Rüdiger Zymner

Konzepte (?) für eine Literaturwissenschaft
nach der Sozialgeschichte




  • Martin Huber / Gerhard Lauer (Hg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Tübingen: Max Niemeyer 2000. 625 S. Gebunden. EUR 138,00.
    ISBN: 3-484-10829-0.


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Diskussionsband oder Festschrift?

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Das Erscheinen des 25. Jahrganges des Internationalen Archivs für Sozialgeschichte der deutschen Literatur sowie die ›runden Geburtstage‹ von Georg Jäger und Wolfgang Frühwald (denen der Band auch gewidmet ist) sind den Herausgebern doppelter Anlaß, nach den »konzeptionellen Möglichkeiten« (S. X) einer Fort- und Weiterentwicklung der Sozialgeschichte der Literatur zu fragen. Ein weiterer Anlaß ist der nicht nur von den Herausgebern, sondern auch von vielen der Beiträger des Bandes hervorgehobene Umstand, daß das »Projekt einer ›Sozialgeschichte der Literatur‹« allgemein als erschöpft gelte.

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Dem stemmen sich die Herausgeber allerdings mehrfach entgegen: »Wir meinen, daß das Konzept einer Sozialgeschichte der Literatur der theoretischen und methodologischen Aufmerksamkeit bedarf, und daß gerade die Diskussion um den Begriff der Kultur dafür einen Ansatzpunkt bietet«, so bekennen sie schon in der Vorbemerkung (S. X). Und auf die Frage, ob es sinnvoll sei, »sozialgeschichtliche Ansätze zum Bezugspunkt von Modernisierungen« (wovon?) zu machen, antworten sie: »Wir meinen, daß dies gleichermaßen sinnvoll wie wünschenswert ist« (S. 3). Sachlich zwingende Gründe für diese Überzeugungen werden von den beiden Herausgebern eigentlich nicht angeboten – außer, daß es

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auf dem Feld der Medien [...] keine ähnlich ausdifferenzierten Forschungsansätze in anderen literaturwissenschaftlichen Paradigmen gibt, die wie die Sozialgeschichte der Literatur Prozesse und Strukturen der literarischen Distribution zu ihrem Thema gemacht hätten [...]. Empirisch und historisch gestützte Bewertungen der Medienentwicklung spielen dabei bislang eine zu kleine Rolle. Das ist unbefriedigend. (S. 3f)
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Weder die vorgebrachten Argumente für die Notwendigkeit einer Neukonzeptualisierung des Projektes einer Sozialgeschichte der Literatur noch die Emphase, mit der eben jene Notwendigkeit wiederholt betont wird, können so recht überzeugen, und es drängt sich der Eindruck auf, daß man sich bei der Planung des Bandes nicht entscheiden konnte, ob man nun lieber eine Festschrift oder einen problemorientierten Diskussions-Band machen wollte. Nun ist es eine Mischung von beidem geworden.

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Zur Anlage des Bandes

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Für die Strukturierung der »Debatte«, die mit diesem Band angestoßen werden soll, nennen die Herausgeber vier Problemfelder: »1. Sozialgeschichte der Literatur und neue Medien«; »2. Sozialgeschichte der Literatur und die Geisteswissenschaften«; »3. Sozialgeschichte der Literatur und die Humanwissenschaften«; »4. Sozialgeschichte der Literatur und die Theorieentwicklung«. Das sind wahrlich weite Problemfelder, deren Struktur die Kapitelaufteilung des Bandes allerdings auffälligerweise nicht folgt. Vielmehr umfaßt der Band drei Hauptkapitel, die überschrieben sind: »I. Anthropologie / Semiotik«; »II. Sozialsystem / Symbolsystem«; »III. Wissen / Kultur / Medien«.

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Den Hauptkapiteln voraus geht ein programmatischer Text der beiden Herausgeber (»Neue Sozialgeschichte? Poetik, Kultur und Gesellschaft – zum Forschungsprogramm der Literaturwissenschaft«; S. 1–12), und auf sie folgt ein »Anhang«, der die Anschriften der Beiträger sowie ein Namenregister bietet. (Beides ist überaus nützlich, insbesondere das Namenregister, da man sozusagen auf den ersten Blick sehen kann, wer die wichtigsten Orientierungsfiguren in der »Debatte« sind: Niklas Luhmann, Pierre Bourdieu und – schon mit Abstand – Talcott Parsons, gefolgt von Georg Jäger und Wolfgang Frühwald sowie Walter Haug, Jörg Schönert, Siegfried J. Schmidt, Stephen Greenblatt und Wilhelm Voßkamp. Bei den im Band thematisierten Dichterinnen und Dichtern kann allenfalls Goethe mit den genannten Orientierungsfiguren halbwegs mithalten).

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Den Herausgebern ist es gelungen, durchweg lesenswerte Beiträge einzuwerben. In manchen Fällen handelt es sich dabei um Auskoppelungen oder Wiederverwertungen – wie etwa bei Aleida Assmanns »Geschichte im Gedächtnis« (S. 15–28) und Ursula Peters’ »Neidharts Dörperwelt. Mittelalterphilologie zwischen Gesellschaftsgeschichte und Kulturanthropologie« (S. 445–460). In einigen Fällen ist wenigstens mir die thematische Anbindung nicht deutlich geworden – zu nennen wäre etwa Eva Ruhnaus »Zeit und Bewußtsein – der Rhythmus des Humanen« (S. 47–53), Georg Stanitzeks »Zwei Kanonbegriffe (zwei Rekurse auf Benjamin)« (S. 203–207) oder auch Wolfgang Harms’ »Die studentische Gegenwehr gegen Angriffe auf Paul Hankamer an der Universität Königsberg 1935 / 1936. Ein Versuch der Verteidigung einer Geisteswissenschaft« (S. 281–301).

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Konzepte?

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Das Spektrum der in diesem Band behandelten Themen ist allemal beeindruckend breit und die angesprochenen Aspekte durchaus vielfältig. Allerdings wird derjenige enttäuscht, der den Untertitel des Bandes zu ernst nimmt und veritable »Konzepte« für eine »Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie« erwartet. In den avanciertesten Fällen stößt man – wen wundert es, ein Sammelband ist nun einmal keine Monographie – allenfalls auf knappe Skizzen und Andeutungen, oft werden einfach Beispiele für z.B. medienwissenschaftlich oder kulturwissenschaftlich ausgerichtete Literaturwissenschaft geboten, etwa in Wilhelm Voßkamps »Medien – Kultur – Kommunikation. Zur Geschichte emblematischer Verhältnisse« (S. 317–334) oder auch in Christian Kienings »Alterität und Mimesis. Repräsentation des Fremden in Hans Stadens Historia« (S. 483–510).

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In vielen Fällen handelt es sich um Fortsetzungen der breit geführten Diskussion über die Frage, ob der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden komme bzw. warum Literaturwissenschaft nicht Literaturwissenschaft bleiben könne. In manch anderen Fällen bekommt man es mit für sich interessanten Beiträgen mit einem großen Eigenwert zu tun, die freilich nicht notwendig auch in diesem Kontext erwartet werden müssen – so beispielsweise in Rainer Kolks, »Literatur, Wissenschaft, Erziehung. Austauschbeziehungen in Hermann Hesses Unterm Rad und Robert Walsers Jakob von Gunten« (S. 233–250).

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Drei Beiträge

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Zu den konzeptionell avancierten Beiträgen, die sich mit einer Weiterentwicklung der Sozialgeschichte der Literatur befassen, zählen gewiß diejenigen von Jörg Schönert (»Mentalitäten, Wissensformationen, Diskurse und Medien als dritte Ebene einer Sozialgeschichte der Literatur. Zur Vermittlung zwischen Handlungen und symbolischen Formen«, S. 95–104), Claus-Michael Ort (»›Sozialgeschichte‹ als Herausforderung der Literaturwissenschaft. Zur Aktualität eines Projektes«, S. 113–128) und Michael Böhler (»Eindimensionale Literatur. Zur Raumlosigkeit der Sozialgeschichte«, S. 128–153).

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Schönert nimmt die Anstöße der Herausgeber direkt auf, wenn er feststellt, daß die Theorie-Diskussionen in der Literaturwissenschaft der zurückliegenden dreißig Jahre unter anderem dadurch gekennzeichnet seien, daß sie abgebrochen wurden, ehe ihre Möglichkeiten ausgeschöpft waren. Dieser Befund gelte auch für die theoretischen Explikationen zu Vorgaben und Verfahrensweisen für eine Sozialgeschichte der Literatur (S. 95). Schönert selbst schließt sich nun einer systemtheoretischen Grundlegung einer Sozialgeschichte der Literatur an, und hier wiederum einer handlungstheoretischen Option (im Unterschied zu einer kommunikationstheoretischen). Dabei wendet er sich dagegen, »die bislang gewonnenen Vorgaben zur ›Sozialgeschichte der Literatur‹ in einem noch diffusen Konzept einer umfassenden Kulturgeschichte und allgemeinen Kulturwissenschaft aufgehen zu lassen« (S. 96).

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Schönert plädiert vielmehr für einen interdisziplinären Zugriff auf die Zusammenhänge von Literatur und Gesellschaft. Vorauszuschicken wäre dem aber zunächst eine »Sozialtheorie der Literatur«, die vor allen Dingen nach den Leistungen der Literatur für Individuen und Gesellschaft fragt. Man könne hier jedoch nicht allein von einem Sozialsystem Literatur, sondern müsse zugleich auch vom Symbolsystem Literatur sprechen, von der sozialen und der semiotischen Systemreferenz der Literatur. Weitere Systemreferenzen (»psychisch mentale Systeme«, »medientechnische Systeme«) werden von Schönert angesprochen und zur »Topographie« eines interdisziplinär zu bearbeitenden Gegenstandsbereiches zusammengeführt. Diese »Topographie« wiederum wird abschließend dazu genutzt, »den Ort für ein weit geöffnetes Programm für Sozialtheorie und Sozialgeschichte der (schönen) Literatur zu bezeichnen« (S. 101). Dies geschieht in einer Tabelle. Die »›beinharte‹ theoretische Explikation des hier skizzierten Forschungsprogramms und die eingehende Auseinandersetzung mit konkurrierenden Positionen wäre«, so Schönert, »ein ungefüges Festgeschenk an die Mitstreiter aus der ehemaligen Münchner Forschergruppe (M-F-G) gewesen«.

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Claus-Michael Ort sieht in seinem Beitrag, ganz ähnlich wie Schönert, die Notwendigkeit einer komplexen, synchronischen, literatursoziologischen Modellbildung, solle ›Sozialgeschichte der Literatur‹ mehr als die »Applikation von ›Realien‹ auf Werkinterpretationen leisten und sich nicht auf Intertextualität beschränken« (S. 118). Diese Modellbildung müsse drei Probleme bewältigen:

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Sie müßte erstens die sozialsystemischen Organisations- und Institutionalisierungsmodi von Literatur derart modellieren (Literatur als Sozialsystem), daß sich ihre Umweltbeziehungen hinreichend komplex rekonstruieren lassen (Literatur im Sozialsystem), zweitens die semiotische Komponente von Literatur mit den Semantiken anderer Sozialsysteme in Beziehung setzen und drittens beide Dimensionen ihrerseits synchronisch und diachronisch korrelieren können – ohne die drei Bezugsebenen kurzschlüssig aufeinander zu projizieren (S. 118).
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Ort behandelt im folgenden Beispiele für die Stagnation der Sozialgeschichte der Literatur, um abschließend, ausblickhaft, Aspekte der geforderten Modellbildung anzudeuten. Insbesondere die »literatursoziologische Adaption[!]« und die »literaturgeschichtliche Füllung« der Luhmannschen Kommunikationsmedientheorie und der Bourdieuschen Feld- und Habitus-Theorie (S. 128) erscheinen Ort vielversprechend.

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Michael Böhler schließlich erkennt ein »ungelöstes Raumproblem«, »das die Sozialgeschichte der deutschsprachigen Literatur mit sich herumschleppt« (S. 132) – also die Vernachlässigung von kulturtopographischen und länderspezifischen Unterschieden bei der sozialgeschichtlichen Erfassung der deutschen Literatur, ja er konstatiert sogar eine »Raumlosigkeit der sozialgeschichtlichen Theoriemodelle« (S. 138) als Spätfolge Nadlerscher Theoreme. Dem stellt Böhler nun Überlegungen zur »Rückgewinnung der Raumdimension für die Sozialgeschichte der Literatur« (S. 146) entgegen. Hier sind die Figuren des »Entbettungsprozesses« und der »Rückbettung« (S. 146) von besonderer Bedeutung.

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Bestehen »Entbettungsprozesse« darin, daß »soziale Beziehungen von den unmittelbaren Gegebenheiten ihres Kontextes gelöst« werden (wie etwa die »Enträumlichung« der Literatur im Rahmen eines modernen Expertensystems), so wäre die »Rückbettung« eben die Gegenbewegung zur »Entbettung«. Mit Hilfe dieser Grundkoordinaten erörtert Böhler eine ganze Reihe von Beispielen und literaturwissenschaftlichen Problemen, um – wie auch schon Schönert und Ort vor ihm und viele andere neben und nach ihm – konjunktivisch zu schließen: Von einer Untersuchung von Einbettungs- und Rückbettungsvorgängen »dürfte man sich (nicht nur) eine gewisse Dynamisierung der Sozialgeschichte der Literatur erhoffen, wichtig wäre dabei vor allem eine theoretisch fundierte Wiedergewinnung der Raumdimension für die Literatur« (S. 153).

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Fazit

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Diese drei Beiträge mögen hier exemplarisch für die übergreifende Poetik des insgesamt vierunddreißig Beiträge versammelnden Bandes stehen: Es wird auf hohem Niveau probeleicht skizziert, aber nirgendwo gemalt. Da es sich allemal um kluge Skizzen handelt, wird sich der interessierte Leser zu dem Angedeuteten viel hinzudenken können – aber der Band bleibt dabei doch auch unverbindlich. Ob er – wie von den Herausgebern erhofft – eine Debatte anstoßen wird, erscheint mir eher fraglich: Jedenfalls wird es wohl keine Debatte über literaturtheoretische Optionen ›nach der Sozialgeschichte‹ sein, sondern allenfalls eine Debatte um mögliche Optionen.

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Dies hängt insbesondere mit der Gesamtkonzeption des Bandes zusammen: Er dokumentiert eben nicht die allein auf ein Problem oder eine bestimmte Fragestellung konzentrierten Beiträge einer Tagung, über die diskutiert worden wäre und deren Zusammenhang und Perspektiven z.B. in Diskussionsberichten verdeutlicht würden, sondern es handelt sich insgesamt doch sehr deutlich auch um eine freundliche (üppige und anregende, mit Blick auf den Buchpreis kann man zudem sagen: kostspielige) Festgabe, bei der sich nicht zuletzt die Schenkenden jeweils etwas wünschen dürfen.


Prof. Dr. Rüdiger Zymner
Bergische Universität / Gesamthochschule Wuppertal
Allgemeine Literaturwissenschaft
Gaußstr. 20
DE - 42119 Wuppertal

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Ins Netz gestellt am 23.03.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

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Empfohlene Zitierweise:

Rüdiger Zymner: Konzepte (?) für eine Literaturwissenschaft nach der Sozialgeschichte. (Rezension über: Martin Huber / Gerhard Lauer (Hg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Tübingen: Max Niemeyer 2000.)
In: IASLonline [23.03.2004]
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