguistik, so weist Gessinger für die Germanistik der Freien Universität Berlin nach, war jedoch nicht ungebrochen. Zwar überzeugte die »methodische Strenge und der naturwissenschaftlich-technische Appeal« der Linguistik, jedoch vermutete man hinter den »formalisierten Sprachbeschreibungen« auch ein »technologisch orientiertes Verwertungsinteresse« (S. 39). In dem Maße, in dem sich die theoretische Ausrichtung der Linguistik verstärkte, traten politische Intentionen zurück, was die Trennung zwischen den Fächern befestigte.

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Unklar ist, warum sich in diesem Teil ein Aufsatz von Erika Hültenschmidt zu Friedrich August Wolf und Gustav Gröber findet, der sich mit der Herausbildung der Grammatik zu einem Gliederungsprinzip der Philologien um 1800 beschäftigt. Auch die von den Herausgebern formulierte Begründung, es handle sich »nur scheinbar« um einen »entfernten Fall«, da sich zeigen ließe, »wie theoretische Neuerungen institutionell ihren Niederschlag finden« (S. 13), überzeugt nicht, da die politischen und institutionellen Bedingungen in den 1960er Jahren völlig andere waren als um 1800.

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Lehrerausbildung – Zeitschriften –
Gesellschaften

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Im zweiten Abschnitt soll es um Einflüsse von Institutionen auf das Verhältnis der Teilfächer gehen. Eva Neuland verfolgt die Bedeutung der Linguistik für die Professionalisierung der Lehrerausbildung . Kam es zunächst zu einer Verwissenschaftlichung der Deutschlehrerausbildung und zu einer Stärkung der Bezüge zwischen Germanistik und Fachdidaktik, so ließen sich die Positionen linguistischer Forschung zunehmend weniger mit didaktischen Reflexionen vermitteln. Denn für die systemlinguistische Theoriebildung sei der Anwendungsbezug irrelevant geworden (S. 75).

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»Wenn unsere Fächer tatsächlich Zukunftsrelevanz beanspruchen wollen, dann müssen wir Forschungsfelder besetzen, deren Bedeutsamkeit sich auch für Außenstehende erschließt« (S. 120). An diese Bedingung knüpft Gerd Antos eine »transdisziplinäre« Zusammenarbeit der Literaturwissenschaft mit der angewandten Linguistik. Am Beispiel der 1968 gegründeten »Gesellschaft für Angewandte Linguistik« zeichnet er den Weg einer Linguistik nach, die sich gesellschaftsrelevanten Problemstellungen verschrieben hatte und am ehesten bereit war für eine Kooperation mit den Literaturwissenschaften. An vier Themen deutet er an, wo gemeinsam interessierende Fragen liegen könnten: (1) in der Erforschung der Medienspezifik im digitalen Zeitalter; (2) im Bereich Deutsch als Kultursprache; (3) auf dem Gebiet Deutsch als Medium der Konstitution und Vermittlung von Wissen und (4) in der transdisziplinären Erforschung der Bewusstwerdung und des Bewusstseins von Sprache und Literatur (S. 116).

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Exemplarisch für den Vermittlungsversuch zwischen Sprach- und Literaturwissenschaften in den 1970er Jahren war die Siegener »Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik«. Achim Geisenhanslüke und Oliver Müller können in ihrer detaillierten Auswertung der Jahrgänge bis 1980 überzeugend nachweisen, wie sich der Anspruch einer interdisziplinären Verknüpfung von Philologie und Linguistik aufgrund methodischer Differenzen zunehmend auflöste. Dem Projekt habe von Beginn an eine »ungelöste Spannung« zwischen den Erwartungen von Linguistik und Philologie zugrunde gelegen (S. 94). Denn die angestrebte »Linguistisierung der Literaturwissenschaft« wies der Linguistik den Status einer Grundlagenwissenschaft zu. Die Literaturwissenschaft mit ihren Gegenstandsbereichen Literaturtheorie und Literaturgeschichte sollte der Linguistik nachgeordnet sein (S. 93).

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Dagegen hat sich eine stärkere Vernetzung von Literatur- und Sprachwissenschaft in der Auslandsgermanistik bis heute erhalten. Christopher Wells führt diesen Umstand am Beispiel der germanistischen Abteilung in Oxford auf drei Gründe zurück: eine pragmatische Ausrichtung auf die Sprachausbildung, die damit einhergehende Randständigkeit linguistischer und literaturwissenschaftlicher Theorien und eine enge Verkopplung von Kultur- und Sprachvermittlung (S. 127). Wie Harro Stammerjohann vergleichend für die romanistische Sprach- und Literaturwissenschaft in Italien nachweist, scheinen sich auch hier Verknüpfungen viel stärker als in der deutschen Germanistik zu ergeben. Insbesondere Sprachgeschichte und Lexikografie werden eng mit literarischen Arbeitsbereichen verkoppelt. Inwieweit dies mit institutionellen Bedingungen zu erklären ist, wird aus den Ausführungen jedoch nicht deutlich.

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Methodische Brückenschläge?

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Der dritte Komplex des Bandes versucht eine Verbindung von Linguistik und Literaturwissenschaft auf methodischer Ebene herzustellen. Hier rücken Konzepte der »kritischen Hermeneutik« und der Diskursanalyse in den Blick, deren heutige Ausprägungen unter Rekurs auf ihre in den 1960er Jahren entwickelten Ansätze und das in ihnen enthaltende Potential für eine Annäherung der Teilfächer neu diskutiert werden.

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In Aufnahme von Peter Szondis materialer Hermeneutik plädiert François Rastier für eine »antidogmatische«, »empirische« und »agnostische« Interpretationspraxis, die ihre eigenen Verfahren linguistisch analysiert, Konzepte der Evidenz überwindet und ihre sozialen Grundlagen reflektiert (S. 144). Um dieses Programm zu erläutern, liefert er eine nicht unproblematische Erklärung für die Differenz von Sprach- und Literaturwissenschaften. Die Linguistik hätte sich aufgrund eines »falschen Verständnisses ihrer Konstitution«, nämlich eine »logisch-formale und dann auch eine kognitive Wissenschaft zu sein« von ihren philologischen Wurzeln getrennt (S. 146). Zur Überwindung dieses Zustandes fordert Rastier, die »kritische Seite der Philologie, die textuelle Seite der Linguistik und die linguistische Seite der Hermeneutik« stärker zu betonen (S. 144).

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In seiner Entgegnung auf Rastier entwirft Christoph König ein Programm, das die von Rastier entwickelte hermeneutische »Semantik des Werks« mit dem Konzept der »Arbeit am Sinn« verbinden und damit die »philologische Spaltung von Wissen und Wert« zurücknehmen soll (S. 151). Die in den 1960er Jahren verfolgte Idee, die Disziplin über Theorien zu verwissenschaftlichen, habe die politischen Funktionen des »reinen Wissens« außer Acht gelassen. Das ethische Ziel eines jeden Interpreten müsse jedoch darin bestehen,

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in das Spektrum der Voraussetzungen, die er seiner Kritik unterzieht, die eigene Sozial- und Wissenschaftsgeschichte einzubeziehen und für sich und das Werk eine eigene Interpretationspraxis zu begründen, die ihren Wahrheitsanspruch aus dem diskursiven Agon mit anderen Deutungen gewinnt. (S. 151)
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Andere Akzente setzen die aus diskursanalytischer Perspektive verfolgten Auseinandersetzungen mit den Teilfächern. Klaus Michael Bogdal will den Diskursbegriff für eine Wiederaufnahme des Dialogs zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft nutzen. Seine Annäherung erfolgt in zweifacher Hinsicht: Zum einen begibt er sich auf »Spurensuche« nach den Anfängen der »Wissenschaftskarriere« des Begriffs, zum anderen versucht er dessen Gebrauch in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft zu präzisieren (S. 153). Hervorgegangen aus der linguistischen Textsortenlehre und der literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie, nehme die Diskursanalyse noch heute eine wichtige »Umschaltstelle« ein. Die literaturwissenschaftliche Diskursanalyse überschreite zwar nicht die Grenzen zur Linguistik, rezipiere jedoch ihre Ergebnisse und transformiere sie in das »weichere« Forschungsprogramm der Literaturwissenschaft (S. 163). Im zweiten Teil des Aufsatzes diskutiert Bogdal die Probleme und Leistungen des Diskursbegriffes für die Literaturwissenschaft, ohne auf einen gegenwärtig geltenden linguistischen Diskursbegriff einzugehen.

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Die Einnahme nur einer Perspektive kennzeichnet auch den Beitrag von Dietrich Busse, der sich dem Verfahren der Diskursanalyse in der germanistischen Sprachwissenschaft zuwendet. Seine »Zwischenbilanz und Ortsbestimmung« will Möglichkeiten und Perspektiven einer kulturhistorischen Semantikforschung »ausleuchten«. Ziel der Diskursanalyse, die sich »auf die in sprachlichen Einheiten vermittelten Inhalte selbst« richte, sei es, »die Gestalt und Funktionalität sprachlicher Ausdrucksmittel einer adäquateren Erklärung« zu zuführen (S. 184). Das Verhältnis zur Literaturwissenschaft spielt hier keine Rolle.

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Am Beispiel der Kollektivsymbolik fragt Jürgen Link danach, wie Einflussbeziehungen zwischen strukturalistischer Linguistik und formanalytischer Literaturwissenschaft seit den 1960er Jahren zu einer neuen Auffassung des literarischen Textes führten (S. 189). Er zeigt, dass die strukturalistische Symboltheorie eine Reihe von Leistungen hervorgebracht hat: sie führte zur Überwindung des hermeneutischen Topos von der »symbolischen Tiefe« und leistete damit einen Beitrag zur »Kritik an der Ideologie vom geschlossenen, organischen und stimmigen Werk«. Zugleich ermöglichte sie die Entwicklung »einer operativen Typologie von Spielarten des Symbols und symbolischer Operationen als Grundlagen literarischer Texte« (S. 193).

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Anders als die genannten Beiträge, die weitgehend ohne problematisierende Reflexion des jeweils gewählten Zugangs zu den z.T. selbst erfahrenen oder auch selbst in Gang gesetzten Entwicklungen im Fach vorgehen, stellt der Beitrag von Nikolaus Wegmann »Im Streit zur Literatur? Zum proprietären Gegenstandsverständnis der Literaturwissenschaft« dezidiert die Frage nach den Schwierigkeiten einer fachgeschichtlichen Rekonstruktion von Prozessen, die von den Beiträgern selbst mitgestaltet wurden. Er bringt das Dilemma auf den Punkt: Mehr oder weniger heben die Beteiligten eines solchen Projektes, wie ihn der Band repräsentiere, die »Vereinigungsprogrammatiken als Sternstunden der Fachgeschichte« heraus, beschwören »bahnbrechende institutionelle Lösungen« oder erzählen »eigene Wissenschaftlerbiographien« unter der »Leitformel« der bisher nur in Ansätzen erfolgten Einheit zwischen den Teilfächern (S. 199). Obwohl Wegmann außer Acht lässt, dass diese Auseinandersetzung durchaus auch mit kritischer Distanz geschehen kann, legt er wesentliche historiographische Fragen nahe: Wie schaffen sich Wissenschaftshistoriker einen Zugang zu fachgeschichtlichen Ereignissen, die sie teilweise selbst erfahren und gelenkt haben? Kann man mit der Wende ins Autobiographische über eine Feststellung von Defiziten hinauskommen? Wird man nicht unter Umständen in die Position des überlegenen Kritikers gedrängt, der mehr weiß als sein Fach? Und: Ist ein Vergleich zwischen den Fächern überhaupt ohne Klärung ihres jeweils zugrunde liegenden Gegenstandes möglich?

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Dieser letzten Frage geht Wegmanns Beitrag intensiver nach. Über das Phänomen des Literaturstreits versucht er sich dem Gegenstandsverständnis der Literaturwissenschaft anzunähern. In den Debatten um Literatur werde manifest, dass Literatur der »gesellschaftlichen Verpflichtung des Mediums« als Bedingung für den Streit unterliege (S. 207). Die Präferenz für einen emphatischen – ästhetisch und ethisch aufgeladenen – Literaturbegriff in der Literaturwissenschaft war für die Linguistik, so Wegmann, ein Grund für die Absage an den gemeinsamen Gegenstand. Andere Gründe sieht er in einer »mangelnden Interoperabilität«, ohne zu erläutern, was damit gemeint sei (S. 209). Dieses Ergebnis muss dann doch angesichts des vielversprechenden Anfangs enttäuschen, zumal Wegmann die Konstitutionsbedingungen des Gegenstands in der Linguistik nicht berührt.

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Während Wegmann die Ursachen für das Scheitern der Kooperationsbeziehungen der Linguistik zuschreibt, sieht Ulrike Hass diese auf der Seite der Literaturwissenschaft. Seltsamerweise dem Kapitel »Gemeinsamkeiten« zugeordnet, untersucht sie linguistische Sprachmodelle, um davon ausgehend das Verhältnis von Sprach- und Literaturwissenschaft zu klären. Gestützt auf Stellungnahmen im Lexikon der Germanistischen Linguistik und der Zeitschrift für Germanistische Linguistik, bestimmt Ulrike Hass das Verständnis von Sprache und Literatur in beiden Publikationen und zeigt, warum das gegenseitige Interesse für den jeweils anderen Gegenstand zu keiner programmatischen Verbindung von Sprach- und Literaturwissenschaft führte. Während die Literaturwissenschaft schon Anfang der 1970er Jahre ihren Gegenstand gegenüber der Linguistik als einem normativ und automatisierend vorgehenden Verfahren bewahrt wissen wollte, habe die Linguistik zunächst großes Interesse an der literarischen Sprache »als einer besonderen Varietät« bekundet (S. 266). Im linguistischen Forschungsalltag wurde dieses Interesse aufgrund der theoretischen Ausrichtung jedoch marginalisiert und heute spiele das Verhältnis von Sprache und Literatur keine Rolle mehr innerhalb linguistischer Sprachmodelle (S. 268). Wie bei Wegmann werden Anknüpfungsmöglichkeiten zwischen Literaturwissenschaft und Linguistik eher verneint.

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Gemeinsamkeiten – Konzepte –
Perspektiven

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Im Gegensatz dazu suchen die anderen Beiträge des programmatisch mit »Gemeinsamkeiten« überschriebenen Kapitels verbindende literaturwissenschaftliche und linguistische Arbeitsfelder. Eines dieser Felder war und ist die Rhetorik. Wilfried Barner verweist auf die Sprachhandlungs- und Gesellschaftsdimension der Rhetorik als einen gemeinsamen Ansatzpunkt für Literaturwissenschaft und Linguistik in den 1960er Jahren, der bis heute unter Etikettierungen wie Diskurs oder Interaktion vorhanden sei. Barner nennt vier Bereiche der Rhetorik, in denen eine Zusammenarbeit der Teilfächer möglich ist: die politische Rede, die Analyse der Rhetorik als System, die Figurenlehre sowie die Textlinguistik.

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Wer liebt eigentlich die Stilistik? fragt Ulla Fix und versucht, deren Stellung in und zwischen den Sprach- und Literaturwissenschaften näher zu bestimmen. Trotz ihrer Marginalisierung habe die Stilistik Literaturwissenschaft und Linguistik auf unterschiedliche Weise miteinander verknüpft. Das geschah zum einen unter dem Vorzeichen eines szientistisch-strukturalistischen und semiotischen Ansatzes, der Stil ausdrücklich einbezog; zum anderen unter dem Aspekt einer pragmatisch orientierten Textsorten- und Gattungsanalyse. Neuerdings beförderten Anregungen aus anderen Disziplinen wie Kulturwissenschaft und Soziologie den gemeinsamen Umgang mit einem semiotisch aufgefassten Stilbegriff.

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Dass der Ausschluss der normativen Stilistik und der damit verbundenen Stilübungen aus der Germanistik seit Ende des 19. Jahrhundert zu Problemen im philologischen Kernbereich führte, betont Hans Harald Müller. Trotz Forderungen nach einer stilkritischen Ausbildung zukünftiger Deutschlehrer, sei die normative Stilistik bis heute im »Vorhof der Wissenschaft« verblieben (S. 242). Von einer Kooperation zwischen wissenschaftlicher Stilistik und vorwissenschaftlichen Stilübungen würde, so Müller, vor allem auch die literarische Interpretation profitieren.

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Ein umfangreiches Arsenal an vielfältigen gemeinsamen Forschungsfeldern und Konzepten der Sprach- und Literaturwissenschaft stellt der Beitrag von Ernest W. B. Hess und Gesine Lenore Schiewer am Beispiel der Schweizer Germanistik vor. Dem Programm einer transdisziplinären Zusammenarbeit folgend, verweisen sie auf eine Reihe von Zugängen, die unmittelbare Anknüpfungsmöglichkeiten für beide Teilfächer bieten. Dazu zählen z.B. das Konzept einer pragmatischen Sprachgeschichtsschreibung, die sich insbesondere der Literatursprache widmet, dazu gehören Ansätze einer sogenannten pragmatischen Literaturwissenschaft sowie begriffsgeschichtliche Konzepte, aber auch die Orientierung an einer linguistischen Hermeneutik, die in der Gesprächsforschung an Bedeutung gewinnt. Im Gegensatz zu den meisten Beiträgen des Bandes, die das Verhältnis der Teilfächer zueinander problematisieren, wird hier ein überaus optimistischer Ausblick gegeben.

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Diese Zuversicht teilt auch der abschließende Beitrag des Bandes von Andreas Gardt. Er plädiert für eine kulturwissenschaftliche Orientierung der Sprachforschung, die Anschlussmöglichkeiten zur modernen Literaturwissenschaft eröffnet. Kulturwissenschaft versteht sich hier jedoch nicht im Sinne der im angelsächsischen Raum verbreiteten cultural studies, sondern knüpft an traditionelle Konzepte »kulturbezogenen« Arbeitens in der Sprachwissenschaft an. Aufgabe einer solchen Sprachwissenschaft sei es, die »Formen der sprachlichen Wirklichkeitsgestaltung analysierend nachzuvollziehen« (S. 288). Das kulturbezogene Herangehen soll jedoch nicht gegen rein systembezogene Analysen ausgespielt werden. Es geht Gardt vielmehr darum, die u.a. auf Noam Chomsky zurückgehende Unterscheidung zwischen beschreibender und erklärender Sprachwissenschaft in Frage zu stellen.

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Fazit

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Fragt man nach dem Gesamteindruck des vorliegenden Sammelbandes, so ist in erster Linie zu konstatieren, dass die Beiträge in ihren Fragestellungen und Herangehensweisen verschiedenartig ausgefallen sind. Das erschwerte in offenkundiger Weise ihre Systematisierung. So lassen sich zum Teil Bezüge zu gleich mehreren Gliederungsthemen herstellen (wie in den Beiträgen von Gerd Antos und Ulrike Hass); zuweilen wird die Relevanz für die Themenstellung nicht deutlich (wie im erwähnten Beitrag von Erika Hültenschmidt über Friedrich August Wolf und Gustav Gröber). Überdies gibt es Verweise auf Beiträge, die wohl in der zugrunde liegenden Tagung eine Rolle spielten, nicht aber in den Band aufgenommen wurden – so bezieht sich Wilfried Barner auf einen nichtabgedruckten Beitrag von Manfred Bierwisch (S. 221).

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Das durchaus anspruchsvolle Projekt einer kritischen Aufarbeitung der Beziehungsgeschichte von Literaturwissenschaft und Linguistik rückt ein grundlegendes Problem der Fachgeschichtsforschung in den Blick. Es geht um die erforderliche Distanz zum untersuchten Gegenstand, die umso stärker zu beachten ist, je näher die analysierten wissenschaftshistorischen Prozesse liegen. Im vorliegenden Band ist es nicht immer gelungen, die Grenzen zwischen Selbstbeschreibung, Forschungsbericht und historischer Rekonstruktion zu wahren. Vielfach geriet die übergreifende Themenstellung auf Kosten einer umfassenden Selbstbespiegelung in den Hintergrund. Zudem wurden alte Kontroversen zwischen Literatur- und Sprachwissenschaften in die Gegenwart hineingetragen und weitergeführt.

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Die meisten Beiträge verstehen sich als historische Fallstudien. Sie rekonstruieren (in durchaus heterogener Weise) Episoden und Aspekte einer wechselvollen Beziehung, ohne aber systematische bzw. übergreifende Problemstellungen zu entfalten. Fragen nach möglichen Zugängen einer Beschreibung und Analyse des vorgegebenen Forschungsproblems werden weitgehend ausgeblendet, historiographische Verfahren und Begriffe nicht diskutiert und auch die Herausgeber verzichten auf eine Perspektivierung der Vorarbeiten und der hier zusammengeführten Einzeluntersuchungen. Was bleibt, sind disparate Beobachtungen, die auf weiterführende theoretische und historische Modellierungen warten.


Dr. Dorit Müller
Universität Trier
Historisch-Kulturwissenschaftliches Forschungszentrum
FB II - Germanistik
Postfach 15
DE - 54286 Trier

Ins Netz gestellt am 17.08.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Hans-Harald Müller. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Dorit Müller: »Liebesheirat« oder »Vernunftehe«? Beziehungen zwischen Literaturwissenschaft und Linguistik seit 1960. (Rezension über: Ulrike Hass / Christoph König (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik von 1960 bis heute. Göttingen: Wallstein 2003.)
In: IASLonline [17.08.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=815>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Jens Ihwe: Linguistik in der Literaturwissenschaft. Zur Entwicklung einer modernen Theorie der Literaturwissenschaft (Grundlagen der Literaturwissenschaft 4) München: Bayrischer Schulbuch-Verlag 1972, S. 12. Ihwe plädiert dafür, eine »umfassende literaturwissenschaftliche Beschreibungssprache« zu entwickeln, die eine praktische Anwendung der Linguistik für literaturwissenschaftliche Fragestellungen ermöglicht.   zurück
Ingrid Kasten / Eva Neuland / Jörg Schönert: Literaturwissenschaft und Linguistik: Konsequenzen aus Kooperationen und Konfrontationen seit den 60er Jahren? In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 44 (1997) H. 3, S. 4–10, hier S. 7.   zurück
Michael Hoffmann / Christine Keßler (Hg.): Berührungsbeziehungen zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft. Frankfurt / M. u.a.: Lang 2003.   zurück
Vgl. Petra Boden: Probleme mit der Praxis. Hochschulgermanistik zwischen Wissenschaft, Bildung / Erziehung und Politik. In: Rainer Rosenberg / Inge Münz-Koenen / Petra Boden (Hg.): Der Geist der Unruhe. 1968 im Vergleich. Wissenschaft – Literatur – Medien. Berlin: Akademie-Verlag 2000, S. 181–225, hier S. 195 ff.   zurück