Peter Brandes

Kursbuch Goethe

Literatur als Krankheitsstudie




  • Thorsten Valk: Melancholie im Werk Goethes. Genese - Symptomatik - Therapie. (Studien zur deutschen Literatur 168) Tübingen: Max Niemeyer 2002. VIII, 327 S. Kartoniert. EUR 48,00.
    ISBN: 3-484-18168-0.


[1] 

Die Hypochonder unter den Germanisten werden das Phänomen kennen. Währt eine Krankheit länger als üblich, so greift man zum populären Handbuch des medizinischen Laien: dem Kursbuch Gesundheit, und schon lassen sich die schwerwiegendsten Krankheiten am eigenen Körper hermeneutisch ableiten. Zum Krankheitsbild der Melancholie wird man allerdings wenig finden, ist doch dieser Begriff im medizinischen Diskurs längst von dem der Depression abgelöst worden. Um die Melancholie als Krankheit eingehend zu studieren, bietet sich dagegen nunmehr das Werk Goethes an. Denn dort gelangen die verschiedenen Formen der Melancholie zur Darstellung. Das ist jedenfalls die These von Thorsten Valks Freiburger Dissertation. Die Virulenz der Melancholie in Goethes Dichtung soll hier gar nicht bestritten werden. Im Gegenteil, Valks Arbeit ist in dieser Hinsicht als ein ausgesprochener Gewinn für die Goethe-Philologie anzusehen. Gleichwohl stellen sich einige Fragen hinsichtlich Valks methodischem Vorgehen und seiner Lektürepraxis.

[2] 

Die herausragende Bedeutung der Melancholie für Goethes Werk zeigt sich sinnfällig in einem Gedicht aus der Zeit zwischen 1812 und 1815:

[3] 
Zart Gedicht, wie Regenbogen,
Wird nur auf dunklen Grund gezogen;
Darum behagt dem Dichtergenie
Das Element der Melancholie. 1
[4] 

Der Reim zeigt die poetologische Programmatik des Vierzeilers an: Melancholie wird als eine dunkle Muse des Dichters hervorgehoben. Hier setzt nun Valks Studie zur Melancholie im Werk Goethes ein. Der Vierzeiler Goethes bildet allerdings nur den charmanten und augenfälligen Anfangspunkt der Arbeit. Denn Valk geht es um mehr als um die bekannte Affinität von Melancholie und Dichtertum. Valk will den Einfluss der »unterschiedlichen europäischen Melancholietraditionen« (S. 3) auf Goethes Dichtung aufzeigen und damit dessen »literarisches Werk in einen bislang vernachlässigten Gesamthorizont einordnen« (S. 15). Dies ist ein weit gefasster Anspruch, der ebenso an seinen Lektüren wie an seiner theoretischen Grundierung zu messen ist.

[5] 

Methodische Voraussetzungen

[6] 

Valks Studie geht in zwei Schritten vor. Zunächst wird die Entwicklung des Melancholie-Begriffs von der Antike bis zur Goethezeit nachvollzogen. Der dadurch gewonnene Wissens-Fundus bildet gleichsam die Folie für die Einzelanalysen der Werke, die sich von Werther über Tasso, Lila, Wilhelm Meisters Lehrjahre und Die Wahlverwandtschaften bis zu Faust I erstrecken. Diese Texte werden jeweils unter einem bestimmten Aspekt der aufgezeigten Melancholie-Diskurse diskutiert. Methodisch orientiert sich Valks Arbeit an einer ideengeschichtlich geleiteten Hermeneutik. Eine literaturtheoretische Reflexion zum methodischen Vorgehen fehlt allerdings.

[7] 

Im Blickpunkt der Studie steht die vor allem medizinisch indizierte Pathologie der Melancholie. Melancholie erscheint hier unzweifelhaft als Krankheit, deren Symptome man erkennen und – mit unterschiedlichem Erfolg – therapieren kann. Valk geht es dabei um die Figur des Melancholikers bei Goethe: »Immer wieder rückt Goethe ausgesprochene Melancholiker ins Zentrum seiner Dichtungen« (S. 3). So entspreche Tasso dem Typus des Künstler-Melancholikers, wohingegen Faust dem Konzept des Gelehrten-Melancholikers folge. Dabei inszeniere Goethe je nach Figuren-Charakter und jeweiliger Heilmethode unterschiedliche Verlaufsformen. Während in den Lehrjahren »Mignon und der Harfner [...] an der Melancholie [zerbrechen]« (S. 4), überwindet Wilhelm seine Melancholie.

[8] 

Deutlich wird aus diesen einleitenden Bemerkungen bereits, wie Valk den Konnex von Literatur und Melancholie auffasst. Goethe greift ihm bekannte Melancholie-Konzepte auf und verarbeitet sie in seinen Dichtungen. Literatur wird somit zum Spiegel zeit- und ideengeschichtlicher Melancholie-Konzeptionen. Inwieweit Goethe diese Melancholie-Theorien literarisiert, wie und ob sich also Literatur von Krankheitsstudien unterscheidet, bleibt dabei offen. Auch die anschließenden Text-Lektüren geben hierauf keine befriedigende Antwort. So bleibt der Leser der Studie auf die Hermeneutik der Medizin angewiesen: Der Interpret entschlüsselt wie ein Arzt aufgrund medizinischer Kenntnisse Symptome und Krankheitsverlauf der Melancholie. Die Frage, wie hieraus eine literarische Hermeneutik zu begründen wäre, lässt die Arbeit unbeantwortet.

[9] 

Es zeigt sich hieran die Kehrseite jenes Verzichtes auf literaturtheoretische Reflexionen. Diese sind gerade dann unbedingt gefragt, wenn sich Literatur auf nichtliterarische Texte bezieht bzw. diese sogar produktiv aneignet. Denn in der hermeneutischen Vermittlung zwischen einem medizinischen Melancholie-Begriff, wie ihn Valk in seinem ersten Kapitel zur europäischen Melancholie-Tradition entwirft, und der Literarizität der Texte bestünde nun gerade die Aufgabe der Lektüre.

[10] 

Melancholie-Begriff

[11] 

Die Ausgangsbasis der Untersuchung bildet die Pathologie der schwarzen Galle des Corpus Hippocraticum sowie das berühmte Problem XXX.1 aus der pseudoaristotelischen Schrift Problemata. 2 Die Studie orientiert sich dabei wesentlich an dem zentralen Werk Saturn und Melancholie von Klibansky, Panofsky und Saxl. 3 In dieser Hinsicht bietet die Arbeit wenig Neues, führt aber in stringenter und prägnanter Form die bekannten Stränge der Humoralpathologie und der Temperamentenlehre zusammen und lässt sie in die Melancholie-Konzeptionen der Goethezeit münden. Goethes Lebzeit bildet also gleichsam die Zäsur für den hier angenommenen Melancholiebegriff.

[12] 

Aus produktionsästhetischer Sicht mag dieser Schnitt gerechtfertigt sein. Doch bleibt die Frage, ob dies für die hier angestrebte Interpretation des Goetheschen Werks ausreichend ist. Denn möglicherweise antizipiert ja die literarische Melancholie Phänomene, die erst später theoretisch fundiert werden. Es sei hier nur auf die poetische Vorwegnahme der Psychoanalyse durch die literarische Romantik hingewiesen. Vor diesem Hintergrund verwundert es dann doch, dass im Rahmen der Studie Freuds Aufsatz Trauer und Melancholie und Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft nicht einmal Erwähnung finden. 4 Immerhin argumentiert Valk oft mit dem Begriff des Wahns. Es ist von Werthers »realitätsverkennende[m] Wahn« (S. 76), Tassos »pathologische[r] Wahnbildung« (S. 122) und dem »Verfolgungswahn« (S. 218) des Harfners die Rede. Diesen Markierungen wird stets eine gesellschaftlich legitimierte Vernunftposition, ein »nüchterne[r] Realitätssinn« (S. 123), gegenübergestellt. Gerade mit Blick auf dieses ambivalente Verhältnis von Vernunft und Wahnsinn wäre eine Beschäftigung mit Foucaults Schrift wertvoll gewesen. Denn sehr oft wird in der Untersuchung die Melancholie mit einem pathologischen Wahnsinn gleichgesetzt und damit aus der Sphäre der Vernunft ausgeschlossen. Indem Valk also die Melancholie-Konzeptionen der Goethezeit auf Goethes Dichtungen anwendet, reproduziert er gleichzeitig die von Foucault diagnostizierte gesellschaftliche Domestizierung des Wahnsinns und der Melancholie.

[13] 

Dementsprechend ergibt sich für Valk ein mehr oder minder klares Bild des Melancholikers bei Goethe, das sich nämlich wesentlich aus der Opposition von Wahnsinn und Vernunft entwickelt. Als wichtigste Charakteristika erscheinen der Konnex von Genie und Wahnsinn, ungesunde Lebensführung, übersteigerte Einbildungskraft, Suizidneigungen, Gefühlskult, Rückzug in die Einsamkeit, Realitätsverlust.

[14] 

Dass ein etwas weiter gefasster Melancholie-Begriff, der auch Ansätze aus dem 20. Jahrhundert berücksichtigt, für eine literaturgeschichtliche Arbeit wertvoll sein kann, haben nicht zuletzt die beiden wichtigen Studien von Hans-Jürgen Schings und Martina Wagner-Egelhaaf gezeigt. 5 Die von beiden Arbeiten hervorgehobene anthropologische Perspektive, die der Melancholie inhärent ist, kann nicht ohne Folgen für eine philologische Arbeit zur Melancholie bleiben. Eine solche hat sich mit der von Wagner-Egelhaaf aufgeworfenen These auseinander zu setzen, Melancholie sei der Literatur nicht äußerlich, sondern ein strukturgebendes Prinzip ihrer Literarizität, weshalb Wagner-Egelhaaf auch nicht von der »Melancholie in der Literatur«, sondern von der »Melancholie der Literatur« spricht. 6

[15] 

Melancholische Veranlagung:
Werther

[16] 

Genese, Symptomatik, Therapie: Nach dieser Trias geht Valk auch in den Einzeldeutungen der Goetheschen Werke vor. Die Genese fragt zunächst nach der Verlaufsform der Melancholie. Hierbei geht Valk gemäß den antiken Melancholie-Konzeptionen davon aus, dass der Melancholiker entweder schon melancholisch veranlagt ist oder erst aufgrund äußerer Umstände erkrankt. Die Figur Werthers sieht Valk im Gegensatz zur bisherigen Forschung als melancholisch veranlagt an. Ihr Krankheitsbild erweise sich zudem als eine nicht mehr therapierbare tödliche Melancholie (vgl. S. 77 ff.).

[17] 

Wie kaum ein anderes Buch Goethes scheint Die Leiden des jungen Werthers einen geradezu idealen Ausgangspunkt für eine Untersuchung der Melancholie zu bilden. Bereits der Titel legt eine Pathologie des Protagonisten nahe. Dementsprechend widmet sich Valk zunächst der Frage nach der Ursache des Leidens und verweist auf verschiedene Äußerungen Werthers, in denen er von sich in mehr oder minder offener Weise als einem Kranken redet. Schon auf den ersten Seiten des Romans offenbare sich also Werthers Leiden als eine psychische Erkrankung, wenn er nämlich wiederholt von seiner »schleichenden Krankheit« 7 spricht und schließlich die zentrale Formulierung von der »Krankheit zum Todte« 8 fällt. Valks These lautet daher,

[18] 
daß Werthers Leiden in einer psychogenen Krankheit gründet. [...] Setzt man die pathologischen Symptome, von denen an zahlreichen Stellen im Roman die Rede ist, zu einem Mosaik zusammen, so ergibt sich ein klares Krankheitsbild: Werther leidet an der Melancholie. (S. 61)
[19] 

Werthers Symptomatik folgt dabei nicht der Melancholie der Humoraltheorie, sondern den Melancholie-Konzepten des 18. Jahrhunderts.

[20] 

Entgegen sozialgeschichtlichen Deutungsansätzen pointiert Valk seine Interpretation durch die Annahme einer melancholischen Veranlagung des Protagonisten (vgl. S. 63 ff.). Weder die Zurückweisung durch die Adelsgesellschaft noch die unglückliche Liebe zu Lotte seien für die Melancholie Werthers verantwortlich, sondern Werther selbst. Dessen melancholische Veranlagung zeige sich nämlich schon in den Maibriefen, in welchen das Einsamkeitsmotiv des empfindsamen Melancholiekultes ebenso zum Tragen komme wie der Konsum des Kaffees, der von Goethe selbst als melancholisches Getränk par excellence angesehen worden sei. Diese Neudeutung des Kaffeemotivs muss in der Tat als wichtige und bleibende Bereicherung der Werther-Forschung angesehen werden, die im Hinblick auf die zeitgenössische Diätetik unmittelbar einleuchtet. Allerdings ist der Konsum von Kaffee nicht als Symptom für eine melancholische Veranlagung zu verstehen, wie dies Valk nahe legt, sondern als eine der Melancholie zuträgliche Lebensweise.

[21] 

Offen bleibt bei Valks These von Werthers melancholischer Veranlagung letztlich, worin die Disposition zur Melancholie gründet. Valk weiß zwar die Symptomatik bereits in den Maibriefen aufzuzeigen. Diese können aber nicht als Ausweis einer grundsätzlichen melancholischen Veranlagung hinreichen. Valks Unterscheidungsgrund zwischen melancholischer Veranlagung und melancholischer Erkrankung bleibt letztlich so kontingent wie Werthers Melancholie. Er ist nämlich an Werthers Begegnung mit Lotte geknüpft. Die Zeit vor dieser Begegnung wäre die Phase, in der die melancholische Veranlagung sich zeigt, die Zeit nach der Begegnung stünde dagegen unter dem Vorzeichen der melancholischen Erkrankung. In dieser Phase verstärkt sich die melancholische Symptomatik. Werthers Erkrankung äußere sich nun durch seine »hypertrophe Einbildungskraft« (S. 74) und einen damit einhergehenden Wirklichkeitsverlust.

[22] 

Valk spricht mehrfach in seiner Studie von einer überspannten Einbildungskraft, die er als Ausdruck von Wahnsinn und Wirklichkeitsverlust ansieht. In der tätig werdenden Einbildungskraft Werthers sieht er sogar »imaginative Manipulationen« (S. 76) am Werk, die die Wirklichkeit verzerren. Dabei fließt in diese wertende Deutung des Wortes ›Einbildungskraft‹ nicht die Bedeutung dieser Kategorie für die Ästhetik der Goethezeit ein, wie sie u.a. von Schiller und Humboldt in herausragender Weise gebraucht wurde. Sicherlich wurde Goethes eigener Gebrauch zur Zeit des Werther von solchen philosophischen Bedeutungen noch kaum tangiert, doch ob sich aus der Affinität zum Gefühlskult der Empfindsamkeit ein vor allem pathologischer Wortsinn herausdestillieren lässt, muss fragwürdig erscheinen.

[23] 

Ähnliches gilt auch für Valks Deutung des Wortes ›Wahn‹. Wenn z.B. Werther davon spricht, dass man mit Kindern so umgehen solle »wie Gott mit uns, der uns am glüklichsten macht, wenn er uns im freundlichen Wahne so hintaumeln läßt« 9 , so sieht Valk hier einen »realitätsverkennenden Wahn« (S. 76) am Werk, der für Werther als »Quelle zahlreicher Glücksgefühle« (S. 76) fungiere. Das Adjektiv ›freundlich‹ legt jedoch im Satzkontext eine andere, nicht-pathologische Lesart nahe. Denn ›freundlich‹ indiziert hier nicht einen Realitätsverlust, sondern eine Positivität des Wahns, wie der Mensch sie im paradiesischen Zustand, in welchem er noch kein Bewusstsein von Gut und Böse hatte, erlebt haben mag. Das Wort ›Wahn‹, das zeigt auch ein Blick auf die zahlreichen Belege in seinem Werk, lässt sich also bei Goethe nicht allein auf die pathologische Bedeutung im Sinne von Wahnsinn reduzieren – auch wenn dies aus der Perspektive der Melancholie plausibel erscheint.

[24] 

Aus Valks Deutung des Werther-Romans lässt sich eine Tendenz der Interpretation ablesen, die für die gesamte Untersuchung kennzeichnend ist: dass Melancholie eine Krankheit sei, die es zu heilen gelte, da diese sonst den Betroffenen ins soziale Abseits oder schlimmstenfalls zum Tod führe. Dabei argumentiert Valk mit binären Oppositionsbegriffen wie Realität und Phantasie, Wirklichkeit und Wahn, Tätigkeit und Müßiggang, Sozialität und Einsamkeit. Der Melancholiker ist bei Valk ein Stigmatisierter: er ist realitätsfern, faul, asozial. So wird Werther als »überzeugter Müßiggänger« (S. 95) charakterisiert, dessen Interessen an sozialen Kontakten nur geheuchelt seien. Valk übernimmt augenscheinlich die moralischen Wertungen, wie sie in den medizinischen Melancholie-Konzepten von der Antike bis zur Goethezeit vorgenommen wurden. Eine kritische Reflexion auf solche moralischen Festschreibungen sucht man vergebens. Dies ist umso erstaunlicher, als Valk selbst in einem 2002 im Goethe-Jahrbuch erschienenen Aufsatz zu Werthers Melancholie ausdrücklich und zu Recht darauf hinweist, dass Goethe »jede einseitige Verurteilung vom Standpunkt einer rigoristischen Moraldidaxe« 10 vermeidet. Wollte man dagegen die Erkenntnisse aus dem Schluss des Werther-Kapitels generalisieren, man käme auf eine für das Werk Goethes sehr ernüchternde Einsicht, dass nämlich viele seiner großen Charaktere asoziale, wirklichkeitsfremde Phantasten seien.

[25] 

Dichtung als Therapeutikum:
Tasso

[26] 

Als wirklichkeitsfremder Phantast wird Tasso von seinem Gegenspieler Antonio angesehen. Es ist eben dessen Perspektive, die Valk für die Analyse von Goethes Drama Torquato Tasso einnimmt. Dabei stellt er den Konnex von Genie und Melancholie in den Vordergrund. Die literarische Darstellung der Künstler-Melancholie ist für Valk der Gehalt von Goethes Stück. Prinzipiell lasse sich Tasso wie die »Werthergestalt mit Hilfe eines psychopathologischen Melancholiekonzepts schlüssig deuten« (S. 107). Bei Tasso komme darüber hinaus ein »inspirationstheoretische[r] Aspekt zum Tragen« (S. 108).

[27] 

Wie bei Werther akzentuiert Valk daher das Motiv der Einsamkeit und des Realitätsverlustes. Gerade die Einsamkeit, die Tasso so sehr sucht, sei eine »konstitutive Voraussetzung für die kontemplative Existenz des Dichters« (S. 119), die aber gleichzeitig die »Gefahr des Realitätsverlustes« (S. 119) in sich berge. Als ein besonderes Indiz für Tassos Realitätsverlust wertet Valk dessen Reaktion auf das Urteil des Herzogs:

[28] 
Tasso ist nicht in der Lage, mit nüchternem Realitätssinn die Lage einzuschätzen und an der geringen Strafe die wohlgesonnene Haltung des Herzogs abzulesen. Er betrachtet die Situation wiederum nur durch die Brille seiner idealen Dichtung und erliegt damit erneut einer verzerrten Wirklichkeitswahrnehmung. (S. 123)
[29] 

Sehr richtig benennt Valk die zunächst kaum nachvollziehbare Trotz-Reaktion Tassos. Tasso ist außer Stande, aus der emotional stark aufgeladenen Situation hinauszutreten und die Folgen seines Handelns abzuschätzen. Was jedoch seine Perspektive auf das Geschehen angeht, nämlich der Blick durch die, wie Valk es nennt, »Brille seiner idealen Dichtung« (S. 123), so wäre hier doch die Genese dieser Krisensituation genauer zu betrachten gewesen. Denn die Adelung des Dichters durch den Lorbeerkranz, die Leonore auf Geheiß des Fürsten vornahm, deutete Tasso als eine Aufnahme in den Dichterolymp, mithin als eine Sakralisierung seiner Dichterexistenz. Er sieht sich in der Nachfolge des Vergil, denn der Lorbeerkranz bedeckte zuvor das Haupt einer nach dem Dichter gebildeten Marmorstatue, was selbst schon als Indiz für dessen Vergottung gewertet werden kann. Der Fürst setzt jedoch Tassos Hybris nichts entgegen, so dass er dessen poetisch-sakralen Wahn in seinem Machtbereich zumindest zulässt. Aus dieser Perspektive wird wiederum verständlich, warum für Tasso schon die Zimmerhaft als eine unangemessene Entmachtung des göttlichen Dichtertums erscheint.

[30] 

Diese extreme Form der dichterischen Weltenflucht macht Tasso dann auch, wie Valk argumentiert, immun gegenüber diversen Therapieversuchen. Weder lässt er sich in das soziale Leben des Hofes integrieren, noch willigt er in die vom Herzog vorgeschlagene Kur ein. Valks Fazit lautet daher: »Tasso geht in seinem Dichertum auf – seine Künstlermelancholie ist nicht zu heilen.« (S. 132) Gleichwohl zerbricht Tasso nicht wie Werther an der Melancholie. Tasso besinnt sich am Ende des Dramas noch auf seine Dichtergabe: »Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,/ Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.« 11 Sie fungiere, so Valk, auch noch am Ende des Dramas als Motor der künstlerischen Tätigkeit:

[31] 
Tassos neues Dichtertum zeichnet sich dadurch aus, daß es das subjektive Leiden an einer zerrissenen Welt artikuliert. Tasso verstummt nicht, sondern zwingt seinen Schmerz in eine literarische Form. Auf diese Weise aber vermag er sich von seinem Leid zu distanzieren, sich über dieses zu erheben. Die quälende Melancholie wird im Lied aufgehoben. (S. 138)
[32] 

Welchen literarischen Wert jedoch dieser These vom Schreiben als Selbsttherapie beizumessen wäre, lässt Valk offen. Reflektiert Goethe hier seine eigenen Erfahrungen als literarischer Autotherapeut? Wird Dichtung möglicherweise überhaupt als ein von der Melancholie abhängiges Medium inszeniert, wie es auch der Vierzeiler Zart Gedicht zu denken gibt? Gerade die Frage nach der literarischen und ästhetischen Qualität der Dichter-Melancholie hätte hier stärker diskutiert werden können. Denn uns interessiert als Leser des Tasso und Werther nicht nur die auf der Figurenebene inszenierte psychologische Verfasstheit der fiktional realen Personen, sondern auch die dadurch zum Ausdruck kommenden literarischen Bedeutungen der poetischen Figuren.

[33] 

Lila als moralisches Psychodrama

[34] 

Goethes Singspiel Lila liest Valk unter Bezugnahme auf die zeitgenössische Diskursformation des ›moral management‹. Diese vor allem auf Francis Willis zurückgehende Heilmethode, die seit Mitte des 18. Jahrhunderts praktiziert wird, arbeitet mit ästhetischen Heilmitteln wie Musik und insbesondere dem Theater. Sie versucht den Patienten in einem therapeutischen Spiel, an dem sein Bekanntenkreis tätig mitwirkt, zunächst durch die Inszenierung einer Scheinwelt in seinen Wahnvorstellungen zu bestätigen, um ihn dann durch die Figur eines Spielleiters, den behandelnden Arzt, erst in eine inszenierte und dann aber in die reale Welt zu führen. Valk verwendet zur Charakterisierung dieser Methode auch den Begriff des Psychodramas, ohne ihn jedoch an dessen moderne Praxis zurückzubinden.

[35] 

Wie Valk zeigt, kann Goethes Singspiel durchaus als literarische Verarbeitung dieser Therapieform gelesen werden. Die Figur des Doktor Verazio tritt als Therapeut im Sinne des ›moral management‹ auf, wenn er vorschlägt, man solle »Phantasie durch Phantasie kurieren« 12 . Auch dass er darauf insistiert, Musik und Tanz beim Therapiespiel einzusetzen, kann als Hinweis auf Goethes Rezeption der neuen Heilmethode gewertet werden. In dem von Doktor Verazio inszenierten Spiel übernehmen die Angehörigen Lilas gemäß dem ›moral management‹ ihre Rollen in der Scheinwirklichkeit, während der Doktor selbst als Magus durch schonende Gespräche zu Handlungen, die seinem Spielplan folgen, anregt, so dass schließlich die Heilung der melancholischen Protagonistin gelingt. Es ist in der Tat erstaunlich, wie Goethe die wesentlichen Elemente einer zeitgenössischen Therapieform poetisch nachformt. Ob sich jedoch daraus der Schluss ableiten lässt, Doktor Verazio scheine »häufig Goethes eigene Positionen zu vertreten« (S. 141), ist fraglich.

[36] 

Gleichwohl stellt sich hier die literaturkritische Frage, ob das Singspiel nicht mehr und nicht weniger als eine literarische Widerspiegelung einer realen Behandlungsmethode sei. Diese Sicht ist letztlich nur möglich, wenn man, wie dies Valk tut, die Maxime des Doktor Verazio ›Phantasie durch Phantasie zu kurieren‹ nur unter psychotherapeutischen Vorzeichen liest. Es lässt sich aber diese Formel nicht allein mit dem Verweis auf das ›moral management‹ erklären. Denn die Phantasie ist nicht nur eine heilende Kraft, sondern auch der Grund des Poetischen und mithin auch die Bedingung der Möglichkeit des Singspiels Lila als solchem. Ohne Phantasie wäre dies Stück nicht möglich, während auf der Inhaltsebene gerade dieses produktive Element der Dichtung eliminiert werden soll. Zudem wäre noch im Kontext dieser Maxime zwischen der guten Phantasie, dem Therapeutikum, und der schlechten Phantasie, der Krankheit, zu differenzieren. Hier wäre ein Blick auf die moderne Praxis der Psychotherapie und des Psychodramas sinnvoll gewesen. Der aus den Konzeptionen des ›moral management‹ stammende moralische Impetus hätte dann für die Lektüre des Singspiels sicherlich eine produktive Relativierung erfahren. Es ist dies ein Problem von Valks Ansatz, das sich bereits beim Werther zeigt: Er übernimmt die moralischen Wertungen der zeitgenössischen Melancholie-Konzeptionen, ohne diese auf ihre Stichhaltigkeit hinsichtlich der Goetheschen Texte zu überprüfen.

[37] 

Unbeleuchtet bleibt in dieser Neulektüre der Lila auch, welche Bedeutung dem Singspiel als Gattung für das Verhältnis von Literatur und Melancholie zukommt. Valks abschließende Bemerkungen bleiben diesbezüglich im Vagen. »Oder hat Goethe die Gattung des Singspiels möglicherweise auch bewußt genutzt, um hier einmal jene Hoffnung und Zuversicht zu formulieren, die er sonst nur wesentlich vorsichtiger zu artikulieren wagte?« (S. 161) Eine gattungstheoretische Erläuterung des Singspiels sucht man indes vergebens. Der Einsatz von Musik im Stück selbst, wie ihn die Regieanweisung vorgibt, bleibt unerläutert. Doch solche Fragen der Form werden in Valks Lektüren ohnehin meist nicht tangiert. Er sucht das Thema Melancholie ausschließlich auf der Inhaltsebene, selbst wenn die Inhalte (wie die Musiktherapie) auf die Form verweisen. So begründet er das Vorgehen bei seiner Wilhelm-Meister-Deutung wie folgt:

[38] 
Die folgenden Kapitel analysieren die melancholischen Neigungen des jungen Wilhelm, indem sie sich sowohl auf die ›Theatralische Sendung‹ als auch auf die ›Lehrjahre‹ beziehen. Sie beruhen auf der Überzeugung, daß die Unterschiede, die im Vergleich zwischen beiden Fassungen des ›Wilhelm Meister‹ zutage treten, die Darstellung der Melancholie nur formal, nicht aber inhaltlich berühren. (S. 169)
[39] 

Diese Sonderung der formalen Aspekte vom Inhaltlichen ist für die gesamte Anlage der Arbeit charakteristisch. So erscheinen Briefroman, Drama, Singspiel, Entwicklungsroman gleichermaßen als Ausdrucksmedien der Melancholie. Dass im Drama andere Narrative zur Geltung kommen, dass überhaupt Dramatik von Goethe selbst immer auch aus der Perspektive der Bühne bedacht wurde, findet in diese Werkinterpretation keinen Eingang.

[40] 

Kabinett der Melancholiker in
Wilhelm Meisters Lehrjahre

[41] 

Die Interpretation des Wilhelm Meister fasst Valk unter dem Prinzip Personenspiegelung auf. Er spricht in diesem Zusammenhang auch von einem »Panoptikum der Melancholie« (S. 167). »In keinem anderen Werk Goethes«, so Valk, »begegnen neben dem Protagonisten so viele schwermütige und depressive Charaktere wie hier.« (S. 167) Goethe beschreibe in den Lehrjahren »zahlreiche Symptomkomplexe« und erörtere die »verschiedenen Möglichkeiten psychotherapeutischer Behandlungsmethoden« (S. 167). Gleichwohl, so muss man hinzufügen, handelt es sich bei den Lehrjahren nicht um ein medizinisches Lehrbuch, das an Fallbeispielen den Komplex der Melancholie erörtert. Dieser Eindruck stellt sich aber bei der Lektüre von Valks Deutungen unwillkürlich ein. Zu wenig differenziert er zwischen der medizinisch bzw. psychopathologisch indizierten Melancholie und der literarisch inszenierten und oftmals auch poetisch überformten Erscheinungsweise der Poesie. So wenig Goethes Werk auf seine Lebensumstände verkürzt werden kann, wie Valk stets betont, so wenig dürfen die literarischen Texte zu psychopathologischen Fallstudien reduziert werden.

[42] 

Aus dem Panoptikum der Melancholie wählt Valk neben dem Protagonisten Wilhelm Aurelie und den Harfner aus. Während Wilhelm aber durch das Tätigkeits-Ethos der Turmgesellschaft die Melancholie bezwingt, scheitern Aurelie und der Harfner an ihrer melancholischen Erkrankung. Gleichwohl geht Valk davon aus, dass sich »Wilhelms Melancholie [...] nicht nur im tragischen Schicksal der Schauspielerin Aurelie, sondern auch in der verhängnisvollen Lebensgeschichte des Harfners [spiegelt]« (S. 213).

[43] 

Die von Valk aufgezeigten Spiegelungen sind im Hinblick auf deren Melancholie-Disposition nicht gerade spezifisch zu nennen. Aus der Tatsache, dass Aurelie und Wilhelm beide das Theater aus einem Ungenügen an der engen Alltagswelt aufsuchen und ähnliche Rückschläge in Liebesbeziehungen hinnehmen mussten, folgt noch nicht, dass beide »in ihrer psychischen Disposition eng aufeinander bezogen« (S. 213) sind. Auch der Verweis auf ähnliche Erfahrungen, wie der Rückzug in die Einsamkeit, vermag aufgrund der sehr differenten Kindheitsgeschichte nicht zu überzeugen. Dies ist in einem von Valk leider vernachlässigten Faktum begründet, das für die Melancholie-Analyse von besonderer Tragweite ist: nämlich der gender-Spezifik der Melancholie. Gerade an der Figur der Aurelie wird diese deutlich. Ihre Kindheit bei der Tante, die in sexueller Ausschweifung mit ständig wechselnden Liebhabern lebte, beschreibt sie als die »allerschlechtest[e] Erziehung, durch die jemals ein Mädchen hätte verderbt werden sollen« 13 . Diese Erfahrung prägt in einschneidender Weise ihr Bild von Männern, wie sie Wilhelm gegenüber bekennt:

[44] 
So lernte ich Ihr Geschlecht kennen, mein Freund, und wie rein haßte ichs, da ich zu bemerken schien, daß selbst leidliche Männer, im Verhältnis gegen das unsrige, jedem guten Gefühl zu entsagen schienen, zu dem sie die Natur sonst noch mochte fähig gemacht haben. 14
[45] 

Zu Recht weist Martina Wagner-Egelhaaf darauf hin, dass von den antiken Prätexten ausgehend die Melancholie als Männer-Krankheit ersonnen wurde. 15 Das Problem XXX.1 spricht nicht zufällig nur von bedeutenden melancholischen Männern. 16 Diese männliche Perspektivik erfährt in den Melancholie-Diskursen der Goethezeit keineswegs eine Revision. Bezieht man also die Goetheschen Frauengestalten mit in die Analyse der literarisch inszenierten Melancholie ein, so wird man dies zu bedenken haben und erwägen müssen, ob dann die Beschreibungskriterien der zeitgenössischen Melancholie-Konzeptionen überhaupt hinreichend für eine solche Unternehmung wären.

[46] 

Müßiggang:
Die Wahlverwandtschaften

[47] 

Der Müßiggang ist uns bekannt als ein Signum der Moderne. Der Flaneur, wie ihn Walter Benjamin beschreibt, ist ein Müßiggänger par excellence. Es ist dies als eine Existenz- und zugleich Erkenntnisweise beschrieben worden. Ja, manch einer mag wohl auch heute noch von der unzeitgemäßen Vorstellung von der Notwendigkeit der Muße für das Studium überzeugt sein. Valk gibt in seiner Lektüre der Wahlverwandtschaften dem Müßiggang einen anderen Anstrich. Er erscheint als Symptom nicht nur der Melancholie, sondern auch des sozialen Verfalls.

[48] 

Die Tätigkeiten Eduards und Charlottes seien »allesamt durch ihre Nutzlosigkeit und durch ihre bedenkliche Stümperei charakterisiert« (S. 240). Dies unterstütze zudem deren Hang zur Melancholie, dem Eduard am Ende erliege. Dagegen verfüge der Hauptmann mit seinen sinnvollen Tätigkeiten über eine wirkungsvolle Melancholieprophylaxe. Zwischen diesen moralisch aufgeladenen Begriffen der Tätigkeit und des Müßiggangs entwickelt Valk seine Lesart der Wahlverwandtschaften. War bei den Interpretationen bis dato die grundlegende These von der melancholischen Verfasstheit der Charaktere weitgehend nachvollziehbar, so machen sich hier erste Verbrauchsspuren am Generalschlüssel des Melancholikers goethescher Prägung bemerkbar.

[49] 

Dies zeigt sich insbesondere an der Reduktion des Müßiggangs auf die Kategorie des Nutzlosen. Dass Goethe bei allem Interesse für die ökonomische Denkart die Produktivität des Nutzlosen erkannte, zeigt sich in verschiedenen seiner Werke und nicht zuletzt im Faust, wenn der Knabe Lenker als Allegorie der Poesie sich eben dadurch auszeichnet, dass er ganz nutzlose Tätigkeiten vollzieht. 17 Auch in den Wahlverwandtschaften kommt diese nutzfreie Ästhetik in der Form des Landschaftsbaus zur Geltung. Die dort inszenierte Ästhetisierung der Lebenswelt tut Valk allerdings als Dilettantismus ab, was wiederum auf sein eingeschränktes Verständnis des Müßiggangs als melancholisches Laster zurückzuführen ist. Dementsprechend wird Eduard als »hemmungsloser Enthusiast« und »selbstbezogener Dilettant« (S. 260) beschrieben. Das Ethos von »Verzicht und Entsagung« (S. 262) projiziert Valk auf die Figur Eduards. Die interpretatorische Arbeit gerät so zum ethischen Urteil über Eduard, wenn etwa von dessen »menschenverachtende[m] Egoismus« (S. 262) die Rede ist.

[50] 

Zuweilen erscheint auch die Melancholie-Diagnose widersprüchlich. Zunächst wird Eduards und Charlottes Eheglück als ein illusionäres gekennzeichnet, das nur noch von der Erinnerung an ein vergangenes Glück lebt. Dann wird aber Charlotte wiederum als Apologetin des Vergessens beschrieben, wenn sie ein anonymes Totengedenken einer bildlichen Erinnerungskultur, wie sie durch Grabsteine symbolisiert wird, vorzieht. Nimmt man aber die Theoreme der antiken und mittelalterlichen Melancholie-Konzepte ernst, so wird gerade das Vergessen als besonders wirkungsvolles Heilmittel hervorstechen. Denn traditionell ist die Melancholie mit der Figur der Erinnerung verknüpft, wie etwa ein Blick auf Dürers berühmten Stich Melencolia I, den Valk mehrfach anführt, deutlich macht. Auch zu Beginn des Faust II zeigt sich Lethe als ein heilendes Vergessen.

[51] 

In diesem Kontext ist außerdem Valks Verwendung des Trauma-Begriffs kritisch zu betrachten. Dass die Protagonisten der Wahlverwandtschaften von traumatischen Erfahrungen geprägt sind, leuchtet als Leitthese unmittelbar ein. Vor dem Hintergrund von Valks eigenen Prämissen, nämlich ausschließlich die antiken, mittelalterlichen und für Goethe zeitgenössischen Melancholie-Konzeptionen zu berücksichtigen, verbietet sich allerdings der Rückgriff auf eine Kategorie, die erst durch die Psychoanalyse theoretisch fundiert und u.a. für die Melancholie fruchtbar gemacht wurde.

[52] 

Hieran anschließend wäre zu fragen, wie weit eine psychologische Lesart der Wahlverwandtschaften reichen kann. Ist doch Goethes Roman ein hochgradig reflexives und konstruiertes Werk, das die Charaktere mehr ästhetisch als psychologisch komponiert. Nicht zufällig findet Ottilie in den ›tableaux vivants‹ eine ihr gemäß erscheinende Existenzweise. Wie sehr Valk diesen Aspekt der ästhetischen Überformung ausblendet, zeigt sich auch an seiner pauschalen Polemik gegen die von Benjamins berühmtem Essay ausgehenden Lektüren der Wahlverwandtschaften. Die mythologische und eben nicht »mythische Lesart« (S. 233) identifiziert Valk mit einer Literaturwissenschaft, die von einer »unerbittlichen Herrschaft mythischer Zwänge« (S. 234) ausgehe und dabei das Werk verdunkle. Valk gebraucht hierbei in unkritischer Weise die gleichen Vokabeln, die seit jeher auf dekonstruktive und postmoderne Theorieansätze projiziert werden, um diese aus dem wissenschaftlichen Diskurs auszuschließen. Wenn daher die Beiträger des von Norbert Bolz herausgegebenen Sammelbands Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ 18 als Anhänger eines »zweifelhaften Irrationalismus« (S. 233) bezeichnet werden, so ist dies nichts anderes als Ausdruck eines persönlichen Vorbehalts, nicht aber argumentative Kritik.

[53] 

Wenngleich Valks Lektüre der Wahlverwandtschaften durchaus einige erhellende Einblicke in das Werk erlaubt, so bleibt der interpretatorische Gehalt unter dem Vorzeichen des Melancholie-Topos gegenüber der Tasso- oder der Lila-Deutung eher marginal.

[54] 

Diabolische Melancholie:
Faust I

[55] 

Das Kapitel zum Faust fällt im Vergleich zu den anderen Lektüren recht schmal aus. Zudem gehen die Erkenntnisse kaum über das schon Bekannte hinaus, nämlich über die von Jochen Schmidt vorgelegte Analyse der Melancholie-Thematik. 19 Im Mittelpunkt der Lektüre steht die Annahme, dass Faust den Typus des Wissenschaftsmelancholikers repräsentiere. Fausts Auftrittsmonolog sieht Valk in Analogie zu Robert Burtons Charakteristik der Gelehrtenmelancholie, wonach viele Gelehrte »dadurch krank [werden], daß sie nächtelang über ihren Büchern sitzen« 20 . In der Faust-Dichtung werde diese Haltung nun auf den modernen Wissenschaftler projiziert:

[56] 
Faust repräsentiert das tragische Los des in einer kulturellen Spätzeit lebenden Wissenschaftlers, der unter seiner Lebensferne und seinem Spezialistentum ebenso leidet wie unter dem von Generationen angehäuften Wissensballast. (S. 301)
[57] 

So sehr Fausts Ausgangssituation melancholische Topoi zu zitieren scheint, die von Valk behauptete Entwicklungslinie der Melancholie von der Szene ›Nacht‹ bis ›Studierzimmer II‹ ist vom Text her so nicht gegeben. Wenn hier Melancholie in der Figur des Faust zum Ausdruck kommt, dann doch in deutlich gebrochenerer Form, als dies Valk suggeriert. Bereits der Anfangsmonolog offenbare Fausts Melancholie. Diese äußert sich allerdings in einem ganz unmelancholischen Metrum: dem Knittelvers, den Gottsched vor allem für komische Dichtungen empfahl. Zu Recht hat Markus Ciupke darauf hingewiesen, dass dieser humoreske Kern des Knittels auch im goetheschen Faust noch zum Tragen kommt. 21 Das hohe melancholische Pathos wird durch diese Versform zumindest ironisch konterkariert, auch wenn in heutigen Inszenierungen des Faust diese ursprüngliche humoreske Bedeutung des Knittels kaum mehr zum Tragen kommt. Melancholie wird hier vor allem als intertextuelles Spiel lesbar, wie etwa im Hinblick auf Dürers Melencolia I deutlich wird.

[58] 

Dass Fausts Melancholie die Wette bedinge, ist bereits Schmidts Grundthese, und Valk fasst diesen Vorgang unter dem Begriff des melancholischen Nihilismus zusammen. Dreh- und Angelpunkt dieser Lesart ist die Annahme, dass »die Melancholie als ›acedia‹ und ›tristitia de spirituali bono‹ mit der Sphäre des Teufels verknüpft« (S. 309) ist. Für das Faust-Buch von Pfitzer, das Valk als »wichtige Vorlage« (S. 309) geltend macht, ist dies sicherlich zutreffend. Vor dem Hintergrund der goetheschen Bearbeitung des Faust-Mythos muss allerdings fraglich bleiben, ob Mephisto hier in der Tradition der mittelalterlichen Theologie als Statthalter der Melancholie angesehen werden kann. Das traditionelle Teufelsbild, das die Forschung nicht müde wird auf Mephisto in der ein- oder anderen Weise zu projizieren, entspricht nämlich keineswegs jener modernen Figur, die sich in der Hexenküche als kultivierter Teufel zu erkennen gibt.

[59] 

Das Paradigma der Melancholie zeigt sich letztlich für den Faust als nicht in der Weise tragfähig, wie es Valk behauptet. Gleichwohl kann man anhand von Valks Lektüren melancholische Topoi im Text rekonstruieren, sie lassen sich aber nicht zu einem Generalschlüssel für Fausts psychische Disposition zusammenfügen.

[60] 

Fazit

[61] 

Vor dem Horizont der bisherigen Goetheforschung ist die Leistung der vorliegenden Studie von kaum zu überschätzendem Wert. Gleichwohl vermisst man eine begriffskritische Auseinandersetzung mit der Melancholie, die eine weniger statische Verwendung des Begriffs zur Folge gehabt hätte. Dies betrifft auch den Begriff der Literatur, der nicht theoretisch reflektiert wird, sondern als Repräsentationsform für medizinisch-psychologische Diskurse herhalten muss. Es stellt sich letztlich die Frage, wie weit ein solcher Ansatz reichen kann, der dramatische und epische Darstellungsformen, Früh- und Spätwerk unter einer Kontinuität der melancholischen Protagonisten subsumiert, die sich »unter dem Aspekt der sie beherrschenden Melancholie angleichen« (S. 294). Zu wenig wird auf die poetische Form eingegangen, auf das Inkommensurable der spezifischen Dichtung. Zu oft erscheint die Dichtkunst als Analogon der Heilkunst.


Dr. Peter Brandes
Ruhr-Universität Bochum
Lehrstuhl für Komparatistik
Universitätsstr. 150
DE - 44780 Bochum

Ins Netz gestellt am 14.09.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten PD Dr. Bernd Hamacher. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Peter Brandes: Kursbuch Goethe. Literatur als Krankheitsstudie. (Rezension über: Thorsten Valk: Melancholie im Werk Goethes. Genese - Symptomatik - Therapie. Tübingen: Max Niemeyer 2002.)
In: IASLonline [14.09.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=829>
Datum des Zugriffs:

Zum Zitieren einzelner Passagen nutzen Sie bitte die angegebene Absatznummerierung.


Anmerkungen

Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hg. von Friedmar Apel u.a. I. Abt., Bd. 2: Gedichte 1800–1832. Hg. von Karl Eibl. Frankfurt / M. 1988, S. 395.   zurück
Vgl. Aristoteles: Problemata Physica. Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 19. Hg. von Ernst Grumach. Übers. von Hellmuth Flashar. Berlin 1962.   zurück
Vgl. Raymond Klibansky / Erwin Panofsky / Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Übers. von Christa Buschendorf. Frankfurt / M. 21990.   zurück
Vgl. Sigmund Freud: Trauer und Melancholie. Gesammelte Werke, Bd. 10. Hg. von Anna Freud u.a. London 1946, S. 428–446; Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt / M. 1973.   zurück
Vgl. Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977; Martina Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration. Stuttgart / Weimar 1997.   zurück
Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf (Anm. 5), S. 3 f.   zurück
Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke (Anm. 1). I. Abt., Bd. 8: Werther. Wahlverwandtschaften [u.a.]. In Zusammenarbeit mit Christoph Brecht hg. von Waltraud Wiethölter. Frankfurt / M. 1994, S. 88.   zurück
Ebd., S. 98.   zurück
Ebd., S. 72.   zurück
10 
Thorsten Valk: Poetische Pathographie. Goethes Werther im Kontext zeitgenössischer Melancholie-Diskurse. In: Goethe-Jahrbuch 119 (2002), S. 14–22, hier S. 22.   zurück
11 
Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke (Anm. 1). I. Abt., Bd. 5: Dramen 1776–1790. Unter Mitarbeit von Peter Huber hg. von Dieter Borchmeyer. Frankfurt / M. 1988, S. 833 (Vs. 3432 f.).   zurück
12 
Ebd., S. 845.   zurück
13 
Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke (Anm. 1). I. Abt., Bd. 9: Wilhelm Meisters Lehrjahre [u.a]. Hg. von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann. Unter Mitwirkung von Almuth Voßkamp. Frankfurt / M. 1992, S. 616.   zurück
14 
15 
Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf (Anm. 5), S. 37. Vgl. hierzu auch Juliana Schiesari: The Gendering of Melancholia. Feminism, Psychoanalysis and the Symbolics of Loss in Renaissance Literature. Ithaca, London 1992.   zurück
16 
Vgl. Aristoteles (Anm. 2), Problem XXX.1, 953a10.   zurück
17 
Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke (Anm. 1). I. Abt., Bd. 7.1: Faust. Texte. Hg. von Albrecht Schöne. Frankfurt / M. 1994, Vs. 5573 ff.   zurück
18 
Vgl. Norbert Bolz (Hg.): Goethes Wahlverwandtschaften. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur. Hildesheim 1981.   zurück
19 
Vgl. Jochen Schmidt: Faust als Melancholiker und Melancholie als strukturbildendes Element bis zum Teufelspakt. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 41 (1997), S. 125–139.   zurück
20 
Robert Burton: Anatomie der Melancholie. Über die Allgegenwart der Schwermut, ihre Ursachen und Symptome sowie die Kunst, es mit ihr auszuhalten. Übers. von Ulrich Horstmann. München 1991, S. 248.   zurück
21 
Vgl. Markus Ciupke: »Des Geklimpers vielverworrner Töne Rausch«. Die metrische Gestaltung in Goethes Faust. Göttingen 1994, S. 38.   zurück