Elke Dreisbach

Geschmackssache - Eine Wortuntersuchung




  • Dominik Brückner: Geschmack. Untersuchungen zu Wortsemantik und Begriff im 18. und 19. Jahrhundert. Gleichzeitig ein Beitrag zur Lexikographie von Begriffswörtern. (Studia Linguistica Germanica 72) Berlin: Walter de Gruyter 2003. XI, 431 S. Gebunden. EUR 108,00.
    ISBN: 3-11-017873-7.


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Das Beispiel ›Geschmack‹

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Die vorliegende sprachwissenschaftliche Dissertation stellt eine Analyse des Wortes ›Geschmack‹ dar und behandelt dieses Wort zugleich als ein Beispiel für die semantische Untersuchung eines Begriffswortes des 18. und 19. Jahrhunderts. Sie analysiert damit nicht nur das Wort an sich, sondern reflektiert dessen lexikalische und lexikographische Darstellungen und wertet diese aus. Die Analyse mündet in einen rund 70 Seiten langen »Wortartikel Geschmack« (Kapitel F, S. 190–259), der ziemlich genau in die Mitte der Arbeit gerückt ist und um den sich die weiteren Überlegungen in fast symmetrischer Anordnung gruppieren. So wird zum Beispiel Kapitel B (»Die lexikologisch-lexikographische Aufarbeitung von ›Geschmack‹«) später unter G.II.2 genauer ausgeführt, und gegen Ende greift Kapitel G.VII. (»Wort und Begriff«) die Gegenüberstellung von begriffsgeschichtlicher und linguistischer Methode noch einmal auf.

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Eine solche Analyse eines Beispielwortes sowie das Vorlegen einer Art von Musterartikel sind nicht neu. Es wird damit im wesentlichen an eine weit zurückreichende Tradition angeknüpft, nämlich an diejenige der Wortmonographien als Vorarbeiten zu einem groß angelegten Wörterbuch, 1 ohne daß jedoch auf eine solche Tradition hingewiesen würde. In ähnlicher Weise steht diese Dissertation im Zusammenhang mit dem Projekt »Klassikerwörterbuch« an der Universität Freiburg. 2 Die Auswahl des speziellen Begriffs ›Geschmack‹ für eine solche Untersuchung wird dabei inhaltlich und thematisch nicht begründet. 3 Dennoch ist dieses Beispiel nicht ungeschickt gewählt, denn anhand dieses Wortes lassen sich in der Tat einige grundlegende Probleme der lexikalischen und lexikographischen Darstellung von Begriffswörtern in historischer Perspektive aufzeigen. Dazu gehören zum Beispiel die semantische Unbestimmtheit des Wortes selbst und die Unterscheidung eines allgemeinsprachlichen und terminologischen, insbesondere ästhetischen Gebrauchs.

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Das Textkorpus

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Dem »Wortartikel« liegt ein Textkorpus zugrunde, das Texte des 18. und 19. Jahrhunderts umfaßt. Darüber hinaus gibt es ein zweites Textkorpus mit Texten des 20. Jahrhunderts; beide sind in den Anhängen I und II (S. 387–395) aufgelistet. Texte des letzteren sind nicht in den Artikel eingeflossen. Die Betrachtung des bearbeiteten Zeitraums setzt zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein und endet um 1900. Der Beginn ist damit begründet, daß sich während der Aufklärung der ästhetische und moralische Geschmacksbegriff herausbildet, der seine Bedeutung bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts behält. 4 In der dann folgenden Zeit des Realismus und schließlich im 20. Jahrhundert verliert ›Geschmack‹ durch eine zunehmende Relativierung diesen Stellenwert und wird nur noch in seiner alltagssprachlichen bzw. allgemeinsprachlichen Verwendung faßbar, so der Verfasser in Übereinstimmung mit der Forschungsliteratur. Die mit 1900 vorgenommene Zäsur bleibt letztlich unbegründet. Sie wird schon dadurch unterlaufen, daß Texte des 20. Jahrhunderts gleichsam in einem Ausblick noch in Augenschein genommen werden.

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Für die Textauswahl im einzelnen ist relevant gewesen, daß das Wort ›Geschmack‹ »in ausreichender Menge in den Korpustexten« vorkommt (S. 87), wobei die Bezeichnung ›ausreichend‹ nicht näher spezifiziert wird und wirklich begründete Kriterien für die Auswahl fehlen. Es handelt sich de facto weitgehend um literarische Texte, die in der überwiegenden Mehrzahl auch heute noch gelesen werden dürften und insofern als ›klassisch‹ gelten können. Anders verhält es sich bei den Texten aus dem 20. Jahrhundert, die zumeist nicht literarisch sind. Zu dem Textkorpus, das die Grundlage für den Wortartikel bildet, gehören nicht die theoretisch-ästhetischen Schriften, die den Geschmacksdiskurs abbilden. Sie werden inhaltlich in Kapitel C.I. referiert.

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›Wort‹ und ›Begriff‹

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Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Unterscheidung zwischen dem ›Wort‹ und dem ›Begriff‹ ›Geschmack‹. Ersteres meint nach Brückner die alltagssprachliche Verwendung, letzterer die diskursspezifische. ›Begriff‹ sei das Wort erweitert um ein bestimmtes Wissen, um ein »Mehr« an Hintergrund, Gedachtem und Gefühltem (vgl. S. 71). Der ›Begriff‹ lasse sich grundsätzlich nur in Texten fassen, das Wort auch in gesprochener Sprache, die in historischer Perspektive zum Beispiel in Zeitungsartikeln, Briefen oder Tagebuchnotizen greifbar sei. Der diskursgebundene ›Begriff‹ ›Geschmack‹ und seine Geschichte seien zeitlich eingrenzbar auf die Geschmacksdiskussion der Aufklärung bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, der allgemeinsprachliche Gebrauch sei demgegenüber zeitlich prinzipiell nicht begrenzt.

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An diese Unterscheidung knüpft die Gegenüberstellung von begriffsgeschichtlicher und lexikographischer Darstellung an. 5 Erstere wird dabei als unzureichend für die semantische Erfassung des Wortes abgelehnt, weil sie einseitig den Blick auf den terminologisch-reflektierten Gebrauch lenke. Es gehe also darum, die »Wortverwendung [...] unabhängig von der Geschmacksdebatte zu erfassen« (S. 81), und genau dies soll in dem »Wortartikel« geschehen. Die Bezeichnung »Wortartikel« ist augenscheinlich in Abgrenzung von ›Begriff‹ bzw. ›Begriffsartikel‹ gewählt. Gleichzeitig heißt es aber auch nicht ›Wörterbuchartikel‹, da offenbar eine umfassendere Gesamtdarstellung impliziert wird; die dann folgenden Kapitel sprechen nur noch von »Sprachregistration« (S. 276 ff.).

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Als Vorbereitung werden einige Fragen reflektiert, die stets wiederkehrende Probleme der Lexikographie betreffen. Sie beziehen sich auf die Unterscheidung und gegebenenfalls auch Vermischung von Sach- und Worterklärung, auf die Bedeutungen eines Wortes, wobei hier unter ›Bedeutung‹ die ›Verwendung‹ verstanden wird, auf die Abgrenzbarkeit der Bedeutungen voneinander bzw. ihre fließenden Übergänge und deren Darstellbarkeit in einem Artikel, auf die Unterscheidung der physiologischen Bedeutung von der übertragen-metaphorischen Verwendungsweise, auf die im Falle von ›Geschmack‹ hier sehr ausführlich reflektierte Unterscheidung von objektiver Eigenschaft eines Stoffes und der subjektiven Empfindung, auf die Ansetzung der Bedeutungspunkte und die Darstellung der Belege. Die Betrachtung bezieht ebenfalls die Person des Verfassers und seine Subjektivität bei der Artikelgestaltung mit ein, die sich in seinem Vorwissen, seiner Vorbildung und seiner Interessenlage zeigen und entsprechend im Artikel widerspiegeln können. Schließlich werden auch praktische Überlegungen sowie konkrete Arbeitsschritte vorgestellt.

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Alle diese Überlegungen führen dann zu dem »Wortartikel Geschmack«, der jeden Beleg aus dem genannten Textkorpus auswertet, ausführlich zitiert und seine Bedeutung beschreibt. Er ist mit tiefer Hierarchisierung bis auf fünf Ebenen gegliedert; die drei Hauptgliederungspunkte (»1. Eigentlich« [S. 190], »2. Uneigentlich« [S. 200], »3. Wendungen« [S. 254]) greifen dabei traditionelle Einteilungen in Wörterbüchern auf. 6 An den »Wortartikel« schließt sich eine summarisch-referierende Darstellung von Wörterbüchern, Enzyklopädien, hier stellvertretend das Beispiel des Brockhaus, und Kunstgeschichten des 18. und 19. Jahrhunderts und ihrer Aussagen zu ›Geschmack‹ an. Deren Bedeutungs- sowie Sachangaben werden mit dem vorgelegten »Wortartikel« verglichen. Ziel des Vergleichs ist eine Ergänzung von möglicherweise in dem Artikel noch nicht erfaßten Geschmacksbedeutungen. Er führt zu elf Bedeutungen, die in dem Artikel nicht aufgetreten sind (S. 348). Abschließend wird eine summarische Auflistung der Bedeutungen aus dem Artikel und den konsultierten Werken gegeben (S. 348–350), die dann insgesamt auf 63 Bedeutungspunkte kommt und damit angeblich das umfassende Bedeutungsspektrum von ›Geschmack‹ im 18. und 19. Jahrhundert umfaßt.

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Das Ergebnis

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Die Ablehnung der begriffsgeschichtlichen Methode als ungeeignet für die Darstellung des semantischen Spektrums von ›Geschmack‹ hat zu einer weit ausholenden Anlage und Ausarbeitung eines Wortartikels geführt, der in seiner Bedeutungserfassung auch die bisherigen lexikographischen und lexikalischen Darstellungen übertreffen soll und in seiner Ausführlichkeit überbieten kann. Die Bedingung dafür, daß dieses Ergebnis möglich ist, sieht der Verfasser in der strikt durchgeführten Unterscheidung von begrifflichem und nicht begrifflichem Gebrauch, die die ausgewerteten Wörterbücher und Enzyklopädien ihrerseits so nicht getroffen haben und darum hinter einem solchen Ergebnis zurückbleiben müssen (vgl. S. 333). Es bleibt jedoch zu fragen, ob es bei der umfassenden semantischen Beschreibung des Wortes für das 18. und 19. Jahrhundert gerechtfertigt ist, den begrifflich-terminologischen Gebrauch, der gerade für diese Zeit wesentlich ist, bei der Bedeutungsbeschreibung auszuschließen. Eine Unterscheidung zwischen alltagssprachlichem und terminologischem Gebrauch ist sicher richtig und notwendig, aber sie dürfte nicht als einander ausschließende Gegensätzlichkeit begriffen werden, denn beides ließe sich sehr wohl auch lexikographisch darstellen und thematisieren.

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In Abgrenzung von dem begrifflichen Gebrauch wird der allgemeine Sprachgebrauch dargestellt, was anhand der Textauswahl aus dem genannten Zeitraum geschieht. Diese umfaßt jedoch zum überwiegenden Teil literarische Texte, d. h. es liegt eine bewußte sprachliche Gestaltung vor, der im Artikel nicht hinreichend Rechnung getragen wird. Ähnlich problematisch ist der vorgenommene Vergleich mit den Bedeutungsangaben in Wörterbüchern und Enzyklopädien aus dem Betrachtungszeitraum, da der historische Bezug nicht hinreichend berücksichtigt wird. Der »Vergleich mit den Ergebnissen der Korpusanalyse« (S. 287, 291, 331) kann nur bedingt richtig sein, da Textgrundlagen und Vorgehensweisen jeweils andere sind. Das gleiche gilt für die vorgenommene Bewertung der begriffsgeschichtlichen Methode, denn diese Darstellungen verfolgen ebenfalls andere Zielsetzungen als lexikographische Beschreibungen.

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Fazit

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Die vorliegende Untersuchung bietet eine große und nahezu erschöpfende Fülle von Material zu dem Wort und ästhetischen Begriff ›Geschmack‹. Hervorhebenswert sind die übersichtliche und ergiebige Darbietung von Forschungsergebnissen sowie die ausführliche und gründliche Reflexion lexikographischer Probleme. Allerdings werden mit der Anlage und der thematischen Ausführung dieser Arbeit unterschiedliche Interessen und Fragestellungen bedient. Der am Geschmacksdiskurs Interessierte wird zu dieser Arbeit greifen und eine gute überblicksartige Darstellung, aber in ihr keine neuen, über den bisherigen Forschungsstand hinausgehenden Ergebnisse antreffen. Der an historischer Semantik und Lexikographie Interessierte findet eine gute und reflektierte Zusammenstellung lexikographischer Probleme, die jedoch, da sie letztlich auf das Wort ›Geschmack‹ hin ausgerichtet sind und bei einem anderen etwa lexikographisch zu bearbeitenden Abstractum wieder anders aussehen können und müssen, zu speziell bleiben. Die Zusammenführung beider Themenkomplexe ist nicht überzeugend gelungen. Ein Neuansatz in der lexikographischen Darstellung wird daher nicht erkennbar.


Dr. Elke Dreisbach
Akademie der Wissenschaften zu Göttingen
Goethe-Wörterbuch, Arbeitsstelle Hamburg
Von-Melle-Park 6
DE - 20146 Hamburg

Ins Netz gestellt am 16.04.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten PD Dr. Bernd Hamacher. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.

Empfohlene Zitierweise:

Elke Dreisbach: Geschmackssache - Eine Wortuntersuchung. (Rezension über: Dominik Brückner: Geschmack. Untersuchungen zu Wortsemantik und Begriff im 18. und 19. Jahrhundert. Gleichzeitig ein Beitrag zur Lexikographie von Begriffswörtern. Berlin: Walter de Gruyter 2003.)
In: IASLonline [16.04.2004]
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Anmerkungen

Dazu gehören z. B. als Vorarbeiten für das Goethe-Wörterbuch: Gertrud Hager: »Gesund« bei Goethe. Eine Wortmonographie. Berlin 1955; Manfred Gräfe: Der Bedeutungsgehalt der Wortgruppe genießen – Genuß bei Goethe. Diss. Berlin 1956 [masch.]; Christa Dill: Die Bedeutungsentfaltung der Wörter Tat, tätig und Tätigkeit bei Goethe. Diss. Berlin 1957 [masch.]; Johannes Kraus: Wort und Begriff »Gegenwart« bei Goethe. Diss. Berlin 1962 [masch.]. Zu ähnlichen Vorarbeiten zum Thesaurus Linguae Latinae vgl. Dietfried Krömer / Manfred Flieger (Hg.): Thesaurus-Geschichten. Beiträge zu einer Historia Thesauri linguae Latinae von Theodor Bögel (1876–1973). Stuttgart / Leipzig 1996, S. 10 f.   zurück
Nähere Informationen dazu finden sich unter: http://www.klassikerwortschatz.uni-freiburg.de    zurück
Die einzige Begründung, die der Verfasser hierfür in seiner Einleitung (S. 1) anführt, ist, daß es zu ›Geschmack‹ seit dem Artikel von Rudolf Hildebrand im Deutschen Wörterbuch (Bd. 4.1.2., 1897) außer dem Artikel im Goethe-Wörterbuch (Bd. IV/1, 1999) keine größere lexikographische Darstellung mehr gebe.   zurück
Er gilt allgemein als abgeschlossen mit der Ästhetik Theodor Mundts von 1845.   zurück
Beispiele für erstere aus neuerer Zeit sind z. B. die Artikel »Geschmack« in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, 1974, Sp. 444–456; Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, 1996, Sp. 870–901; Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 2, 2001, S. 792–819; für letztere: Goethe-Wörterbuch, Bd. IV/1, Sp. 46–50.   zurück
Sie entsprechen nahezu wörtlich dem Gliederungsschema z. B. bei Johann Christoph Adelung: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuchs der Hochdeutschen Mundart. Bd. 2. Leipzig 1775, Sp. 607 f.: »Eigentlich«, »Figürlich«.   zurück