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»Berührung der Sphären« 1

Erhart Kästner, der »Virtuose des Staunens« 2

  • Julia M. Nauhaus: Erhart Kästners Phantasiekabinett. Variationen über Kunst und Künstler. Freiburg: Rombach 2003. 651 S. Kartoniert. EUR (D) 42,00.
    ISBN: 3-7930-9340-9.
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»Er war Bibliotheksdirektor, Kunstkritiker, Schriftsteller, Verehrer, Debattenteilnehmer, Streiter, Macher und Wanderer pp. Er hätte auch Botschafter sein können, wie Octavio Paz. Oder Kultusminister wie André Malraux« 3 , schreibt Arnold Stadler, Büchner-Preis-Träger 1999, in seinem einfühlsamen Nachwort zum Erhart Kästner-Lesebuch, das der Direktor der Wolfenbütteler Herzog-August-Bibliothek, Helwig Schmidt-Glintzer, anlässlich des 100. Geburtstages seines Vorvorvorgängers Kästner im Jahr 2004 zusammengestellt hat. Und in der Tat, der Facettenreichtum, der Person und Werk Erhart Kästners (1904–1974) auszeichnet, ist ebenso groß wie beeindruckend.

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Material- und quellenreiche Dissertation

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Spätestens der 100. Geburtstag vor drei Jahren bot eine willkommene Gelegenheit, den promovierten Germanisten und universell gebildeten Gelehrten Erhart Kästner, der unter anderem bei Korff in Leipzig studiert hatte, den zeitweiligen Sekretär Gerhart Hauptmanns (1936/37) 4 , den ehemaligen Dresdner Bibliothekar (1927–1940), den Förderer junger Literaten und vor allem den Kunstkritiker wieder zu entdecken. Eine spannende Möglichkeit, den vielfach »gegen den Fortschrittsstrom« 5 Reisenden neu oder allererst kennen zu lernen, eröffnet auch die 2003 von Julia M. Nauhaus vorgelegte Freiburger Dissertation Erhart Kästners Phantasiekabinett. Variationen über Kunst und Künstler, eine ebenso materialreiche wie akribische »quellengestützte Teilmonographie« (S. 14), die einleitend klarstellt, dass man bis dato »von einer dezidierten Erhart-Kästner-Forschung vorerst nicht sprechen kann.« (S. 15) Um so mehr ist die Kärrnerarbeit zu loben, die Nauhaus auf sich nimmt, um den Beitrag des »späte[n] Nachfahre[n] von Karl Philipp Moritz«, dem »Malerei und Literatur einander ebenbürtig« (S. 17) galten, zur »Geschichte der literarischen Kunstbetrachtung« (S. 13) zu situieren, die als Ganzes ohnehin noch nicht geschrieben sei.

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17000 Manuskriptblätter, 4000 Briefe,
300 Malerbücher und 40 Mappen mit Zeitungsartikeln

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Nauhaus’ »Darstellung beruht zum allergrößten Teil auf unveröffentlichten Materialien des in der Herzog-August-Bibliothek aufbewahrten Kästner-Nachlasses. Es wurden ca. 17000 Manuskriptblätter auf das Thema hin durchgesehen, zudem ca. 4000 Briefe – allein die Korrespondenz mit dem Insel-Verlag umfasst 983, diejenigen mit der Familie 856 Briefe – sowie 40 Mappen mit Zeitungsartikeln. Ergänzend konnten die fast 300 von Erhart Kästner für die Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel erworbenen Malerbücher in Augenschein genommen werden.« (S. 16) Ist die immense Authentifizierung der Quellen, ist die Autopsie der Annotationen mit Blick auf das Thema Kunst, Künstler und Kästner zu loben, hat Nauhaus’ Blickrichtung jedoch den nicht zu gering zu veranschlagenden Nachteil, dass »eine literarhistorische Einordnung von Kästners Schreiben lediglich nur ansatzweise« (S. 21) möglich ist. 6

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Nauhaus unterteilt ihre »quellengestützte Teilmonographie«, die alles in allem immerhin 651 Seiten umfasst, in sechs unterschiedlich gewichtige und gewichtete Kapitel. Ein »Anhang mit Erstveröffentlichungen von Briefen und Texten« (S. 495–533), unter anderem mit einem Exposé von Harry Graf Kessler über die Cranach-Presse (S. 527–533), eine »[t]hematische Übersicht über die behandelten Texte Kästners mit Angaben zu den Werkmanuskripten« (S. 535–551), eine ausführliche Bibliographie (S. 553–616), ein umfangreiches Personen- und Werkregister (S. 617–643) sowie 24 schwarzweiße und acht farbige Abbildungen runden diese voluminöse Erhart Kästner-Studie ab.

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Antiquariats- und Bibliotheks-Lehrjahre
in Leipzig und Dresden

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Selten breitet Nauhaus ihr Wissen jedoch so knapp und konzentriert aus wie in ihrer biographischen Einführung in Kapitel I (S. 23–40). In wenigen Sätzen umreißt sie die wichtigsten Fixpunkte in der Biographie Kästners gleich zu Beginn: »Erhart Kästner, der Bibliothekar und Schriftsteller, hatte zwei große Passionen: Griechenland und die bildende Kunst; von großer Bedeutung waren zudem die persönliche Begegnung mit Gerhart Hauptmann und die genaue Kenntnis von dessen Werk.« (S. 23)

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Am 13. März 1904 in Schweinfurt geboren, zieht Kästner mit seiner Familie von Regensburg (1909) schließlich nach Augsburg, wo er 1922 sein Abitur ablegt, um anschließend eine Lehre im Leipziger Antiquariat von K.F. Koehler zu machen, wobei er zugleich Abendvorlesungen und Seminare an der Uni besucht. »Von 1924 bis 1927 studierte er Germanistik, Geschichte und Philosophie« (S. 23) in Freiburg und Kiel, um schließlich mit einer Arbeit über »Wahn und Wirklichkeit im Drama der Goethezeit« in Leipzig zu promovieren. Anschließend sind die Sächsische Landesbibliothek in Dresden und die Universitätsbibliothek Leipzig weitere berufliche Stationen Erhart Kästners. Er bekommt in diesen Jahren durch Vermittlung eines Onkels und durch den »Kunsthistoriker und Landeskonservator Ludwig Grote« Kontakt zu den »Bauhaus-Meistern« (S. 25) und lernt den »Verleger und Goethe-Sammler Anton Kippenberg« (S. 28) kennen. Bereits seit 1925 verfasst Kästner für verschiedene Zeitungen Buch- und Ausstellungsbesprechungen und schreibt Film- und Theaterkritiken. So äußert er sich 1934 und 1935 etwa zu »Oper und Schauspiel in Dresden« oder bespricht 1934 die neueste Hauptmann-Novelle Das Meerwunder. Julia M. Nauhaus bibliographiert diese frühen Arbeiten, die die frühe Kästnersche Vielseitigkeit dokumentieren, ebenso akribisch, wie sie auch Veröffentlichungen Kästners in Sammelwerken, Zeitschriften und Jahrbüchern nachgeht.

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Gerhart Hauptmanns Privatsekretär

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Zwischen 1929 und 1940 ist Kästner Bibliothekar an der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden mit einer etwa eineinhalb Jahre dauernden Unterbrechung. Denn »von Juni 1936 bis Dezember 1937 lebte Erhart Kästner als Sekretär von Gerhart Hauptmann«, den er schon 1934 kennen lernt, als der umtriebige und ehrgeizige Bibliothekar zum Leiter der Handschriften-Abteilung im Japanischen Palais avanciert ist. Kästner dient dem »hochverehrten Herrn Doktor Hauptmann«, wie er ihn in den Briefen dieser Zeit anredet, »in Agnetendorf, Rapallo und Hiddensee […], war an der Vollendung der Dramen ›Die Tochter der Kathedrale‹, ›Ulrich von Lichtenstein‹ und ›Die Wiedertäufer‹ beteiligt und regte Hauptmann zur Wiederaufnahme des ›Großen Traums‹ an, dessen Veröffentlichung er mit Hilfe von Anton Kippenberg 1942 realisierte.« (S. 31) Mit »nicht immer leicht« umschreibt Nauhaus die Zeit bei Hauptmann vornehm und allzu zurückhaltend.

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Die von Julia Hiller von Gaertringen 2004 herausgegebenen Briefe, Texte und Notizen aus dieser Zeit lassen diese vornehme Zurückhaltung in diesem Kontext nicht immer angebracht erscheinen, zumal dort auch das Arrangement mit der Nazi-Diktatur stärkeren Eingang findet. Gerne würde man etwas mehr erfahren als bei Nauhaus 7 , die über Griechenland unter anderem bemerkt: »Zwar ist das Buch im Auftrag der Wehrmacht geschrieben, aber kann man Kästner – gewissermaßen in Bausch und Bogen – nationalsozialistische Propaganda vorwerfen? Das Buch ist nicht völlig frei von Anklängen an diese, was auch mit den Bedingungen der Zensur, so wie Kästner sie einschätzte, zusammenhängen mag, so daß sich der Autor gezwungen sah, Abschnitte einzufügen, von denen er wusste, er würde sie nach dem Krieg sofort eliminieren. Unbestritten ist die Existenz problematischer Stellen in ›Griechenland‹« (S. 98), sie seien jedoch gerade auch mit Blick auf Gerhart Hauptmann zu sehen.

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Das Verhältnis zu Hauptmann entspannt sich nach Kästners Sekretärszeit wieder und in den 40er Jahren wechselt die Anrede mit der räumlichen Entfernung in intime Nähe: »Geliebter Vater Gerhart« und »Lieber Sohn und Freund Doktor Kästner« beginnen die Briefe immer wieder. Als Soldat im Zweiten Weltkrieg gelangt Erhart Kästner nach Griechenland. Auch hier hält er den Kontakt zu Hauptmann. Ja, Kästner empfand sich in Griechenland »als Sendbote« (S. 99), »als ›Statthalter‹ von Hauptmann und schrieb seine ersten Griechenland-Bücher als ideelle Fortsetzung des ›Griechischen Frühlings‹ für den verehrten Dichter; Erinnerungen an ihn durchziehen mehrere Bücher Kästners.« (S. 31 f.) 8

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Soldat in Griechenland und Kriegsgefangener
in der ägyptischen Wüste

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1940 wird Erhart Kästner zum Militärdienst nach Liegnitz eingezogen, »ein Jahr darauf kommandierte man ihn nach Athen ab. Zu seinem Glück gelangte er im August in die Psychologische Eignungsprüfstelle in Athen und nun brachte ausgerechnet der Krieg Kästner die Erfüllung eines Traumes. Er durfte quer durch Griechenland reisen, wenn auch als Soldat unter nicht immer einfachen Bedingungen.« (S. 33) Seine Aufgabe besteht zu dieser Zeit hauptsächlich darin, Geschichte, Kunst und Kultur des Landes textlich für die Soldaten aufzubereiten. »So blieb er vom Einsatz an der Front verschont und besuchte die klassischen griechischen Kultstätten gemeinsam mit dem Zeichner Helmut Kaulbach.« (S. 33) 1942 erscheint im Berliner Gebrüder Mann-Verlag sein im Auftrag des Luftwaffenkommandos verfasstes Werk Griechenland. Ein Buch aus dem Kriege. Es wird ein Erfolg, und Kästner erhält den »Auftrag für ein weiteres über die griechischen Inseln« (S. 34). Kreta erscheint schließlich 1946 wiederum im Gebrüder Mann-Verlag. Seit Kriegsende befindet sich Kästner allerdings in englischer Gefangenschaft, die er meist in einem Zeltlager in der ägyptischen Wüste verbringen muss.

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Literaturredakteur, Bibliotheksdirektor und Publizist

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In der ägyptischen Lagerschule unterrichtet Kästner die Mitgefangenen in Deutscher Literatur und lernt über Paul Reissert die moderne Malerei kennen. In dieser Zeit entstehen Notizen zu seinem Zeltbuch von Tumilad, das 1949 bei Insel erscheint, zwei Jahre nachdem Kästner aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurde und sich zunächst bei der Mutter in Augsburg wieder niederließ. In Augsburg war er zunächst als Redakteur des Literaturblattes der Schwäbischen Landeszeitung tätig und redigierte von 1949 bis 1962 das Literaturblatt der Augsburger Allgemeinen. Großen Erfolg hatte Kästner mit seinem Zeltbuch. Bereits drei Monate nach Erscheinen dieses untypischen Kriegsbuches, das, wie Kästner am 11. November 1949 in der Schwäbischen Landeszeitung schrieb, versucht, »sich aus jener traumhaften Welt etwas in das jetzige Leben hinüberzuretten, etwas aus der Essenz jener Tage in unsere Tage zu mischen.«

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Nur ein paar Monate nach Erscheinen des Zeltbuchs wird Kästner im März 1950 zum Direktor der Wolfenbütteler Herzog-August-Bibliothek berufen, die er bis 1968 leitet und der er zu neuem Glanz verhilft.

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1953 ist für Kästner ein »bedeutsames Jahr, denn der Bibliotheksdirektor beginnt weitsichtig mit dem Aufbau einer für die Bibliothek ungewöhnlichen Sammlung: den von ihm so genannten ›Malerbüchern‹, Bücher mit antiken, aber auch zeitgenössischen Texten, illustriert von berühmten Malern und Bildhauern des 20. Jahrhunderts.« (S. 37) 1953 ist darüber hinaus für Kästner wichtig, als er in diesem Jahr eine Reise auf den Athos unternimmt und zudem eine überarbeitete Ausgabe seines ersten Griechenland-Buches erscheint. In den folgenden Jahren reist Kästner mehrfach nach Griechenland, plant auch eine gemeinsame Reise mit Heidegger dahin, die allerdings nicht zustande kommt. Mehre Bücher erscheinen in den folgenden Jahren: etwa Aristide Maillol. Hirtenleben (1954), Stundentrommel vom heiligen Berg Athos (1956), Auf dem Berg Athos (1962), Lerchenschule (1964) oder Aufstand der Dinge (1973). Kästner erhält diverse Literaturpreise und ist selbst bei Preisverleihungen in verschiedenen Kuratorien. Neben allen publizistischen Tätigkeiten sorgt er auch für den Umbau der Herzog-August-Bibliothek (1961) 9 und unternimmt weitere Reisen, etwa zweimal nach Istanbul, hält Vorträge und eröffnet Ausstellungen. Nach seiner Pensionierung zieht er nach Staufen im Breisgau, wo Peter Huchel sein Nachbar ist. Dort stirbt Kästner nur wenige Wochen vor seinem 70. Geburtstag am 3. Februar 1974.

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Buchillustrationen und Malerbücher

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Bereits in seiner Dresdner Zeit setzt er als Bibliothekar Akzente, indem er Buchillustrationen zu verschiedenen Ausstellungen macht (vgl. S. 30). So organisierte Kästner bereits Mitte der 30er Jahre Ausstellungen über Kinder‑ und Blumenbücher (vgl. S. 75–77), beschäftigte sich mit Scherenschnitt-Illustrationen oder brachte 1938 in Dresden eine Sonderausstellung zustande unter dem Titel Dichter der Gegenwart als Maler und Bildhauer, die »Werke von Gerhart Hauptmann, Wilhelm Schäfer, Ernst Penzoldt, Hans Carossa, Hermann Hesse, Johannes Schlaf, Rudolf A. Schröder und Max Dauthendey« (S. 78) versammelte.

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Einen ersten größeren Erfolg verbuchte Kästner 1935 mit seiner ersten Buchpublikation Bekränzter Jahreslauf, in welchem er Monatsbilder eines flämischen Malers aus dem 15. Jahrhundert versammelt und mit einer Einleitung versieht und dabei auf Details, auf die Dinge hinter dem Sichtbaren aufmerksam macht, eine Haltung, die seine Kunstbetrachtungen auch später kennzeichnet:

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Es ist ein unaufhörliches Spiel mit dem, was hinter den Dingen liegt. Man muß diese kleinen Bilder ganz genau betrachten. Ehe man ihnen nicht bis in den letzten Zug nachgespürt hat, hat man sie gar nicht gesehen. Der Atem ihres Meisters ist nicht groß. Was er zu sagen vermag, vermag er im Winzigen; seine Kraft liegt in der Innigkeit, von der jeder seiner kleinen Pinselstriche voll ist. Selig ist er in seiner zärtlichen Andacht zu allen den geliebten Dingen dieser Welt. (S. 79)
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Insgesamt richtet Kästner in seiner Zeit als Dresdner Bibliothekar und Ausstellungsmacher im Japanischen Palais zwischen 1927 und 1940, unterbrochen durch die Zeit bei Gerhart Hauptmann, sein Augenmerk auch auf Fragen der Übersichtlichkeit, der Ästhetik und der »Schaubarkeit« (S. 47) von Ausstellungen und auf museumsdidaktische Problemstellungen, denen Nauhaus »trotz aller technischen und gesellschaftlichen Veränderungen« Aktualität bescheinigt und auch heute »eine verstärkte Aufmerksamkeit« (S. 41) wünscht:

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In der Diskussion solcher Ausstellungskonzeptionen sind es die einfachen Grundsätze von guter Beschriftung, einer strengen Auswahl, die Erhart Kästner aufgrund seiner eigenen Erfahrungen aufstellte, wert, über sie nachzudenken und sich darauf zu besinnen, daß nicht alles Vergangene unzulänglich und überholt sein muß. (S. 54)
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Dieses Traditionsbewusstsein ist auch Kennzeichen für Kästners Zeit als »Direktor der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel (1950–1968)«, wie ein Teil des zweiten Kapitels (S. 55–73) deutlich macht. Zu seinen großen Leistungen neben der Modernisierung, Öffnung und Wiederbelebung der Bibliothek zählt auch der Aufbau der Sammlung der Malerbücher, eine »unvergessene[ ] Leistung« (S. 209) Kästners, der zum »Anwalt der Malerbücher« (S. 209) in Deutschland wird. In seine prägende Wolfenbütteler Ära fallen auch Freundschaften und Bekanntschaften zu Künstlern wie Julius Bissier, Hans Arp, Max Ernst, Mark Tobey, Erhard Altenbourg oder Werner Gilles. Freundschaften, Bekanntschaften und persönliche Vorlieben kommen nicht zuletzt dem Sammlungsaufbau der Malerbücher zugute. »Insgesamt schaffte Kästner 292 Malerbücher von 86 Künstlern an, wobei sich durchaus persönliche Vorlieben wie die für Picasso, Miró und Max Ernst ausmachen lassen, bei denen Kästner größtmögliche Vollständigkeit anstrebte.« (S. 129)

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Wissenschaftskritik und Gegenwelt in der Kunst

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In zahlreichen Vorträgen und Texten, die Nauhaus auch in ihren verschiedenen Varianten und Überarbeitungen, in ihren intertextuellen Bezügen detailliert aufschlüsselt und den jeweiligen Kontext erläutert – im übrigen keine kleine Aufgabe, da Kästner durchaus ein Meister der »Umschreibung« (S. 258) und der Wiederverwertung war – dringen Kästners Kerngedanken und Thesen durch, wie Nauhaus überzeugend nachweist: »der Glaube an die Gleichwertigkeit von Malerei und Literatur, an ihren hohen Stellenwert und ihre Autonomie, die Kritik an den Verhältnissen des Kunstmarktes, an Wissenschaft und Technisierung.« (S. 17) Problematisch wird Kästners Verfahren, »eine Skulptur oder ein Bild zum Ausgangspunkt eigener, teilweise philosophischer Gedanken zu wählen«, jedoch dann, wenn sie ihn »nicht nur zu Wiederholungen, sondern auch zu einer gewissen Beliebigkeit und Austauschbarkeit von Gedanken und Formulierungen« (S. 256) verleitet.

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Gewissermaßen eine »Sonderstellung« (S. 215) nimmt Kästners Schreiben über Paul Klee ein. Erstmals im Zeltbuch von Tumilat setzt sich Kästner ausführlich mit einem einzelnen Künstler auseinander. Zwar kennzeichnet sein Versuch »›hinter die Dinge zu kommen‹« (S. 221), Kästners Bemühen bei allen Künstlern, die ihn faszinierten, gleichwohl steht die »poetische Seite« (S. 223) für Kästners Klee-Betrachtung im Vordergrund. Kästner nähert sich dabei vor allem assoziativ über die Bildtitel Klees.

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Sie stehen an den ›Pforten‹ der Bilder und sind in die Raummetaphorik einbezogen. Der Autor deutet die Titel nicht als eindeutige Erklärung des Bildes, nicht als Schlüssel, sondern als hilfreiche Hinweise, die auf die Atmosphäre der Bilder, die schon genannte Leichtigkeit der von Klee dargestellten Gebilde und Geschöpfe verweisen. (S. 223)
[31] 

Ihm geht es um die »Aura der Bilder und ihre inhaltliche Seite« (S. 236). Insofern spielen für Kästner formale Kriterien wie »die malerischen Mittel und die Bildkompositionen« (S. 236) eher eine nachrangige Rolle und in seinen Klee-Passagen arbeitet er »mit durchaus ähnlichen Mitteln wie Klee, ›mit Erinnerungen, Assoziationen, Phantasie und Vorstellungswelten‹« (S. 239).

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Nach dem Amtsantritt als Wolfenbütteler Bibliotheksdirektor 1950 dauert es fast ein Jahrzehnt, bis sich Kästner wieder intensiv mit Malern und Künstlern auseinandersetzt. Vermutlich war der Besuch der zweiten Documenta der Auslöser für das »Ringen um eine dichterische Annäherung an Hans Arp, Julius Bissier, Werner Gilles und Werner Heldt« (S. 240) zwischen 1959 bis 1964. Gekürzt und umgearbeitet gehen die Texte über die Künstler in Kästners Buch Die Lerchenschule ein. Dieser Phase folgt zwischen 1969 und 1973 eine neue Phase mit einer starken Auseinandersetzung mit Gerhard Altenbourg und Max Ernst.

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Nauhaus merkt allerdings zu den Lerchenschule-Texten zu Recht kritisch an, dass »Kästners Bewunderung« vielfach mit »übergroßer Stilisierung und deutlichen Heidegger-Anklängen versehen sind. Der Wille zum Pointierten, zur intellektuellen Durchdringung überlagert bei Kästner die persönliche Nähe, die er versteckt und ins Unpersönliche wendet« (S. 243).

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Ist es, cum grano salis, bei Kästners Auseinandersetzung mit Arp meist die Tendenz, »das Kunstwerk als Auslöser für Reflexionen allgemeiner Art zu benutzen« (S. 262), bei seinen Bissier-Texten der Versuch der »Nachdichtung« (S. 274) mit einer forcierten »kausalen Verknüpfung« (S. 292) von Kunst, Leid und Verzicht, so diskutiert Nauhaus in Kästners Texten zu Werner Gilles vor allem die Opposition von Kunst versus Wissenschaft und Technisierung. 10

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Auch in der späteren Auseinandersetzung mit Max Ernst thematisiert Erhart Kästner immer wieder seine »Zweifel an Forschung und Wissenschaft (beispielsweise Archäologie, Geschichtsschreibung, Philologie)« (S. 409). Max Ernst erscheint Kästner als »der Schöpfer einer Gegenwelt in der Kunst« (S. 185).

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Fazit

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Nauhaus’ akribische, detail- und materialreiche Untersuchung zu Erhart Kästners »Phantasiekabinett« lässt einen Schriftsteller und Wissenschaftler deutlich werden, der dem Bild höchste Priorität einräumt, ja an manchen Stellen mythisch-religiös überhöht, wenn es etwa in Ölberge. Weinberge heißt: »Das Bild ist der Leib des Wahren, der die Wahrheit enthält und verhüllt. (…) Wo das Reich der Bilder aufhört, beginnt der Mysterienverrat.« (S. 490) Die Vielzahl der Querverweise, die Unzahl an Belegen, die sie von Kästners Um-Schreibungen bietet, lassen allerdings an manchen Stellen den Virtuosen des Staunens in den Hintergrund treten. »Kästner war kein Theoretiker« 11 , wie Arnold Stadler bemerkt: »Er war praktisch ausgerichtet und hat das Staunen in ein Erzählen und Bauen verwandelt und konkretisiert.« Insofern hat Julia M. Nauhaus einen Erzähler und Baumeister gezeigt, der seine Baupläne ständig neu bearbeitet, umschrieben und umgeschrieben hat und somit auch nie zu Ende kommen konnte. Dies beschreibend deutlich gemacht zu haben, ist das Verdienst der vorliegenden Dissertation.

 
 

Anmerkungen

In Anlehnung an Hofmannsthals Titel seines 1931 erschienenen Bandes Reden und Betrachtungen überschreibt Nauhaus das sechste Kapitel ihrer Dissertation, das dem Thema »Gerhart Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal, Harry Graf Kessler und Erhart Kästner in Griechenland« gewidmet ist.   zurück
Arnold Stadler: Also reist man. Assoziationen zum Fahren, Unterwegssein und zum Bleibenwollen Erhart Kästners. In: Erhart Kästner: »Man reist, um die Welt bewohnbar zu finden.« Lebensbilder und Bewunderungen. Zusammengestellt und herausgegeben von Helwig Schmidt-Glintzer. Mit einem Essay von Arnold Stadler. Frankfurt/M.: Insel 2004, S. 197-229, hier S. 202.    zurück
Ebd., S. 211.   zurück
Vgl. hierzu auch: Erhart Kästner / Gerhart Hauptmann: Perseus-Auge. Hellblau. Briefe, Texte, Notizen. Hg. von Julia Hiller von Gaertringen. Bielefeld: Aisthesis 2004.    zurück
So Eberhard Ratgeb in seiner Besprechung »Souveräner Begleiter auf dem schmalen Weg der wenigen« von Erhart Kästner: »Man reist, um die Welt bewohnbar zu finden« (wie Anm. 1). In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 62, 13. März 2004, S. 44.    zurück
Die Fülle der Quellensichtung hat offensichtlich einen weiteren Nachteil. Denn das Bemühen, jedes Detail zum Thema Kästner über Kunst und Künstler aufzuspüren, verleitet Nauhaus, ihre zahlreichen Fußnoten an einigen Stellen mit (kultur-)geschichtlichem Wissen zu überfrachten. So gibt sie etwa bei Personen, mit den Kästner in Kontakt stand, nicht nur meist Geburts- und Todesjahr, sondern auch einige wichtige Jahreszahlen, Berufsstationen und die entsprechenden Literaturhinweise dazu an.   zurück
Lapidar erklärt Nauhaus in einer Fußnote dazu: »An welchen Stellen man EK Übernahme oder Vermittlung nationalsozialistischen Gedankengutes vorwerfen kann, erscheint mir eine Frage der Interpretation.« (S. 99)    zurück
Am 12. Juli 1944 etwa schreibt Kästner an Hauptmann: »Es ist mir das höchste Lob meiner Arbeit, Ihr Zustimmungswort zu besitzen, und der Gedanke, daß ich Ihnen, als Ihr Sendbote in Griechenland, ein paar Bilder zuschreiben konnte, die Ihnen griechischen Hauch überbrachten, ist mir über die Maßen wert. (…) Sie haben mich sehen gelehrt und mich die Geschenke des Lebens empfangen gelehrt, Ihre Stimme ist es, ich fühle mich durchaus nur als Mittler und Medium. (…) Der Schlüssel zu allem ist mein An-Ihnen-Hängen.« (S. 99)   zurück
Zu seinen Bau- und Modernisierungsbemühungen in Wolfenbüttel bemerkt Nauhaus allzu ausführlich, indem sie die einzelnen Bauabschnitte aufzählt: »Die ersten Baumaßnahmen waren: Arbeiten an der Heizungs- und Klimaanlage, Sanitäranlagen für Publikum und Bibliothekare, Arbeitsräume für die Mitarbeiter, Einrichtung einer Restaurierungs- und einer Fotowerkstatt und Erweiterung der Magazinräume durch Einziehen von Zwischendecken. Im zweiten Bauabschnitt nahm man die Umgestaltung der Vorhalle und der Mittelhalle in Angriff, Bauabschnitt III betraf Magazinturm, Handschriftenlesesaal und Kartensaal, Bauabschnitt IV Westflügel und Alarmanlage. Als 5. Bauabschnitt wurde später der Umbau des Lessinghauses genehmigt.« (S. 62) Während diese Bau- und Modernisierungstätigkeit detailliert beschrieben ist, erwähnt Nauhaus Kästners Abschied im Zorn nur in einer Fußnote, wobei sie jedoch immerhin Stellung bezieht und Kästner Übertreibung vorhält (vgl. S. 64).   zurück
10 
Sie sieht in diesem Zusammenhang Kästners Parteinahme für den Künstler »als höchst aktuell« mit Blick auf die »aktuelle( ) Diskussion um die ethische Komponente des Fortschritts in der Gentechnologie« (S. 350).    zurück
11 
Arnold Stadler (Anm. 2), S. 203.   zurück