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Handbuch zur Papiergeschichte

  • Peter F. Tschudin: Grundzüge der Papiergeschichte. (Bibliothek des Buchwesens 12) Stuttgart: Anton Hiersemann 2002. XII, 395 S. 97 teils farb. Abb. Gebunden. EUR (D) 149,00.
    ISBN: 3-7772-0208-8.
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Wenn es gilt, eine umfassende Darstellung der Papiergeschichte zu liefern, dann ist Peter F. Tschudin, der langjährige wissenschaftliche Leiter (1974–2002) der Basler Papiermühle, Schweizerisches Museum für Papier, Schrift und Druck, hierfür in besonderem Maße prädestiniert. Der Autor gehörte über lange Jahre der Internationalen Arbeitsgemeinschaft der Papierhistoriker (IPH) an, deren Vorsitz er 1986 bis 1988 inne hatte und deren Ehrenpräsident er nach wie vor ist. Neben zahlreichen nationalen und internationalen Auszeichnungen, etwa dem Goldenen Ehrenring der deutschen Zellstoffchemiker und -ingenieure, würdigten auch ungewöhnliche Ehrungen seine fast 50jährige Tätigkeit im Dienste der Papiergeschichte: So war 2002 Tschudin unter den Preisträgern, welche die New York Academy of Science im Turnus von zehn Jahren als die besten wie erfolgreichsten Wissenschaftler aus aller Welt kürt, und zwar gleich in beiden Kategorien.

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Mit dem vorliegenden Buch, das aus seinen Vorlesungen am Institut für Papierfabrikation der Technischen Universität Darmstadt 1987 bis 2000 hervorgegangen ist, verfolgt der Autor das Ziel, Wissenschaftlern aller Fachrichtungen »in kürzester Form eine systematische Darstellung der papiergeschichtlichen Methodik und der bisherigen Forschungsergebnisse zu vermitteln«. Seinem Anspruch, ein alle Aspekte abdeckendes Werk zu verfassen, kommt er auf insgesamt 395 Seiten nach und schließt damit ein Desiderat. Denn als Handbücher zum Thema Papiergeschichte standen bislang nur die beiden längst vergriffenen Standardwerke von Dard Hunter 1 und Karl Theodor Weiss 2 zur Verfügung.

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Papier in multidisziplinärer Sicht

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In seinen Grundzügen zur Papiergeschichte spannt Tschudin in acht Kapiteln (wobei Kapitel 1 nur aus einem kurzen Vorwort besteht) auf 238 Seiten den Bogen von naturwissenschaftlichen und hilfswissenschaftlichen Methoden zur Erforschung der Papiergeschichte über einen technikgeschichtlichen Abriß zur Papierherstellung von den Vorläufern aus Rindenbast bis zu modernen Verfahren. Weitere 17 Seiten verzeichnen ausgewählte papierhistorische Literatur, die abgekürzt zitierte Literatur sowie eine Nachweisliste der 37 Tabellen und 97 überwiegend schwarz-weißen Abbildungen.

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Ein sehr umfangreicher, insgesamt dreiteiliger Anhang, der etwa ein Viertel des gesamten Buchumfangs ausmacht, unterstreicht den handbuchartigen Charakter von Tschudins opus magnum. Teil eins stellt auf zehn Seiten eine nützliche Auswahl historischer, internationaler Einheiten von Papier-Mengen und -Formaten, Währungen, Längen-, Flächen-, Gewichts- und Hohlmaßen zusammen. Der Teil zwei, mit knapp 90 Seiten das gewichtigste Stück des Anhangs, druckt den Normentwurf der Internationalen Arbeitsgemeinschaft der Papierhistoriker (IPH) für einen illustrierten Wasserzeichen-Typenkatalog in der Version 2,0 (1997) sowie den IPH-Wasserzeichen-Typenindex nach Klassen / Unterklassen zusammen mit den Wasserzeichen ab. Der letzte Anhang bietet schließlich die IPH-Empfehlungen für die Strukturierung einer Wasserzeichen-Datenbank und die Konvention für den Datenaustausch. Ein detailliertes, nicht weniger als 35seitiges Personen-, Orts- und Sachregister erleichtert das gezielte Nachschlagen.

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Nach dem kurzen Vorwort-Kapitel unternimmt Tschudin in Kapitel zwei eine künftige Diskussionen sicher mitprägende Einordnung der Papiergeschichte innerhalb des allgemeinen Wissenschaftskanons. Er plädiert dafür, diese Disziplin als umfassende Geschichte sämtlicher Beschreibstoffe zu begreifen und sie unter Berücksichtigung ihrer interdisziplinären Ausrichtung auf historische und naturwissenschaftliche Aspekte und Methoden nicht nur als bloße Hilfswissenschaft, sondern vielmehr als eigenständiges historisches Fach anzuerkennen. Die Papiergeschichte verortet er in einem Netzwerk aus Historischen Hilfswissenschaften, Kunst-, Literatur-, Musik-, Wirtschafts-, Politik-, und Sozial- und Technikgeschichte wie makromolekularer Chemie, Botanik, Archäologie und Ethnologie bis hin zur Kriminalistik. Das Buch verzichtet auf eine ausführliche Diskussion des Forschungsstands und benennt überblickshaft die Kenntnislücken.

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Der Werkstoff Papier und seine Untersuchung

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Das dritte Kapitel beschäftigt sich umfassend mit Papier als Werkstoff und seiner Anwendung. Die DIN-Norm 6730 liefert die Definition von Papier allgemein und von Papier-, Karton- und Pappesorten, DIN 827 benennt die Faserstoffklassen für Schreib- und Druckpapiere. Zur Unterscheidung von Papier, Karton und Pappe nach der flächenbezogenen Masse gemessen in Gramm pro Quadratmeter gilt üblicherweise als Papier bis 150 g/m2, als Karton 150 bis 600 g/m2 und als Pappe über 600 g/m2.

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Der Autor nennt allerdings an zwei Stellen desselben Kapitels auch andere Einteilungsschemata (Papier bis 130 g/m2, Karton 130 bis 250 g/m2, Pappe über 250 g/m2 bzw. Papier unter 225 g/m2, Pappe darüber), ohne jedoch zu diesen doch sehr unterschiedlichen Klassifikationen klar Stellung zu beziehen bzw. ihre Herkunft – etwa die der 225 g/m2-Definition aus der DIN 6730 anzugeben. Stichpunktartig gibt Tschudin ein Panorama der vielfältigen Anwendungsbereiche von Papier vom Beschreibstoff über Verpackung bis hin zur bildenden Kunst.

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Die papierhistorische Methodik ist Gegenstand des vierten Kapitels. Tschudin demonstriert eindringlich, daß stets drei Aspekte ein und desselben Papiers zu untersuchen sind: Erstens das Äußere des Papiers und seine Geschichte (Verwendung, Format, Art, Wasserzeichen etc.), zweitens seine Blatt-Beschaffenheit (Oberflächenstruktur, Leimung, Strich etc.), und drittens seine Stoff-Beschaffenheit (Fasern, Füllstoffe, Fremdstoff / Einschlüsse etc.). Knapp, aber fundiert werden historische ebenso wie naturwissenschaftliche Methoden vorgestellt, mit denen das Papier als eine im Original erhaltene historische Quelle zu befragen ist. Ein Schwerpunkt Tschudins liegt dabei auf dem Wasserzeichen in den produzierten Papierbögen als wichtiger Zuweisungs- und Datierungsgrundlage. Naturwissenschaftliche Methoden der Papieranalyse (vom Blattdickenmeßgerät bis zur Laser-Scanning-Mikroskopie) ergänzen mitunter die historische Herangehensweise und kommen vollends bei Papieren ohne Wasserzeichen zum Tragen. Tschudin diskutiert die vorgestellten Methoden kritisch und zeigt ihre Erkenntnisgrenzen auf. Die praktische Vorgehensweise zur Erfassung und Wiedergabe von Wasserzeichen von der einfachen Handpause bis hin zum Scannen findet sich am Ende des Folgekapitels (Kap. 5).

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Geschichte des Papiers in Asien und Europa

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Der »Geschichtliche Abriß«, die Darstellung der Hauptetappen der Geschichte des Papiers im mit 162 Seiten umfangreichsten Kapitel, ist das Herzstück des Buches. Tschudin skizziert kurz die Vorläufer des Papiers, die er nach nichtpflanzlichen Materialien (Stein, Bein, Leder/Haut, Ton, Metall, Filz) und pflanzlichen Ausgangsstoffen (Holz, Rinde, Tapa, Papyrus, Palmblatt, ›Reis‹-Papier, Textilien) unterteilt.

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Tschudin zufolge sind die Anfänge des Papiers nach den neuesten Forschungen – durch schriftliche Quellen und archäologische Funde – herstellungstechnisch und geographisch in der Hochkultur Chinas des ersten vorchristlichen Jahrtausends geklärt, doch verzichtet der Autor auf eine zeitlich detailliertere Behandlung dieser Frühgeschichte. Dem legendären »Erfinder« des Papiers, dem kaiserlichen Hofbeamten Ts’ai Lun, der nach einer späteren chinesischen Chronik (um 450 n. Chr.) im Jahr 105 n. Chr. das Papier erfunden und verbreitet haben soll, kommt ein dennoch ehrenvoller zweiter Platz für seinen Beitrag zur Optimierung der Papiertechnik zu.

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Nach der relativ gesicherten weiteren Entwicklung der Papierherstellung in Asien sind die »Inkunabelzeiten« der Papierproduktion bei den Völkern rund um das Mittelmeer noch weitgehend unbestimmt. Die Schlacht am Talas 751 n. Chr. gilt nur mehr als terminus ante quem für den Techniktransfer in die arabische Welt, das zentralasiatische Samarkand bleibt aber weiterhin frühes arabisches Papierzentrum. Eine überraschende Perspektive gelingt Tschudin dadurch, daß die traditionell als Beginn europäischer Papierproduktion geltende Entwicklung in Spanien, Sizilien und Italien an das Ende dieses Abschnitts zur arabischen Papierherstellung setzt, also der Prägung der Technologie und der Ethnie dieser frühen (mutmaßlich meist arabischen) Papierhandwerker in Europa gegenüber dem rein geographischen Aspekt den Vorrang gibt.

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Der nächste Abschnitt des Kapitels widmet sich der europäischen Papierherstellung mit ihrem technologischen Fortschritt gegenüber den asiatischen und arabischen Vorstufen und der weiteren Verbreitung des Papiers von Italien über ganz Europa bis nach Übersee. Zäsuren in der weiteren Entwicklung setzt Tschudin mit der beginnenden Industrialisierung und weiter mit den technischen Neuerungen und Rohstoffen seit der Erfindung der Papiermaschine 1798 durch Nicolas Louis Robert. Die Darstellung berücksichtigt auch wirtschaftliche und soziale Aspekte des Papiermacherhandwerks, die durch zahlreiche Tabellen mit Zahlenreihen etwa zur Betriebsrechnung einer Papiermühle und zur Produktivitätssteigerung veranschaulicht werden. Das Kapitel schließt mit einem Überblick über die Typen (außer-)europäischer Wasserzeichen und die Möglichkeiten ihrer Erfassung und Wiedergabe.

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Der Herstellung von Buntpapier (Dekorpapier), das in Europa gegen Ende des 16.Jahrhunderts hin bekannt wird, widmet der Autor ein eigenes, zehnseitiges Kapitel mit vielen instruktiven Skizzen. Spezielle Produkte wie Tapeten, Verpackungs-, Sicherheits- und Wertpapier, Briefpapier und Briefmarken sind Gegenstand eines kurzen Überblicks im folgenden Abschnitt. Das achte und letzte Kapitel bietet schließlich einen Einblick in die Ursachen der Alterung von Papier und in seine Erhaltung durch Restaurierung bzw. Massenverfahren im Fall industriell hergestellten Papiers.

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Ein Handbuch mit Einführungscharakter

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Tschudins Grundzüge sind eine gut lesbare, anschauliche Beschreibung der Papiergeschichte mit knappen, aber fundierten Informationen, die optisch überzeugend gegliedert sind. Besonders wertvoll sind die zahlreichen instruktiven Diagramme, Tabellen usw. Man merkt dem didaktisch aufgebauten Buch positiv an, daß es aus dem Unterricht erwachsen ist. Ein Glossar der wichtigsten Fachbegriffe wäre allerdings willkommen gewesen, gerade auch für den vom Autor selbst angestrebten interdisziplinären Einsatz seines Buches. Die Normentwürfe der Internationalen Arbeitsgemeinschaft der Papierhistoriker zur Erfassung von Wasserzeichen im Anhang auf rund 90 Seiten abzudrucken, wäre hingegen mit einem Verweis auf ihren Fundort im Internet (http://www.paperhistory.org/standard.htm) verzichtbar gewesen. Das Überblickswerk bietet zwar den neuesten Forschungsstand, bleibt aber in der Gedrängtheit der Darstellung hinter dem Anspruch eines Grundlagenwerks für den Fachmann zurück. Für weitergehende Fragestellungen wird man auf die 2003 erschienene Internationale Bibliographie zur Papiergeschichte mit ihren bis einschließlich 1996 zwanzigtausend Einträgen zurückgreifen.



Anmerkungen

Dard Hunter: Papermaking. The History and Technique of an Ancient Craft. 2., erw. Aufl. New York 1947, Neudruck 1978.   zurück
Karl Theodor Weiss: Handbuch der Wasserzeichenkunde. Hg. von W. Weiss. Leipzig 1962, Neudruck München 1983.   zurück