Peter Becker

»Ein Verhör ist ein Verhör ist ein Verhör«




  • Michael Niehaus: Das Verhör. Geschichte - Theorie - Fiktion. (Literatur und Recht) München: Wilhelm Fink 2003. 592 S. Kartoniert. EUR 69,00.
    ISBN: 3-7705-3827-7.


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Der Literaturwissenschaftler Michael Niehaus beginnt seinen interdisziplinären Streifzug durch die lange Geschichte des Verhörs mit der – als Überschrift zitierten – rhetorischen Figur, die das Verhör als etwas Selbstverständliches erscheinen läßt. Auf den folgenden 536 Seiten wird der Leser jedoch eines besseren belehrt. Das Verhör, das zur alltäglichen Erfahrung in Literatur und Film gehört, entpuppt sich als eine komplexe kommunikative Situation, die einerseits in den kulturellen Praktiken der jeweiligen Zeit verankert, andererseits aber auch über Kontinuitätslinien mit Rechts- und Herrschaftspraktiken der Antike und Frühen Neuzeit verbunden ist.

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Niehaus erschließt die Geschichte, Theorie und Fiktion des Verhörs in vier chronologisch angeordneten Teilen. Im ersten Teil setzt er sich mit der Antike auseinander – mit dem griechischen und römischen Strafprozeß, dem Talmud und den frühchristlichen Bekenntnissen; im zweiten und dritten Teil verfolgt er die Entwicklung des Inquisitionsverfahren vom Mittelalter bis zu seiner Abschaffung im 19. Jahrhundert. Der vierte Teil führt die Diskussion bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts anhand einer subtilen Analyse von künstlerischen Bearbeitungen des Verhörthemas in der Literatur und der Literaturverfilmung.

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Das Verhör als Buch ist durch die Abbildung am Umschlag sehr gut charakterisiert: Die Purpurschnecke wurde mit Ködern gefangen – sie erlitt den Tod »durch die Zunge«, wie der Begleittext zu dem frühneuzeitlichen Emblem betonte. Dadurch kann das Fischen nach der Purpurschnecke als Metapher für die Überführung von Verbrechern im Verhör gelten, die mithilfe von linguistischen und emotionalen Ködern dazu gebracht werden, daß sie ihre Zunge verriet. Die abgebildete Szene eines Fischers läßt sich metaphorisch auch auf die Organisation des Buches anwenden. Niehaus verwendet zahlreiche konzeptuelle und historiographische Köder, um das Verhör in seiner rechts- und kulturgeschichtlichen Komplexität zum Sprechen zu bringen.

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Vom Sklaven in der griechischen Antike bis zum Opfer der stalinistischen Säuberungen reicht der Bogen, den Michael Niehaus in seiner interdisziplinären Annäherung an das Verhör schlägt. Seine Auseinandersetzung mit der Antike, dem Mittelalter, der Frühen Neuzeit und der Moderne zeugt von Belesenheit und Gelehrsamkeit, sowie von der Bereitschaft, theoretisches wie empirisches Neuland zu erschließen. Der Autor setzt sich mit den vielfältigen Institutionen und Praktiken auf einem hohen Reflexionsniveau auseinander und liefert an vielen Stellen profunde Einsichten in die Eigenlogik der Verhörsituation.

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Die chronologische, an konventionelle ideengeschichtliche Arbeiten erinnernde Organisation des Buches steht in einem interessanten Spannungsverhältnis zum innovativen Ansatz des Autors. Aufgrund seiner diskursanalytischen, kulturgeschichtlichen Zugangsweise gibt es keinen übergreifenden master narrative, der die Geschichte des Verhörs in eine Fortschritts- oder Modernisierungsgeschichte integrieren würde. Die analytischen Kapitel zu den einzelnen Aspekten des Verhörs als einer rechtskulturellen Praxis können diese Integration nicht leisten – daher sind die einzelnen Teile zwar argumentativ miteinander verbunden, aber nicht in einen umfassenden Argumentationszusammenhang integriert.

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Vom Nutzen und Nachteil
der Antike

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Im ersten Teil seines Buches (etwa 110 Seiten) diskutiert Michael Niehaus die Stellung des Verhörs im griechischen und römischen Gerichtsverfahren. Es handelt sich dabei um keine Rechtsgeschichte im engeren Wortsinn, sondern um die problemorientierte Auseinandersetzung mit Kommunikationstechniken und mit der Position von Ankläger und Angeklagten innerhalb antiker Verfahrensformen. Der Autor entwickelt in diesen Kapiteln einige wichtige Themen für die spätere Analyse: die Frage nach dem Stellenwert der Zeugen, nach der Rolle von Wahrheit und Wahrheitsfindung im Verfahren und schließlich nach der Funktion ›staatlicher‹ Autoritäten bei der Einleitung und Durchführung von Gerichtsverfahren.

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Anhand des griechischen Gerichtsverfahrens zeigt Niehaus die prekäre Rolle der Zeugen in einem Prozeß, der ausschließlich als Parteienverfahren funktionierte und in dem die Wahrheit rhetorisch und diskursiv ermittelt wurde. Interessant sind vor allem seine analytischen Reflexionen über den Stellenwert der Streitkunst für die Gerichtsverhandlung, den er von der Antike bis in das frühe 19. Jahrhundert verfolgt. Dabei betont er den grundsätzlich asymmetrischen Charakter jeder Prüfungs- und Verhörsituation, die sich nicht darauf beschränkte, daß es einen Fragenden und einen Antwortenden gab:

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Vielmehr läßt sich auch das gerichtliche Verhör als eine Kontroverse auffassen, in der der Verhörte die These seiner Unschuld vorbringt – er liefert eine Geschichte, in der er nicht selbst als Täter vorkommt. Und wie beim Respondenten im Disput ist es nicht die Aufgabe des Verhörten, diese Geschichte zu beweisen, sondern die Einwände des Verhörenden gegen diese Geschichte zu entkräften [...]. (S 43 f., Kursivierungen – auch in den folgenden Zitaten – im Original)
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In den Kommentaren zum Gerichtsverfahren der römischen Antike und zum Talmud setzt Niehaus seine kulturgeschichtlichen Überlegungen anhand der Zeugenbefragungen fort. Für das Rom der Antike sieht er klare Analogien zum angloamerikanischen Gerichtsfilm: nicht die Wahrheitssuche, sondern die Diskreditierung des Zeugen war das Ziel der Befragung. Der Zeuge, dem Antwortzwang als einem neuen institutionellen Zwangsmittel unterworfen, sollte nicht neue Erkenntnisse über eine Straftat liefern, sondern das »Fertigprodukt« der Aussage überprüfen: »Der mit sprachlichen Mitteln ausgeübte Zwang spekuliert auf eine begrenzte Geistesgegenwart, auf eine sprachliche Fehlleistung« (S. 87).

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Erste Ansätze zur Produktion von Wissen anhand der Befragung von Zeugen und Verdächtigen stellt Niehaus in politischen Krisensituationen der Antike fest. Dann waren selbst die freien Bürger nicht mehr vor der Folter sicher, die zur Erpressung von Informationen über Gefahren für das Gemeinwesen eingesetzt wurde. Diese Praxis setzt Niehaus in Bezug zur israelischen und amerikanischen Diskussion der heutigen Zeit. In allen diesen Fällen ermöglicht ein imaginierter ›Belagerungszustand‹ die Suspension von wesentlichen Bürgerrechten:

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Die Folter des Mitschuldigen bzw. des Mitwissers ist die grundlegendste Form der Folter [...] Sie ist gleichsam die Folter des gesunden Menschenverstandes. Sie hat nicht nur in verschiedenen ihrer zahlreichen Spielarten bis auf den heutigen Tag überlebt, sie findet auch immer neu ihre Befürworter. (S. 30)
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Diese Bereitschaft zum Gegenwartsbezug ist ein Vorzug dieser Arbeit; sie ist möglich durch einen rechts- und kulturwissenschaftlichen Zugang, der mit analytischer Schärfe wesentliche Praxisformen und juristische Techniken dekonstruiert und sowohl zu ihrem zeitgenössischen kulturellen Kontext, als auch zu späteren Praxisformen in Beziehung setzt. Trotz dieser analytischen Abschnitte sind die Kapitel des ersten Teiles zuwenig mit dem Rest des Buches verbunden. Dennoch kann man sie mit großem Gewinn lesen: sie bieten profunde Einsichten in die Entwicklung des antiken Strafverfahrens – von der griechischen Antike bis zur Behandlung der Christen in der Frühzeit des Christentums. In der Konzeption des Buches hätten die antiken Ursprünge von kommunikativen Praktiken vor Gericht allerdings als Rückblenden und dadurch in verkürzter Form in die drei anderen Teile integriert werden können.

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Zur Macht der Archive
und dem »Terror der Verschriftlichung«

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Auch im römischen Prozeß hat man in der Kaiserzeit schriftliche Protokolle angefertigt. [...] Während diese Protokolle jedoch nicht zur Weiterverwendung gedacht und offen zugänglich waren, sind die Protokolle der Inquisitionsprozesse zur Weiterverwendung einem Archiv einverleibt worden, zu dem nur sie selbst Zugang hatte. Auf den Terror der Verschriftlichung antwortete die Bevölkerung von Narbonne schon im Jahre 1235 mit einem Aufstand, bei dem sie das Archiv zerstörte. (S. 161)
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Im zweiten Teil des Buches setzt sich Michael Niehaus systematisch mit dem Inquisitionsprozeß und seinen Verfahrensformen auseinander. Er greift dabei eine Debatte wieder auf, die er in seiner Analyse des Gerichtsverfahrens im antiken Rom begonnen hatte. Dort findet er die Ursprünge des Inquisitionsverfahrens und die ersten Ansätze der Protokollführung und selbst der Gebärdenprotokolle auf, die in der späteren Entwicklung eine zentrale Rolle spielen werden.

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Das Inquisitionsverfahren will die Wahrheit erforschen und autorisiert dazu eine Wahrheitsbehörde, die sich als unparteiische, wenn auch nicht desinteressierte Instanz den Parteien gegenüberstellt. (S. 236) Innerhalb des Inquisitionsverfahrens sieht Niehaus deshalb eine neue Positionierung des Subjektes, das im Verhör als der bevorzugten Technik der Inquisition einem Wahrheitszwang unterworfen wurde: »Das Wahre soll dadurch ermittelt werden, daß die Verhörten aufgefordert sind, die Wahrheit auszusagen« (S. 131). Der Wahrheitszwang ist gekoppelt an eine tiefe Skepsis gegenüber den Aussagen der Zeugen und Verdächtigen. Um sie zur Preisgabe ihres exklusiven Wissens zu bewegen, nutzte die Inquisition die bereits in ihren Archiven gespeicherten Evidenzen und ein religiöses bzw. psychologisches Band zwischen Inquisitor und Zeugen / Verdächtigen: die Treuepflicht gegenüber der staatlichen bzw. kirchlichen Obrigkeit, die von den Untertanen die Unterwerfung unter ihre überlegene Vernunft fordert.

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Das Verhör wird in diesem Teil erstmals systematisch in die Diskussion eingeführt. Dabei geht Niehaus von Foucaults Überlegungen aus, differenziert jedoch aus einer sprechakttheoretischen Perspektive deutlicher zwischen dem Geständnis und der Beichte. Dadurch kann er besser die Machtverhältnisse innerhalb der Interaktion vor Gericht in den Blick nehmen. Die Machtlogik innerhalb dieser Kommunikationssituation verfolgt Niehaus anhand der Vereidigung, wobei er erneut einen weiten Bogen von den Inquisitionshandbüchern des Mittelalters bis zur deutschen Strafprozeßordnung spannt. Mit dem theoretischen Rüstzug des Linguisten und Sprachphilosophen rekonstruiert er die Vereidigung als Ausdruck eines spezifischen Verhältnisses zwischen einem Aussagesubjekt, das eben kein Rechtssubjekt ist, und der zur Befragung bevollmächtigten Institution: »Das Subjekt bejaht mit diesem Akt seine Unterwerfung« (S. 144).

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Wie auch im ersten Teil besticht die Argumentation von Niehaus durch ihre Differenziertheit. Das zeigt sich in seiner Auseinandersetzung mit dem Einsatz der Folter zur Wahrheitsfindung. Er bezieht sich auf die bereits im ersten Teil diskutierten antiken Vorläufer, um den spezifischen Charakter der Folter im Inquisitionsverfahren besser bestimmen zu können. Er sieht sie in dem prekären Stellenwert, die den unter der Folter gemachten Aussagen zukommt. Sie waren keine willentliche Mitteilung, weil ja die Folter in die Willensbetätigung eingriff (S. 211), und konnten daher juristisch nicht verwertet werden. Um Gültigkeit zu erlangen, mußten sie deshalb außerhalb der Folter von dem Verhörten bestätigt werden (S. 214 ff.). Den Zwang zur Bestätigung des unter der Folter gemachten Geständnisses bezieht Niehaus einerseits auf die Aporien des Inquisitionsverfahrens und auf die zeitgenössische Anthropologie, die fein säuberlich zwischen Willensbetätigung und Willensentschließung unterschied. Entscheidend blieb für die Inquisition die Unterwerfung der Subjekte, die durch eine Folter nur vorbereitet, aber nicht erzielt werden konnte. Das Leugnen eines durch Folter erpreßten Geständnisses zog daher erneute Folter nach sich (S. 213 f.).

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Im Verhör mit und ohne Folter waren laut Niehaus die kirchlichen wie weltlichen Inquisitoren nicht nur an einem Geständnis interessiert, sondern ebenso an Informationen über den Tathergang bzw. über die Beziehungsnetze von Häretikern und ›schädlichen Leuten‹. Das langsame Vordringen der richterlichen Neugier, die Produktion von Wissen in den Gerichtsverhandlungen wird in diesem Buch mehrfach diskutiert. Besonders interessant finde ich die von Niehaus rekonstruierten Verbindungen zwischen dem Inquisitionsverfahren, der Produktion von Wissen und dessen Archivierung für weitere Verhöre:

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Geradezu emblematisch für das Wesen aller Wahrheitsbehörden ist daher einer der taktischen Kniffe, den Eymericus den Verhörführern empfiehlt – nämlich scheinbar lesend in den Akten zu blättern und so zu tun, als stünde dort alles Notwendige, um den Verhörten der Lüge zu überführen. (S. 163)
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Die Inquisitionsverfahren produzierten nicht nur Wissen, sondern auch Unterwerfung und die Auslieferung der Subjekte an die Gnade des Gerichts. Dieser Gesichtspunkt wird von Niehaus nicht hinreichend gewürdigt. Aus seiner Sicht wurde Gnade für Wissen ›geschachert‹. Wie man bereits bei Douglas Hay lesen kann, war jedoch der Tausch von Gnade gegen Unterwerfung ein wichtiges Merkmal der englischen Justiz der Frühen Neuzeit, auf die sich auch Niehaus in seiner Argumentation bezieht. 1

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Situationsdeutungen

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Im dritten Teil verfolgt der Autor die Entwicklung des Inquisitionsverfahrens vor allem aus der Perspektive der Verhörsituation. Dabei betont er die zunehmende Bedeutung des eher unstrukturierten summarischen Verhörs, für das psychologische Kenntnisse immer wichtiger wurden. Denn »man verhört nicht einfach nur, um etwas zu erfahren, sondern man verhört immer auch und vor allem zu Anfang, um zu erfahren, wie man verhören soll« (S. 232). Aus den vielfältigen Beobachtungen der Inquirenten entstand ein systematisches Wissen über die Psychologie des Verhörten, wie Niehaus am Beispiel des Handbuchs von Ludwig von Jagemann zeigt (S. 235).

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Mit beeindruckender analytischer Schärfe beschreibt Niehaus die Entwicklung des Beobachtungsdispositivs innerhalb des Inquisitionsverfahrens. Anhand seiner profunden Kenntnisse der zeitgenössischen Diskussion über Verfahrensfragen kann er die Logik des Verfahrens und seine Aporien überzeugend nachzeichnen. Die Gebärdenprotokolle stellen dazu ein hervorragendes empirisches Material bereit. Sie bezogen sich auf Verhaltensbeobachtungen, die im Verfahren selbst produziert wurden und Teil des Protokolls werden. Als solche waren sie jedoch nicht, wie die Aussagen, von den Verhörten zu unterschreiben. »Sie lassen sich als der Inbegriff all dessen betrachten, was man aus dem Protokoll herauslesen kann, ohne daß es jemand zu Protokoll gegeben hätte« (S. 243). Das Protokoll erscheint in diesen, von Niehaus analysierten Debatten als eine paradoxe Textsorte: sie war geprägt von dem Anspruch, die materielle Wahrheit anhand von Zeugenaussagen, der Aussagen des Verdächtigen und der Verhaltensbeobachtungen zu dokumentieren; gleichzeitig verstand man diese Dokumentation als ein literarisches und intellektuelles Produkt, das hohe Anforderungen an die Persönlichkeit des Richters stellte. Denn die Dokumentation der Wahrheit über einen Fall beruhte eben nicht auf einem Abbild, sondern auf einer intellektuell angereicherten und vom Verhörten autorisierten Zusammenfassung der Aussagen.

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Das Streben nach einer Verbesserung des Strafverfahrens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist bestimmt von einer neuen Sensibilität für den problematischen Stellenwert der Sprache als Mittel der Repräsentation von materieller Wahrheit. Dieser Gesichtspunkt wird von Niehaus nur implizit angesprochen, wenn er etwa das Gebärdenprotokoll als das Gutachten eines Sachverständigen bezeichnet (S. 264). Erst im Schlußkapitel greift er diese Problematik anhand von sprechakttheoretischen Überlegungen zum Verhör erneut auf und präzisiert den Wahrheitsbegriff des Inquisitionsverfahrens, indem er ihn dem diskursiven Aushandeln von Geltungsansprüchen antithetisch gegenüberstellt:

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In einer Theorie, die die Wahrheit an den Konsens knüpft, muß das Verhör ein blinder Fleck bleiben. Im Verhör kommt die Wahrheit in einem anderen Aggregatzustand in Frage: nicht die gemeinsame, geteilte Wahrheit, sondern die verborgene, ungeteilte Wahrheit, die einen Träger hat und die noch nicht zur Sprache gebracht worden ist. (S. 371 f.)
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Die systematische Beobachtung des Inquisiten, die Verschriftlichung durch die Aufzeichnung von Protokollen und die insgesamt asymmetrische Beziehung zwischen dem Richter und den Verhörten rekonstruiert Niehaus als die spezifischen Elemente der Verhörsituation. Anhand von begriffsgeschichtlichen Ausflügen und theoretischen Reflexionen zum Begriff der Situation kann er das Verhör in seiner spezifischen Dynamik weiter präzisieren. Zum Verhör gehört demnach eine klare, institutionell abgesicherte Rollenverteilung, eine intensivierte Form der Beobachtung und eine Überlagerung zweier Subjektpositionen für das Amt des Verhörenden: »Weder der Mensch noch der Gesetzesvertreter können zum Verschwinden gebracht werden. Es kann nur der eine vor- oder zurücktreten« (S. 295).

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In den Handbüchern für die Inquirenten erscheint der Verdächtige als Objekt, die Vorformen der Kriminalpsychologie waren ein Hilfsmittel der Untersuchungsrichter, um ihr Gegenüber zum Geständnis und damit zur Unterwerfung zu bringen. Der Verdächtige hat darin keine eigene Subjektivität. Niehaus greift in überzeugender Weise auf literarische Dokumente zurück, um das Objekt der richterlichen Neugierde in seiner Subjektivität zu erfassen. In einem längeren Exkurs zu Dostojewskis Verbrechen und Strafe rekonstruiert er überzeugend die Psychologie eines Verbrechers unter Geständniszwang, der bewußt aber erfolglos gegen diesen Zwang ankämpfte.

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Kulturgeschichte des Rechts

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Das Verhör ist ein wichtiger Beitrag zur Kulturgeschichte des Rechts. Seinen Beitrag kann man anhand von zwei unterschiedlichen Vorstellungen von Kulturgeschichte näher beschreiben. Erstens setzt sich Niehaus im vierten Teil mit der literarischen und filmischen Adaption des Verhörthemas auseinander und verfolgt daher die künstlerische Repräsentation juristischer Verfahren. Er analysiert unter anderem Novellen des 19. Jahrhunderts, sowie die Werke Kafkas, Literaturverfilmungen von Kafka und Zweig, und die Romane von Orwell und Huxley. Dabei zeigt sich die glückliche Verbindung zwischen einem rechts- und literaturhistorisch geschulten Blick auf die Belletristik, die nicht nur rezipierte, sondern ebenso kommentierte. Aus dieser Perspektive erhalten die literarischen Arbeiten ihre Relevanz für den Rechtshistoriker, weil darin die rechtlichen Verfahren »zur Kenntlichkeit entstellt« sind, um eine Formulierung von Michael Kilian zu paraphrasieren. 2

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Zweitens greift Niehaus wichtige Themen der neuen cultural history auf, indem er sich mit Fragen der Subjektivität, Kommunikation innerhalb institutioneller Verfahren, sowie der Produktion und Archivierung von Wissen auseinandersetzt. Diese Beiträge erscheinen mir am überzeugendsten, weil der Autor diese Themen systematisch reflektiert und dadurch immer wieder eine Integration der unterschiedlichen Argumentationslinien erreicht. Dennoch fehlt dem Buch ein klar erkennbarer roter Faden. Niehaus’ multiperspektivische, genealogische Zugangsweise zu einem wichtigen Bestandteil unserer Rechtskultur erschließt eine Vielzahl von unterschiedlichen Geschichten und erlaubt verschiedene Lesarten. Angesichts dessen ist das Fehlen einer Zusammenfassung umso bedauerlicher. Das gut gearbeitete Register kann dieses Defizit nicht ersetzen, weil es den Leser zwar Anhaltspunkte für eigene Aneignungsstrategien bereitstellt, ihn aber – ganz im postmodernen Sinn – im unklaren läßt über die vom Autor privilegierte Aneignung.


Prof. Dr. Peter Becker
Universität Wien
Institut für Geschichte
Dr.-Karl-Lueger-Ring 1
AT - 1010 Wien

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Ins Netz gestellt am 22.07.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Joachim Linder (1948-2012). Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Peter Becker: »Ein Verhör ist ein Verhör ist ein Verhör«. (Rezension über: Michael Niehaus: Das Verhör. Geschichte - Theorie - Fiktion. München: Wilhelm Fink 2003.)
In: IASLonline [22.07.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=823>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Douglas Hay: Property: »Authority and the Criminal Law«. In: D. H. u.a. (Hg.): Albion's Fatal Tree. London: A. Lane 1975, S. 40 ff. Diese Funktionslogik der frühneuzeitlichen Justiz blieb nicht auf England beschränkt, sondern findet sich auch am Kontinent. Vgl. dazu exemplarisch: Peter Becker: »Ich bin halt immer liederlich gewest und habe zuwenig gebetet«. Illegitimität und Herrschaft im Ancien Régime: St. Lambrecht 1600–1850. In: Rudolf Vierhaus (Hg.): Frühe Neuzeit – Frühe Moderne? Zur Vielschichtigkeit historischer Übergangsprozesse. (17.–19. Jahrhundert) Göttingen 1992, S. 174 ff.   zurück
Michael Kilian: Verwaltungskultur im Spiegel verschiedener Literaturgattungen. In: Winfried Kluth (Hg.): Verwaltungskultur. Baden-Baden: Nomos 2001, S. 113–140 (zit. S. 114).   zurück