Olaf Müller

Sex, Krieg und die Geburtenrate:
Julia Drosts Rekontextualisierung von Victor Marguerittes Skandalroman La Garçonne




  • Julia Drost: La Garçonne. Wandlungen einer literarischen Figur. (Ergebnisse der Frauen- und Geschlechterforschung an der FU Berlin. Neue Folge 2) Göttingen: Wallstein 2003. 312 S. 19 s/w, 8 farb. Abb. Kartoniert. EUR 26,00.
    ISBN: 3-89244-681-4.


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Wer ist Victor Margueritte?

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Das literarische Werk des über mehr als vierzig Jahre äußerst produktiven Victor Margueritte (1866–1942) ist heute, ebenso wie der Autor selbst, weitgehend in Vergessenheit geraten; so weit, daß er im Titel der hier anzuzeigenden Dissertation von Julia Drost, die seinem größten Erfolg gewidmet ist, gar nicht mehr auftaucht.

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Gemessen an den Verkaufszahlen seiner Bücher, ist Victor Margueritte sicher einer der erfolgreichsten französischen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts. Sein epigonaler Naturalismus, den er bis in die 1930er Jahre unbeirrt vertrat, und mehr noch die politischen Konsequenzen seines radikalen Pazifismus, die ihn zu Sympathiebekundungen für das nationalsozialistische Deutschland und zu einem kollaborationistischen Eifer trieben, mit dem er noch Pétain zu übertreffen suchte, haben allerdings dafür gesorgt, daß er nach 1945 aus dem kulturellen Gedächtnis verschwunden ist.

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Überstrahlt vom militärischen Ruhm des Vaters, eines Generals, der 1870 bei Sedan durch ein Himmelfahrtskommando mit tödlichem Ausgang zum Nationalhelden geworden war, begann Margueritte eine an äußeren Ehrungen sehr bald reiche Karriere, 1 für deren Beförderung er einflußreiche Freunde wie Raymond Poincaré oder Léon Blum geschickt einzusetzen verstand. 1900 wurde er Offizier der Légion d’honneur, 1905 Mitglied der Société des gens de lettres, 1906 deren Präsident. Sein Talent zur Selbstvermarktung und sein Gespür für gutverkäufliche bis reißerische Themen waren beachtlich. Trotz einiger Rückschläge bei Versuchen, sich in die Académie Goncourt wählen zu lassen oder den Romanpreis der Académie française zu erlangen, befand er sich bei Kriegsausbruch auf einem Gipfel gesellschaftlichen Erfolgs.

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Zu Victor Hugos 29. Todestag hatte er in seiner Funktion als Präsident der Hugo-Gesellschaft im Mai 1914 die Rede im Pantheon gehalten, und noch Anfang Juli, bei der Übergabe einer Hugo-Statue an England im Rahmen großer Feierlichkeiten auf Guernesey, in deren Verlauf er auch zum ›Commandeur‹ der Légion d’honneur ernannt wurde, repräsentierte er gleichsam das republikanisch-literarische Frankreich. Wie sehr sein Selbstverständnis noch zwanzig Jahre später durch diesen Status geprägt war, belegt ein von Julia Drost zitiertes Zeugnis (S. 32) aus Claude Lévy-Strauss’ Tristes tropiques, in dem sich der Anthropologe an seine Zeit als Marguerittes Privatsekretär Anfang der 1930er Jahre erinnert:

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sa mère était cousine germaine de Mallarmé; les anecdotes, les souvenirs étaient son affectation. Aussi parlait-on familièrement chez lui de Zola, des Goncourt, de Balzac, de Hugo comme d’oncles et de grands-parents dont il eût le soin de gérer l’héritage.
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1922 gelang Margueritte dann mit dem Roman La Garçonne ein europaweiter Erfolg, der ihn zu einem reichen Mann machen sollte. 2

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Zum interpretativen Ansatz
von Julia Drosts Arbeit

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Diesen Roman und seine Rezeptionsgeschichte vor allem in den 1920er Jahren untersucht Julia Drost nun in ihrer Berliner Dissertation, wobei sie einen besonderen Akzent auf die Rezeption des Romanstoffs in anderen Medien wie Theater, Film und Graphik legt. Die Arbeit kann sich auf Vorarbeiten in Frankreich und in den USA – besonders auf die Untersuchungen von Christine Bard 3 und Mary-Louise Roberts 4 – stützen, geht jedoch an vielen Stellen über die bisherigen Ergebnisse hinaus. Die Verfasserin formuliert den Anspruch ihrer eigenen Arbeit folgendermaßen:

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Eine umfassende monographische Untersuchung von La Garçonne, die sich sowohl mit der literaturgeschichtlichen Einordnung in das Gesamtwerk des Autors, der zeitgenössischen Rezeptionsgeschichte sowie der Überführung der literarischen Figur in visuelle Medien befaßt, ist bislang nicht erfolgt. Die vorliegende Arbeit macht es sich deshalb zur Aufgabe, die genannten Aspekte in die werkmonographische Untersuchung einzubeziehen. (S. 19)
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Besonders interessiert sie dabei,

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daß die Romanfigur der Garçonne in ihrer Rezeptionsgeschichte in den zwanziger Jahren einen Autonomisierungsprozeß erfährt und sich zu einem »Mythos des Alltags« im Sinne Roland Barthes’ entwickelt. Dieser Prozeß der Autonomisierung manifestiert sich in der intensiven zeitgenössischen Rezeption und dem medialen Transfer, (S. 20)
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insbesondere durch »die Veränderungen, die sich durch die Übertragung der Garçonne in die visuellen Medien – sei es Film, Illustration oder die Mode – vollziehen« (S. 23). Die Autorin, die mehrfach die Bedeutung der »Minores« und »Minimi« (S. 21, S. 26) für ein kulturgeschichtlich fundiertes Verständnis der Epoche betont, gliedert ihre Untersuchung in drei Hauptteile, deren erster die Kontextualisierung des Romans innerhalb von Marguerittes Gesamtwerk leisten soll, während der zweite sich dem Autonomisierungsprozeß der literarischen Figur in der »gesellschaftlichen Rezeption« widmet, der »im Sinne einer an der ›nouvelle histoire‹ orientierten literaturwissenschaftlichen Untersuchung rekonstruiert werden soll« (S. 23). Der dritte Teil schließlich befaßt sich mit dem Transfer des Romans in andere Medien wie Illustration, Mode, Theater und Film.

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Die Garçonne im Kontext
von Marguerittes Gesamtwerk

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Es folgt eine eingehende Darstellung des Margueritteschen Gesamtwerks im Blick auf die in der Garçonne problematisierten Fragen. Drost erinnert daran, daß sich feministische Themen im weitesten Sinne schon in Romanen wie Les femmes nouvelles (1899) oder Les deux vies (1902) finden, die Victor noch gemeinsam mit seinem Bruder Paul verfaßt hatte. Die beiden thematisieren darin das Problem der Liebesheirat und der Ehescheidung, für die sie sich bereits seit den 1890er Jahren aktiv einsetzten, ebenso wie für das Frauenwahlrecht, das in Frankreich bekanntlich erst nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt werden sollte. Mit dem ersten ohne den Bruder verfaßten Roman – Prostituée von 1907 – erprobte Margueritte das Verfahren, das auch die Garçonne auszeichnet, nämlich die Kombination eines moralisierenden Anliegens mit der Darstellung von für das breite Publikum der Zeit außerordentlich eindeutigen und schockierenden Szenen.

[16] 

Drost stellt die Schwierigkeiten der Literaturgeschichtsschreibung dar, Marguerittes Werk, wenn es denn überhaupt erwähnt wird, zu kategorisieren. Sie schlägt – neben den offensichtlichen und auch von Margueritte selber immer wieder hervorgehobenen Verbindungen zur naturalistischen Tradition –, den von Susan Suleiman geprägten Begriff des »roman à thèse« vor (S. 53–56), was, wenn man an die von Suleiman unter diesem Begriff subsumierten Werke (Romane von Paul Bourget, Paul Nizan, Maurice Barrès, André Malraux, Jean-Paul Sartre) denkt, 5 immerhin eine gewisse literarische Rehabilitierung bedeutet.

[17] 

Die Garçonne im Kontext der zeitgenössischen Debatten
um die gesellschaftliche Stellung der Frau
und um die ›Wiederbevölkerung‹

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Der Roman erzählt die Geschichte der jungen Monique Lerbier zwischen 1917 und 1922. Die Tochter eines Chemiefabrikanten, der während des Ersten Weltkriegs in der Rüstungsindustrie zu großem Reichtum gelangt ist, soll mit einem Geschäftspartner ihres Vaters verheiratet werden. Als sie noch vor der Hochzeit entdeckt, daß ihr zukünftiger Mann sie betrügt, löst sie die Verlobung auf und stürzt sich in eine Reihe von erotischen Abenteuern mit Männern und Frauen, die Margueritte mit voyeuristischem Vergnügen ausmalt. Monique, die über einen Hochschulabschluß verfügt, verdient ihren Lebensunterhalt, indem sie ein Büro für Innenarchitektur eröffnet. Ihre mondänen Bekanntschaften sichern ihr bald einen finanzkräftigen Kundenstamm und die völlige ökonomische und soziale Unabhängigkeit, die sie nach außen durch eine Kurzhaarfrisur dokumentiert. Als sie ihrer wechselnden Liebschaften überdrüssig wird, wünscht sie sich ein Kind, muß jedoch nach einiger Zeit feststellen, daß sie keine Kinder bekommen kann. Ihren Kummer darüber betäubt sie mit Opium.

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Als sie in einen Kreis sozialistischer Intellektueller gerät, wendet sich alles zum Guten. Ein erster Geliebter aus dieser Gruppe kann sie zwar von ihren selbstzerstörerischen Tendenzen abbringen, kommt aber bei aller zur Schau getragenen Progressivität nicht über seine kleinbürgerlichen Vorurteile hinweg und kann nicht verkraften, daß Monique andere Männer vor ihm hatte. Die Rettung bringt dann Georges Blanchet, ein toleranter Akademiker, der soeben seine philosophische Habilitation über die moderne Ehe abgeschlossen hat. Die beiden heiraten, ihm zuliebe läßt sie auch ihr Haar wieder wachsen, und der Erzähler liefert den versöhnlichen Schluß: »La révoltée d’autrefois devant le mensonge et la brutalité de l’homme, la garçonne se retrouvait femme, et faible, devant la grandeur du véritable amour.«

[20] 

Margueritte bezieht sich in dem Roman ausdrücklich auf die Ehetheorien, die Léon Blum 1907 in Du mariage entwickelt hatte, andere zeitgenössische Beiträge zur Debatte um eine zeitgemäße und der durch den Krieg verursachten Dezimierung der männlichen Bevölkerung Rechnung tragende Form der Ehe sind, wie Drost knapp andeutet (S. 58–59), in der Garçonne als Subtexte wahrnehmbar. Zu den wenigen Kritikpunkten, die man zu Drosts Arbeit vortragen kann, gehört meines Erachtens, daß bei der ansonsten sehr überzeugend gelungenen Rekonstruktion der Diskurse, an die der Roman anschließt, die in Frankreich schon vor dem Krieg begonnene, danach aber erst recht unüberhörbare Debatte um die vermeintlich notwendige Wiederbevölkerung etwas zu kurz kommt.

[21] 

Dabei ist das Verständnis für den anscheinenden Widerspruch zwischen Marguerittes Engagement für die Rechte der Frau, insbesondere das Recht auf Abtreibung, auf der einen und dem in seinem Gesamtwerk gleichzeitig deutlich sichtbaren Kult der Mütterlichkeit und Fruchtbarkeit auf der anderen Seite ohne die verschiedenen Ausprägungen dieser Debatte nicht wirklich zu begreifen. Drost nennt zwar die Arbeiten von Francis Ronsin zum Neomalthusianismus, 6 also der radikalen Gegenposition zum Wiederbevölkerungsdiskurs, die Margueritte in zahlreichen Pamphleten und Petitionen unterstützte (S. 88–90), aber die gesamtgesellschaftlich wesentlich einflußreichere Position der Natalisten bleibt ein wenig unterbeleuchtet. Spätestens seit der Niederlage im deutsch-französischen Krieg von 1870 / 71 ist aber die Idee einer für Frankreich überlebensnotwendigen Repopulationspolitik fester Bestandteil des Krisendiskurses nicht nur der politischen Rechten.

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Zum Kontext der Garçonne-Rezeption gehört deshalb nicht nur das von Drost zurecht betonte Skandalon der sexuell autonomen Frau, sondern auch und vor allem, daß für ein auf Wiederbevölkerung erpichtes Lesepublikum diese Autonomie gleichbedeutend war mit Kinderlosigkeit. Besonders auf diesen Zusammenhang zielte Clément Vautels Roman Madame ne veut pas d’enfant (1924), den Drost in ihrem Kapitel über die Reaktionen auf Marguerittes Garçonne ebenfalls untersucht.

[23] 

Zu den Ironien von Marguerittes uneindeutiger Position in der Geburtenfrage gehört, daß zwar alle Versuche, ihn wegen des vermeintlich unmoralischen Gehalts des Romans ab 1922 gerichtlich zu belangen, fehlschlugen, daß aber der Beschwerde zweier natalistischer Vereinigungen, der Alliance nationale pour l’accroissement de la population française und der Ligue populaire des pères et mères de familles nombreuses, bei der Ehrenlegion stattgegeben wurde und Margueritte seiner Titel in der Légion d’honneur verlustig ging. Zu den Gründern der 1896 ins Leben gerufenen Alliance gehörte aber kein anderer als der von Margueritte hochverehrte Émile Zola, der in seinem natalistischen Propagandaroman Fécondité bereits 1899 die Ängste ausgedrückt hatte, die nach 1918 noch in verstärktem Maße die politische Klasse in Frankreich umtrieben:

[24] 
Le chiffre des naissances, en Angleterre, en Allemagne, en Russie, monte toujours, tandis qu’il baisse effroyablement chez nous. Nous ne sommes déjà plus, par le nombre, qu’à un rang très inférieur en Europe; et le nombre, aujourd’hui, c’est plus que jamais la puissance. On a calculé qu’il faut une moyenne de quatre enfants par famille, pour que la nation progresse, détermine et maintienne la force d’une nation. 7
[25] 

Fast immer geht Drost ansonsten aber sehr gründlich auf die sozialen und kulturpolitischen Zusammenhänge ein, in denen sich die von ihr untersuchten Texte bewegen, an manchen Stellen vielleicht sogar zu ausführlich und mit nicht unbedingt notwendigen Belegen, so wenn sie erläutert, daß sich hinter Romanfiguren aus der Garçonne der Historiker Charles Seignobos und die Sängerin Mistinguett erkennen lassen und sie dafür unkommentiert mehrere Veröffentlichungen von Seignobos aufzählt (S. 61), oder zu Mistinguett, die für die weitere Argumentation keine Rolle spielt, drei Sekundärtitel nennt (S. 63). Ähnliches ließe sich für die ausführliche Angabe von Handbuchliteratur wie die Propyläen-Geschichte Europas (S. 128), die von Georges Duby herausgegebene Histoire de la France (ebd.) oder die Nouvelle histoire de la France contemporaine sagen, teilweise sogar mit längeren Zitaten daraus (S. 268).

[26] 

Diese Kritik fällt aber insgesamt kaum ins Gewicht, besonders angesichts der außerordentlichen Vorzüge, die Drosts Genauigkeit im Detail ansonsten hat, so wenn sie zu Marguerittes Abtreibungsroman Ton corps est à toi (1927) äußerst aufschlußreiche Rezeptionszeugnisse von Gottfried Benn beibringt. Überhaupt bietet ihre Darstellung von Marguerittes Spätwerk (S. 84–109) in seinem kulturellen Kontext ein informatives Panorama der zweiten und dritten Liga der französischen Literaturszene der dreißiger Jahre, bei dem deutlich wird, daß sich die gesellschaftlichen Tendenzen, die dann in Vichy zum offiziellen Ausdruck kamen, hier schon wesentlich eher und extremer äußern als in den kanonisierten Werken. Marguerittes Antisemitismus ist hier nur ein besonders unerfreuliches Beispiel.

[27] 

Der Skandal:
die zeitgenössische Rezeption der Garçonne

[28] 

Drost hat auch hier (S. 116–117) beachtliche Mengen an sehr signifikanten Rezeptionszeugnissen zusammengetragen, die sie geschickt montiert und mit denen sie zeigen kann, wie selbst die feministischen Gruppierungen, denen Margueritte sich verpflichtet fühlte, sich durch die kruden Sexszenen stärker abgestoßen als durch die plakative politische (eher eigentlich moralische) Botschaft des Texts angezogen fühlten.

[29] 

Wie Drost schon vorher zeigen konnte, erregte vor allem die Transposition der Thematik in ein bürgerliches Milieu Anstoß. Anders als beispielsweise Colette in ihren Romanen, ließ Margueritte seine Ausschweifungen in einem explizit großbürgerlichen Milieu spielen, was schon Georges de la Fouchardière als seinen größten Fehler und den eigentlichen Grund für den Skandal bezeichnet hatte (S. 115).

[30] 

Der Abschnitt über die durch den Ersten Weltkrieg ausgelöste »crise de l’esprit« (S. 127–147) und den Ort des Garçonne-Phänomens in diesem Krisenbewußtsein stellt sich zwangsläufig ein wenig disparat dar. Der kulturellen Verarbeitung des Kriegserlebnisses, das hier etwas verharmlosend als »außerordentlich produktiver Themenkomplex« (S. 130–131) bezeichnet wird, kann man auf so knappem Raum natürlich nicht gerecht werden, aber Drost gelingt es dennoch, wichtige Zusammenhänge prägnant zu skizzieren. Besonders interessant ist das auch schon von Zeitgenossen wie Benjamin Crémieux notierte Motiv der lebensunfähig gewordenen, antriebslosen Kriegsheimkehrer, denen antithetisch in zahlreichen Nachkriegsromanen dynamische Karrierefrauen korrespondieren (S. 139).

[31] 

Ein längerer Abschnitt über die »Garçonne als Sappho – Frauenliebe in La Garçonne« (S. 147–180) ist passagenweise sehr eng an Christine Bard und andere Sekundärliteratur angelehnt, hat aber immer noch das Verdienst, diese größtenteils der französischen und angloamerikanischen Forschung entstammenden Arbeiten für ein deutsches Publikum zu synthetisieren, ohne dabei die Primärquellen aus dem Auge zu verlieren.

[32] 

Besonders beeindruckend setzt der dritte Teil des Buchs, »Medialer Transfer und neue Sinnstiftung«, ein, wenn Drost mit großer Akribie aus Filmarchivbeständen und nach Durchsicht der zeitgenössischen Pressereaktionen die Rezeption der ersten Filmfassung der Garçonne (1923) rekonstruiert. Eine Besprechung aus dem Figaro zeigt, daß der Film, wie schon der Roman, von seinen Kritikern immer auch im Blick auf seine Auswirkungen auf das Bild Frankreichs in Deutschland bewertet wurde: »Il ne convient pas, il ne faut pas que, sous l’estampille française, des exhibitions pornographiques aillent alimenter la propagande de mensonge et de haine qui, par toutes les voies, se poursuit sans répit en Allemagne contre ce qui est français« (S. 190).

[33] 

Auch für die Interpretation der Spezifika der Bühnenfassung von 1926 kann Drost beachtliche Rezeptionsbelege aus den entsprechenden Dossiers der Bibliothèque de l’Arsénal präsentieren, womit sie wertvolle Pionierarbeit leistet (S. 196–200).

[34] 

Ein längerer Abschnitt (S. 200–229) ist den Illustrationen gewidmet, die Kees van Dongen 1925 für eine Luxusausgabe der Garçonne anfertigte. Drost zeigt dabei interessante Verbindungen zur Werbe- und Modegraphik der Zeit auf und kann so auch Textschichten freilegen, die einer uninformierten Lektüre verborgen bleiben würden. Die eher auf voyeuristische Effekte als auf eine adäquate Transposition der feministischen Aspekte von Marguerittes Roman abzielende Auswahl der illustrierten Szenen führt dazu, daß das verbreitete Bild von der Garçonne als rauchender und autofahrender »Sappho, Modefrau und nicht zuletzt dynamische[r] Allerweltsfrau« (S. 228) sich stärker van Dongens Illustrationen als dem Roman selbst verdankt.

[35] 

Im Abschnitt über »La Garçonne und die Mode der zwanziger Jahre« (S. 230–260) stellt Drost die gesellschaftspolitischen Implikationen der Haar- und Kleidermoden dar und rekonstruiert die Debatten um die angemessene Kleidung für Frauen von der Revolution bis in die 1920er Jahre unter Berücksichtung der Positionen des Staats, der katholischen Kirche und der Frauenbewegung. Besonders kurios und gleichzeitig als indirekter Beitrag zur aktuellen Diskussion um das Kopftuch in Frankreich lesen sich die Stellungnahmen aus dem katholischen Lager, wo man sich für die »loi de la modestie« in Fragen weiblicher Kleidung einsetzte (S. 249–250).

[36] 

In der Kleider- und Frisurenfrage drücken sich auch wieder die Ängste um eine durch den Krieg verschärfte »Entvölkerung« Frankreichs aus, die nun, da schon ein objektiver Männermangel bestehe, auch noch durch »gebärfeindliches« Verhalten der Frauen begünstigt werde, wie ein Artikel aus der Revue mondiale von 1919 mit dem Titel »Mode féminine et dépopulation« illustriert. Auch der Zusammenhang mit der Kriegserfahrung wird wieder sichtbar, wenn es in einer katholischen Streitschrift mit dem Titel »La mode est coupable« (1920) an die Frauen gerichtet heißt: »Vos enfants souffriront par votre faute, et la génération future, issue d’une époque de jouissance, ne saura pas conserver ce que nos soldats ont défendu« (S. 252).

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Fazit

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In ihren zusammenfassenden Überlegungen legt Julia Drost noch einmal dar, daß Margueritte »der eigene Roman und die literarische Schöpfung der Garçonne in der gesellschaftlichen Rezeption entglitten« (S. 266) seien, da der Begriff bald vor allem als Synonym für offen gelebte weibliche Homosexualität verwendet wurde, was durch die Illustrationen Kees van Dongens besonders befördert wurde. Die Garçonne als Modephänomen, wie sie sich in Werbezeichnungen und schließlich im Film findet, wurde dann zu der Gestalt, die sich im Sinne von Barthes’ Definition als »Mythos der zwanziger Jahre« (S. 267) verstehen läßt.

[39] 

Drost betont abschließend noch einmal, daß sich »die Bedeutung der Figur der Garçonne in ihrer Komplexität erst dann erschließt, wenn sie im Kontext ihrer Medienwechsel und ihrer Ausprägungen in den visuellen Medien betrachtet wird« (S. 269), und möchte sie, ein wenig vage, als ein Phänomen der »Schwelle zwischen Vorkriegs- und Nachkriegswelt, zwischen Tradition und moderner Gesellschaft der zwanziger Jahre« deuten. Auch wenn angesichts dieses deutlichen Schlußworts die genaue Betrachtung der dem Krieg geschuldeten kulturellen Umbrüche ein wenig zu kurz kommt, ist Julia Drost ein beeindruckendes kulturhistorisches Panorama der französischen Nachkriegsgesellschaft aus in der deutschen Romanistik in dieser Dichte bislang noch nicht bearbeitetem Material gelungen.

[40] 

Bemerkenswert ist, neben der umfänglichen und besonders für die Rezeptionsgeschichte wertvollen Bibliographie, auch die ansprechende Gestaltung des Buchs, das mit zahlreichen, sinnvoll ausgewählten Illustrationen angereichert ist.


Dr. Olaf Müller
Institut für Romanistik
Friedrich Schiller-Universität Jena
Ernst Abbe-Platz 8
DE - 07743 Jena

Ins Netz gestellt am 08.09.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten PD Dr. Alf Christophersen. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Julia Ebeling.

Empfohlene Zitierweise:

Olaf Müller: Sex, Krieg und die Geburtenrate: Julia Drosts Rekontextualisierung von Victor Marguerittes Skandalroman La Garçonne. (Rezension über: Julia Drost: La Garçonne. Wandlungen einer literarischen Figur. Göttingen: Wallstein 2003.)
In: IASLonline [08.09.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=825>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Für eine umfassende biographische Darstellung vgl. Patrick de Villepin: Victor Margueritte. La vie scandaleuse de l’auteur de »La Garçonne«. Préface de J.-B. Duroselle de l’Institut. Paris: Éditions François Bourin 1991.   zurück
Vgl. auch Ingeborg Harms: »Die Zwanziger flirten sehr subtil. Julia Drost verfolgt die literarische Konjunktur des Garçonne-Typs«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. April 2004, S. 32.   zurück
Christine Bard: Les filles de Marianne. Histoire des féminismes. 1914–1940. Paris: Fayard 1995; C. B.: Les Garçonnes. Modes et mythes des années folles. Paris: Flammarion 1998.   zurück
Mary-Luise Roberts: Civilization without sexes. Reconstructing Gender in Post-War France. 1917–1927. Chicago, London: University of Chicago Press 1995.   zurück
Vgl. Susan Rubin Suleiman: Le roman à thèse ou l’autorité fictive. Paris: Presses universitaires de France 1983.   zurück
Vgl. Francis Ronsin: La grève des ventres. Propagande néo-malthusienne et baisse de la natalité en France (XIXe-XXe siècles). Paris: Aubier Montaigne 1980.   zurück
Emile Zola: Fécondité [1899]. Hier nach E. Z.: Œuvres complètes. Édition établie sous la direction de Henri Mitterand. Bd. 8. Paris: Fasquelle (Cercle du livre précieux) [1968], S. 11–527, hier S. 35.   zurück