Jörg Helbig

Ein weiterer Mosaikstein auf der Landkarte
der britischen Filmgeschichte




  • Andrew Higson (Hg.): Young and Innocent? The Cinema in Britain, 1896-1930. Exeter: University of Exeter Press 2002. 432 S. 32 Abb. Gebunden. GBP 47,50.
    ISBN: 0-85989-659-5.


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Der seit Jahren anhaltende Aufschwung der Filmwissenschaft in Großbritannien hat dazu geführt, dass mittlerweile die verschiedenen Phasen der britischen Filmgeschichte nahezu lückenlos dokumentiert und kritisch durchleuchtet worden sind. Die Frühphase von den Anfängen des Kinos bis zum Ende der Stummfilmzeit ist dabei vergleichsweise selten, dafür aber umso akribischer untersucht worden. Die treffendsten Belege hierfür sind John Barnes’ fünfbändige Buchreihe The Beginnings of the Cinema in England, 1894–1901 sowie Rachael Lows monumentale Studie The History of the British Film, deren erste vier Bände den Zeitraum 1896–1929 behandeln.

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Mit dem von Andrew Higson herausgegebenen Sammelband Young and Innocent? liegt nun eine weitere Studie vor, die den fraglichen Zeitraum aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet und dabei weitere Forschungslücken zu schließen vermag. Der Band ist aus der Tagung »Cinema, Identity, History« hervorgegangen, die bereits 1998 an der Universität von East Anglia stattfand. Diese Herkunft prägt zu einem gewissen Teil den Aufbau des Buchs und die Liste der Beiträger. Das Buch ist in fünf thematische Sektionen gegliedert, die folgende Aspekte untersuchen:

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A. Filme und Filmemacher vor dem Ersten Weltkrieg,

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B. Kinos, Kinopublikum und Rezeptionsverhalten,

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C. Nicht-narrative Filmgenres und Filmmusik,

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D. Das Mainstream-Kino vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zum Aufkommen des Tonfilms,

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E. Die intellektuelle Filmkultur in den 20er Jahren.

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Hinzu kommt eine sechste, redaktionelle Sektion, in der auf über 60 Seiten ausführliche Hinweise auf Archive und bibliographische Quellen zur britischen Stummfilmzeit geliefert werden, die sich für künftige Forschungsarbeiten von großem Wert erweisen dürften. Der ambitionierte bibliographische Teil versteht sich als Vorarbeit für eine noch zu schreibende Geschichte des britischen Stummfilms und umfasst neben Forschungsbeiträgen zu lokalen, regionalen, nationalen und internationalen Erscheinungsformen jener Zeit auch Autobiographien, Interviews, Kataloge, Fanmagazine, Reportagen, Sammlungen und Internetseiten.

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Themenvielfalt
und unerforschte Nischen

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Die insgesamt 23 Beiträge stammen sowohl von etablierten Filmhistorikern wie Andrew Higson und Charles Barr als auch von zahlreichen Nachwuchswissenschaftlerinnen und Personen außerhalb des akademischen Bereichs, zu denen neben Archivaren und Historikern auch der Filmkomponist Neil Brand gehört. Wenngleich die einzelnen Beiträge inhaltlich nicht alle auf gleich hohem Niveau stehen, ist der Band doch überaus abwechslungsreich. Eine umfassende historische Darstellung der britischen Stummfilmzeit wird auch gar nicht erst angestrebt, sondern eher ein buntes Mosaikbild, das sich vor allem aus exemplarischen Fallstudien zusammensetzt.

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Im Vergleich zu den genannten Forschungsbeiträgen von Low und Barnes liegt die Stärke von Young and Innocent? daher eher in der thematischen Breite, die es erlaubt, das britische Stummfilmkino auch in bislang vernachlässigten Kontexten zu betrachten. Den Anspruch des Bands umreißt der Herausgeber folgendermaßen: »This book is, then, the first all-embracing survey of British cinema in the silent period to take on board the new research on British cinema and silent film history« (S. 3). Zu den behandelten Themen zählen beispielsweise Einblicke in das Verhältnis des jungen Mediums zu etablierten Künsten wie Theater und Literatur oder die kulturelle und ideologische Kontextualisierung des Films.

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Eingang in den Band fanden auch bislang nur rudimentär erforschte Gegenstände wie filmische Vor- und Zwischenprogramme (Wochenschauen, cinemagazines, Reisedokumentationen, serials, usw.) oder die Rezeption des britischen Films in Australien. Im Zentrum anderer Beiträge stehen Schlüsselfiguren des frühen britischen Films wie die Filmpioniere Charles Urban und Jack Williamson, der Matineestar Ivor Novello oder der Drehbuchautor Eliot Stannard, dem, so Charles Barrs Argumentation, Alfred Hitchcock wesentlich mehr zu verdanken hat als bislang bekannt. Doch unabhängig davon, ob es um frühe Verleihpraktiken, die Beeinflussung des Rezeptionsverhaltens, den Bauboom von Kinopalästen oder die Bedeutung Shakespeares für den britischen Stummfilm geht, verbindet die einzelnen Beiträge, wie Higson in seiner Einleitung betont, ihr gemeinsamer »anti-teleologischer« Ansatz. Gemeint ist hiermit das Bestreben, das frühe Filmschaffen um seiner selbst Willen zu betrachten und die Kontrastfolie des modernen Erzählkinos dabei weitgehend auszublenden.

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Jung und unschuldig – inwiefern?

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Der Titel des Sammelbands evoziert zumindest zwei Bedeutungen. Zum einen zitiert er Alfred Hitchcocks Thriller Young and Innocent aus dem Jahr 1937, einen der einflussreichsten britischen Filme jenes Regisseurs, der den Untersuchungszeitraum des Sammelbands maßgeblich mitprägte. Das Fragezeichen hinter dem Titel, so Higson, soll jedoch andeuten, dass es für die Forschung an der Zeit ist, auch Bereiche jenseits der intellektuellen Filmkultur von Hitchcock und seinesgleichen wahrzunehmen, das heißt auch die Leistungen im durchschnittlichen Alltagsbetrieb des populären Kinos zu würdigen. Auch gelte es, nicht nur die Werke bekannter Filmemacher zu betrachten, sondern ebenso die Umstände ihres Entstehens und ihrer Aufnahme durch Publikum, Kritiker und Filmwirtschaft.

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Zum anderen versteht sich der Titel des Sammelbands als Metapher für das frühe britische Kino und hinterfragt in diesem Sinne die verbreitete (aber, so die Implikation, irrige) Annahme, dass die britische Stummfilmzeit eine cineastisch unreife und naive Ära war. Tatsächlich kann eine solche Sichtweise nur aus der Retrospektive entstehen, vor dem Hintergrund des modernen Spielfilms, zu dem sich das Kino entwickelt hat. Der vorliegende Sammelband versteht es eindrucksvoll, dieser Perspektive entgegenzuwirken und die zahlreichen Facetten des frühen Films im Kontext der zeitgenössischen Medienlandschaft, des Kulturbetriebs und des Freizeitverhaltens zu betrachten. Auf diese Weise entsteht ein authentisches, der Stummfilmzeit gerechter werdendes Bild.


Prof. Dr. Jörg Helbig
Alpen-Adria-Universität
Institut für Anglistik und Amerikanistik
Universitätsstr. 65-67
AT - 9020 Klagenfurt

Ins Netz gestellt am 20.10.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Uli Jung. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Julia Ebeling.

Empfohlene Zitierweise:

Jörg Helbig: Ein weiterer Mosaikstein auf der Landkarte der britischen Filmgeschichte. (Rezension über: Andrew Higson (Hg.): Young and Innocent? The Cinema in Britain, 1896-1930. Exeter: University of Exeter Press 2002.)
In: IASLonline [20.10.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=841>
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