Carola Groppe

Geschichtsaneignung als politischer Akt?

Rudolf Borchardts Verfahren der Vergegenwärtigung von Geschichte




  • Meike Steiger: Textpolitik. Zur Vergegenwärtigung von Geschichte bei Rudolf Borchardt. (Epistemata Literaturwissenschaft 468) Würzburg: Königshausen & Neumann 2003. 205 S. Geheftet. EUR 29,00.
    ISBN: 3-8260-2578-4.


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Fragestellung

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Der Obertitel der Studie von Meike Steiger ist vielversprechend: »Textpolitik«. Untersucht werden soll »das Verhältnis einer Gegenwart zu ihrer Vergangenheit« (S. 9), indem Rudolf Borchardts Texte daraufhin befragt werden, mit welchen Verfahren »Geschichte auf die Gegenwart des Autors« appliziert wird (S. 9). Dabei kommt es der Autorin darauf an, diese Applikation als einen politischen Akt zu deuten, nämlich als Versuch Borchardts, »Imaginationen politischer Gemeinschaft« (S. 13) im ästhetischen Feld zu konkretisieren und in diesem Zusammenhang in den Texten eine ästhetische, wissenschaftliche und politische Wiederaneignung von Geschichte vorzunehmen (S. 10).

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Mit Hilfe eines Ideologiebegriffs (Herfried Münkler), der die »soziale Funktion von Ideologien, Mythen und ›Großen Erzählungen‹« betont, argumentiert Meike Steiger, daß die »Wirkmacht der historisch-mythologischen Erzählungen im politischen Prozeß [...] am strukturellen Merkmal der ›Ästhetisierung‹« hänge (S. 11 f.). Der Begriff ›Textpolitik‹ meint daher »die gesellschaftliche Wirkmacht, die von Konzepten und Verfahren in Texten ausgeht« (S. 13).

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Dabei stellt sich die Autorin auch die Aufgabe, die Geschichtsvergegenwärtigung Borchardts jeweils in ihre zeitgenössischen Bezüge im Sinne einer »Kontextualisierung mit zeitgleichen Autoren« (S. 14) zu stellen.

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Textpolitik in diesem Sinne kann nie von einem Akteur allein betrieben und damit auch nicht mit Blick auf nur einen Autor untersucht werden. Politische Imaginationen in Texten sind immer auf andere Autoren, auf eine geteilte Semantik angewiesen, um gemeinschaftskonstruierend und -konstituierend zu wirken. (S. 12)
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Ganz neu ist die Fragestellung der Arbeit nicht. Daß eine besondere Aneignung und Deutung historischer Prozesse und eine konstruierte Traditionsbildung zu den Grundbestandteilen des Borchardtschen Werks zählt, gehört zu den gängigen Themen der Borchardt-Forschung. Auch daß in diesem Zusammenhang das ästhetische, das wissenschaftliche und das politische Feld wirkungsstrategisch miteinander verbunden werden, gehört zu den klassischen Untersuchungsperspektiven über die dichterische Avantgarde seit der Jahrhundertwende, von Stefan George und Hugo von Hofmannsthal bis eben zu Rudolf Borchardt. Dennoch stellt es eine lohnenswerte Aufgabe dar, diesen Perspektiven im Rahmen einer Monographie intensiv nachzugehen und sie durch Borchardts Gesamtwerk in seiner Entwicklung während des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts zu verfolgen.

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Neu und interessant erscheint an der Fragestellung vor allem, daß sie sich nicht nur den Verschränkungen von ästhetischer, wissenschaftlicher und politischer Geschichtsaneignung im Borchardtschen Werk widmet, sondern vor allem den textuellen »Mitteln«, »Verfahren« und »Konzepten« nachgeht (S. 12), mit denen diese geleistet werden sollen.

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Bisher hat sich die Forschung Rudolf Borchardt vor allem in mehreren Sammelbänden zugewandt. 1 Doch neuerdings erscheint eine Anzahl von Monographien, die dem Gesamtwerk dieses Autors differenzierter und in spezifischen Perspektiven nachgehen. 2 Die vorliegende Arbeit ergänzt die umfangreiche Habilitationsschrift von Kai Kauffmann, der aber im Unterschied zu dieser Arbeit nicht nur den historischen Konstruktionen und deren Bedeutung in Borchardts Werk nachgeht, sondern diese konzeptionell auch mit umfassenden biographischen Analysen verbindet. 3

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Um die Borchardtschen Verfahren der Geschichtsaneignung zu beschreiben, geht die Autorin in drei Schritten vor: Zunächst widmet sie sich im ersten Kapitel der umfassenden Zeitkritik Borchardts sowie dessen Kritik der zeitgenössischen Geschichtsaneignung. Anschließend werden in zwei Großkapiteln die Verfahrensweisen der Geschichtsaneignung in Borchardts Texten um 1900 und um 1930 beschrieben und verglichen.

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Zeitkritik

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Im ersten Kapitel geht die Autorin von Borchardts autobiographischem Text Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt (1927) aus. Ziel des Kapitels ist der Nachweis, »welche Arten des Geschichtsbezugs in Texten Rudolf Borchardts kritisiert werden, und was historisch unter dem ›Zusammenbruch der deutschen Überlieferung‹ verstanden wird« (S. 14). Dieser für Borchardt zentrale Text, in dem er die Geschichte seiner Familie und seine eigene Kindheit darlegt und beides zugleich in einen größeren historischen beziehungsweise kulturkritischen Zusammenhang stellt, wird von der Autorin in kleinen Schritten im Stil eines ›close readings‹ rekonstruiert, um dann die Bedeutung des Textes für einige zentrale Themen und Begriffspaare in Borchardts Werk darzulegen: »Kultur- versus Staatsnation«, »Bildungs- versus Wirtschaftsbürgertum«, »Bildung versus Rasse« (S. 18 ff.).

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So sei die Darstellung Königsbergs nach 1800, Rudolf Borchardts Geburtsort und über mehrere Generationen Lebensraum seiner Familie, geprägt durch die Betonung einer gelebten »Einheit der Vielheit« (S. 18) unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen, die durch institutionalisierte Bildungsprozesse (Gymnasium, Universität) und die politische Integration im Rahmen der Befreiungskriege gegen Napoleon ermöglicht worden sei. Dazu trete als »dritter Inklusionsmechanismus« bei Borchardt die kontinuierliche, in den Familien geleistete Überlieferung als »stetige Vergegenwärtigung der eigenen Vergangenheit« (S. 19). Damit erhalte zugleich das Modell der Kulturnation gegenüber dem der Staatsnation bei Borchardt Priorität, wohingegen das Modell der Staatsnation als Untergang eines mentalen Nationenbildungsprozesses gedeutet werde (S. 21).

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Auf einer zweiten Ebene stelle Borchardt rückblickend ein etabliertes, im deutschen Bildungszusammenhang verwurzeltes Bürgertum gegen das »neue Unternehmertum« seiner Zeit (S. 22), welches utilitaristisch denke und daher qua Existenz den Zusammenhang von Bildung und Kulturnation in Frage stelle. Das neue Unternehmertum werde von Borchardt wiederum mit der Großstadt und den Massenphänomenen seiner Gegenwart in kulturkritische Beziehung gesetzt.

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Schließlich werde in Borchardts Text drittens Bildung mit Rasse konfrontiert. Die Aneignung von Kultur und Tradition im Sinne eines individuellen und kollektiven Bildungsprozesses würde zudem mit dem Konzept der Kulturnation verbunden. So sei die jüdische Bevölkerung Königsbergs nach Borchardt durch Bildung, Familienverbindungen und Berufswahl nicht nur zunehmend assimiliert worden (S. 18 f.), sondern habe sich parallel auch als eine Trägerin der deutschen Überlieferung etabliert (S. 28 f.).

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Damit erweist sich Borchardts Konzept der Kulturnation nach Steiger einerseits als emanzipativ, indem es gegen ein »antisemitisches Modell einer ethnisch homogenen Volksnation« (S. 29) opponiert, andererseits aber als enger als das der Staatsnation, indem Gruppen ausgeschlossen werden, die das Konzept der Staatsnation über formale Merkmale einschließt:

[16] 
Borchardts Eintreten für eine plurale Kulturnation ist also keinesfalls ein liberales Plädoyer, sondern die neben der Vielheit angestrebte nationale Einheit schließt bestimmte Varietäten als nicht integrierbar aus. (S. 29)
[17] 

Der Text Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt arbeite mit asymmetrischen Gegenbegriffen (Koselleck), indem Gegensatzpaare aufgebaut und »normativ überformt« würden, wodurch die »ethische Auszeichnung« (S. 26) einer Seite stattfinde.

[18] 

Aufbauend auf dieser Rekonstruktion der Borchardtschen textuellen Verfahren und der Ermittlung der zentralen Textaussagen setzt Steiger diese mit ausgewählten Texten Borchardts aus den frühen dreißiger Jahren in Beziehung. So erschienen zum Beispiel in Konservatismus und Humanismus (1931) Bildung und Rasse nicht mehr als asymmetrisches Gegensatzpaar, sondern als miteinander korrespondierende Elemente einer »neu zu konstituierenden Einheit« (S. 30). Insgesamt, so Steiger, versuche Borchardt sich durch dieses integrative Verfahren auch »für den Nationalsozialismus anschlußfähig« (S. 32) zu halten. Erst nach seiner Abwendung vom Nationalsozialismus würden im Text Europa (1934) wieder asymmetrische Gegenbegriffe benutzt, die Bildung gegenüber Rasse heraufsetzten. Deutlich wird, daß Borchardt mit flexiblen Textstrategien operiert, die jeweils das Einschreiben in in bestimmten Kreisen (konservativ orientierte Gruppen des Bürgertums, kulturkritisch orientierte Schriftsteller und Wissenschaftler, konkret politisch agierende Publizistenkreise) akzeptierte Argumentationsformen vollziehen möchten und damit zugleich eine Aneignung wie eine subtile Umdeutung der jeweils vertretenen Theoreme eröffnen (S. 31 ff.).

[19] 

Wünschenswert wäre in diesem Zusammenhang jedoch eine umfassendere Kontextualisierung der Borchardtschen Textstrategien und Theoreme durch einen Vergleich mit zeitgenössischen Autoren gewesen, die deutlicher hätte klären können, was die ›Textpolitik‹ Borchardts auszeichnet: War es der Anschluß an übliche strategische Verfahren, wie sie auch von anderen Autoren praktiziert wurden? Oder handelt es sich um spezifische, von Borchardt entwickelte ›Textpolitiken‹, die diesen in besonderer Weise kennzeichneten?

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Auch in den anschließenden Analysen der Borchardtschen »Bildungspolitik« und seiner »Historismuskritik« (›Politik‹ wird hier immer verstanden als »›Textpolitik‹ in bezug auf diese Semantiken oder Themen«, S. 13) fehlt eine umfassende Kontextualisierung. So erscheint ›Bildungspolitik‹ in Borchardts Texten als Plädoyer für »individuelle Selbst-, Gruppen- und Nationenbildung« (S. 35) und der Bildungsbegriff als ein Zentralbegriff Borchardtscher Argumentationsketten im Sinne einer Bündelung von Zeitkritik (S. 60). In Verbindung mit einer Institutionenkritik am zeitgenössischen Gymnasium und an der Universität werde bei Borchardt auf die »innere Selbstbildung Einzelner« gesetzt, »wahre Bildung« von falscher unterschieden (S. 36). Wiederum werden in diesem Zusammenhang nach Steiger vielfache asymmetrische Gegenbegriffe gebildet:

[21] 
Der Grundunterscheidung von Bildung / Nicht-Bildung schreibt die Darstellung weitere asymmetrische Oppositionen ein: Pluralität der Bildung contra Spezialwissen, Varietät des Kanons contra Partei, Traditionsbezug contra Zeitprodukte. (S. 44)
[22] 

Borchardt schränke die Möglichkeit zu ›wahrer Bildung‹ zugleich auf eine Minderheit ein, nämlich diejenigen, die durch Tradition und dadurch geprägte Elternhäuser – also weder das ›neue Unternehmertum‹ noch das Proletariat – dazu prädestiniert sind. Diese Minderheit sei zugleich dazu ausersehen, die Avantgarde einer neuen, durch Bildung und Tradition geprägten Nation zu bilden (S. 37 f.). Es ist schade, daß Steiger auch an dieser Stelle nicht über die Rekonstruktion des Borchardtschen Gedankengangs hinausgeht.

[23] 

Denn hier schließt sich die Frage an, welchen Begriff vom Individuum Borchardt zugrunde legt. Ist bereits der ›Entschluß‹ zur Selbstbildung abhängig von der sozialen Lage beziehungsweise dem ›kulturellen Kapital‹ (Bourdieu)? Und warum nutzt das ›neue Unternehmertum‹ diese Möglichkeit nicht? Ist die angesprochene Minderheit deckungsgleich mit dem für Borchardt in seiner Zeit zunehmend depravierten Bildungsbürgertum? Oder bedarf es der nicht allein durch soziokulturelle Bedingungsgefüge erklärbaren ›Gestalten‹ der ›großen Einzelnen‹, wie sie der George-Kreis konzipierte? Behandelt Borchardt diese Problematik oder vernachlässigt er sie? Diese Fragen bleiben offen.

[24] 

Auch im folgenden Kapitel, das die Historismuskritik Borchardts analysiert, ergeben sich Probleme. So wird diese »zwischen Friedrich Nietzsche und Walter Benjamin« (S. 45) situiert, jedoch nicht geklärt, wodurch diese Auswahl zustande kommt. Die Historismuskritik Borchardts, die Steiger unter anderem am Beispiel des Eranos-Briefs (1924) rekonstruiert, folgt gängigen Thesen der zeitgenössischen Wissenschaftskritik: Die historische Forschung erschöpfe sich in der Erforschung der je historisch einmaligen Wirklichkeit, trenne sich dadurch vom ›Leben‹ und eröffne eine »Relativierung traditioneller Ideen und Werte« (S. 47 f.). Verbunden wird die Analyse an dieser Stelle mit einer äußerst knappen Darlegung von Nietzsches und Benjamins Überlegungen zur Bedeutung der Geschichte und der historischen Forschung (S. 48 ff.).

[25] 

Nicht deutlich wird, inwiefern hier eine Analogie der Gedankengänge oder aber eine konkrete Rezeption Borchardts bezogen auf Nietzsche beziehungsweise Benjamins bezogen auf Borchardt vorliegt. Was heißt also »zwischen Friedrich Nietzsche und Walter Benjamin«? An dieser Stellte hätte die Auswahl der Autoren begründet werden müssen. Daher hätte zunächst das zeitgenössische Diskursfeld der Historismuskritik beschrieben und dann die besondere oder exemplarische Stellung der drei Autoren im Feld und ihr innerer Zusammenhang verdeutlicht werden sollen. Positiv zu vermerken bleibt aber, daß Steiger im folgenden Kapitel über »Wissenschaftspolitik« die Thesen und textuellen Verfahrensweisen Nietzsches, Benjamins und Borchardts differenziert miteinander in Beziehung setzt (S. 54 ff.).

[26] 

Individuelle Geschichtsaneignung als
»vermittelte Unmittelbarkeit«

[27] 

Das erste Großkapitel, das Borchardts Zeitkritik zum Inhalt hat, stellt nun die Basis dar, auf der Borchardts Versuche einer konstruktiven Umsetzung von Geschichtsaneignung dargestellt werden: einerseits als Konzept der individuellen Aneignung von Geschichte in den Texten um 1900, andererseits als »nationalpolitische Bezugnahme auf Tradition« (S. 61) in den Texten um 1930.

[28] 

Am Beispiel des Gesprächs über Formen (1905) werden zunächst Möglichkeiten der individuellen Aneignung historischer Texte und Kunstwerke in Borchardts Konzept diskutiert. So wird als das Ziel des Borchardtschen Textes in Annäherung an die auch im Text selbst thematischen Dialoge Platons die »Einwirkung« begriffen und über die Borchardtsche Umdeutung der platonischen Einwirkung von einer »philosophischen Erfahrung« zur »ästhetischen Einwirkung« (S. 72) festgehalten, daß für Borchardt erst die Erfahrung von Distanz und Fremdheit am historischen Text beziehungsweise Kunstwerk diese zum ›Erlebnis‹ und damit zur ästhetischen Erfahrung werden läßt (S. 73).

[29] 

Entscheidendes Element der Distanzerfahrung und auch der emphatisch-sinnlichen Aneignung ist dabei im Gespräch über Formen die Form des Kunstwerks: »Ästhetische Erfahrung wird durch die Formkomponente des Kunstwerks zum Erlebnis unmittelbarer Präsenz« (S. 73). Steiger zeigt zudem die latente Widersprüchlichkeit des Borchardtschen Textes: So lasse sich im Text gerade keine ›Einwirkung‹ des Älteren auf den Jüngeren beobachten (S. 76 f.). Als Ausweg bietet sich nach Steiger die Möglichkeit, das Gespräch über Formen auch als Gespräch über Bücher zu lesen.

[30] 
Vermittelte ›Einwirkung‹ [...] geschieht im Gespräch über Formen damit, daß Arnold Harry die ›richtigen‹ Bücher und die Anleitung zu eigener Lektüre, zur ästhetischen Erfahrung und damit zur Selbstbildung mitgibt. (S. 77 f.)
[31] 

Dadurch schließe das Gespräch über Formen an Borchardts Projekt der Selbstbildung an, wie es im Kapitel über die Zeitkritik dargelegt wurde. »Vermittelte Unmittelbarkeit« (S. 79) bedeute somit Anleitung zur selbst gestalteten Kunsterfahrung.

[32] 

Während im Rahmen der Analyse von Borchardts Historismuskritik die Auswahl Nietzsches und Benjamins als ›Diskurspartner‹ eher willkürlich erscheint, ist die Auswahl Hugo von Hofmannsthals als Freund und Gesprächspartner Borchardts und Kurt Hildebrandts als Exponent des George-Kreises, der einen der erklärten Feindgruppierungen Borchardts darstellt, zur Analyse von Konzepten ästhetischer Erfahrung um 1900 überzeugender. Innerhalb dieser Analyse wird deutlich, daß es in Hofmannsthals Briefen des Zurückgekehrten (1908) im Medium der Kunst primär um die Selbsterfahrung des Subjekts statt wie bei Borchardt um Kunsterfahrung geht (S. 81 ff.). Und Hildebrandt gehe es um die Evokation von Leidenschaften durch die Inhalte der Kunst (S. 90), wohingegen Borchardt eine formästhetische Konzeption verfolge.

[33] 

Vergleichsweise unvermittelt steht dann in der Mitte dieser Analyse ein Exkurs über »Ästhetische Erfahrung als Krankheit«, in dem medizinhistorische Zusammenhänge dargelegt werden (S. 85 ff.). Da dieser Zusammenhang für die folgenden Kapitel keine Rolle mehr spielt, stellt sich die Frage nach der Funktion dieses Einschubs. Auch der Exkurs über »Philosophische Ästhetik als Theorie ästhetischer Erfahrung« (S. 92 ff.), der an die entwickelte Problematik von form- und inhaltsästhetischen Konzepten (Borchardt vs. Hildebrandt) anschließt, kann in der dargebotenen Kürze nicht überzeugen. Es ist schlechterdings nicht möglich, auf sechseinhalb Seiten unterschiedlichen philosophischen Entwürfen zur Ästhetik unter der Perspektive von Werk- oder Wirkungsästhetik nachzugehen, selbst wenn der Schwerpunkt auf die Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelegt wird. Dies muß notwendig zu einer bloßen Nennung von Namen und Themen führen statt zu einer fundierten Analyse.

[34] 

Dichtung
als Vermittlung emphatischer
Erfahrung

[35] 

Dagegen zeigt das folgende Kapitel, das sich ausführlich der Analyse des Gedichts Die Beichte Bocchino Belfortis (entstanden nach 1900, veröffentlicht 1923) widmet, daß auf dem Hintergrund der im Kapitel über das Gespräch über Formen entwickelten Fragestellung eine konstruktive Interpretation dieses Gedichts möglich wird. Hier werden sowohl die biographischen Kontextbedingungen ermittelt als auch die ästhetischen Mittel analysiert, mit denen Borchardt sein Konzept der ästhetischen Erfahrung als gleichzeitiger Distanz und »Unmittelbarkeitsemphase« umsetzen möchte (S. 101 ff.). Zugleich werden die historischen Kontexte, die das Gedicht thematisiert, als »die mittelalterliche deutsche Kaiser- und Reichsgeschichte« bestimmt (S. 105).

[36] 

Über die Vergegenwärtigung von Geschichte im Rahmen der Beichte eines sterbenden Jugendlichen aus dem mittelalterlichen Herrschergeschlecht der Stadt Volterra werde diese zugleich in den Zusammenhang von Schuld und Sühne eingeschrieben und als »religiöse Erfahrung« vergegenwärtigt (S. 109). Schließlich werde im Gedicht Dantes Klagerede auf Italien aus dem Purgatorio stilistisch und inhaltlich aufgenommen, aber zu einer visionären Prophetie umgeformt: »Daß einer käme!« (S. 112). Zugleich werde das visionäre Moment verbunden mit der literarischen Evokation eines Bildes, das nach Steiger auf die Darstellung des Jüngsten Gerichts im Camposanto von Pisa verweist (S. 113 ff.). Geschichte werde so als konkrete »Lebensgeschichte«, als historischer »Landschaftsraum« und durch »literarische und malerische Präformationen« auch als ästhetische Erfahrung »unmittelbar erlebbar« (S. 115).

[37] 

Im anschließenden Kapitel »Kunstpolitiker« (S. 116 ff.) wird analysiert, »welche Möglichkeiten der politischen Applikation auf Borchardts Gegenwart das Gedicht eröffnet und welche Grenzen es setzt« (S. 116). So beschreibe das Gedicht am Beispiel der Stadt Volterra die negativen Konsequenzen ständiger Zerrissenheit und des Parteienstreits und setzte in der Endvision auf »Einigkeit« (S. 117). Diese Vision läßt sich nach Steiger auf politische Diskurse in Borchardts Gegenwart übertragen: »Während des gesamten 19. Jahrhunderts ist die Klage über die Uneinigkeit und fehlende Einheit Deutschlands einschlägig für den politischen Diskurs [...]«(S. 117). In Borchardts Abhandlung Der Kaiser (1908) werde dieser Diskurs über die innere Zerrissenheit Deutschlands aufgenommen, aber kein Modell politischer Ordnung entworfen, sondern unter Bejahung der monarchischen Staatsform »das Politische mit dem Konzept emphatischer Erfahrung verquickt« (S. 119). »Politiker ist der, der es vermag, diese intensiven Erlebnisse zu evozieren, der die Macht der ›Einwirkung‹ besitzt, von der im Gespräch über Formen die Rede ist« (S. 120).

[38] 

Diese »charismatische Legitimität« (Max Weber, S. 120) zeichne sowohl den Dichter wie den Politiker aus, wodurch der Dichter nach Borchardt ebenso politisch wirksam ist wie der durch ›Reden‹ Unmittelbarkeit und intensive Erfahrung evozierende Politiker. Damit werden bei Borchardt aber Politik und Ästhetik auf eine gefährliche Weise entgrenzt, da letztlich weder moralische noch rechtliche Kriterien zur Legitimation von Herrschaft ins Spiel gebracht werden können. Leider bleibt Steiger wiederum bei der Beschreibung der Verfahren in Borchardts Texten stehen und geht dieser Problematik nicht weiter nach.

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»Einheit der Vielheit«
als Chiffre der Nationenbildung

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Schließlich geht es im letzten Großkapitel um das Thema »Nationenbildung« unter der Perspektive »Einheit der Vielheit« (S. 123). War dies am Beispiel der Stadt Königsberg schon Thema von Borchardts autobiographischer Schrift Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt, so wird im Text Pisa. Ein Versuch (entstanden 1932, veröffentlicht 1938) untersucht, wie »historische und kunsthistorische Befunde auf die politische Gegenwart des Textes bezogen« werden (S. 125). Während in den Texten um 1900 die ästhetische Erfahrung des Subjekts –»wie Rezipienten Kunst aufnehmen, wie sich ein Wissenschaftler traditionelle Kunst aneignet und wie Politik von Teilnehmern erlebt wird« (S. 125) – im Mittelpunkt gestanden habe, werde in den Texten um 1930 »die Objektseite der Erfahrung« behandelt: »fokussiert werden Kunstwerke in ihrem spezifischen Formzusammenhang, konkrete historische Konstellationen und die Verfaßtheit politischer Gemeinschaften« (S. 125).

[41] 

Im Pisa-Buch werde bereits in der Beschreibung des Pisaner Doms das Konzept einer ›Einheit der Vielheit‹ zur Darstellung gebracht. Dies stellt Steiger in den Zusammenhang einer kunsthistorischen Debatte um Charakter und Bedeutung von Gotik und Renaissance am Beispiel von Wilhelm Worringers Formproblemen der Gotik (1911) und Jacob Burckhardts Die Kunst der Renaissance in Italien. Ein Versuch (S. 128 ff.).

[42] 

Worringers Imaginationen des ›gotischen Menschen‹, für den Leiden an der Wirklichkeit, Erlösungsbedürfnis und überwältigende, rauschhaft-religiöse Erfahrung als Kompensation kennzeichnend sind und sich in der Sakralarchitektur der gotischen Kathedrale ausdrücken, stehen gegen Burckhardts Konstruktion des ›Menschen der Renaissance‹, den Maß, Harmonie und vollständige Entfaltung seiner Kräfte auszeichnen. In diesen Zusammenhang schreibe sich Borchardt mit der Konstruktion einer »klassischen Gotik« ein, die das »Motiv der Selbstdisziplinierung [des Menschen in der Gotik] transformiert in Form« (S. 135 f.). Dadurch werde die Entgegensetzung von Worringer und Burckhardt aufgehoben. Zugleich werde die vielgestaltige gotische Architektur Pisas von Borchardt als Ergebnis einer internationalen Handelsorientierung der Stadt im Mittelalter gedeutet (S. 139). ›Friedliche Verschmelzung‹ von nördlichen und südlichen Einflüssen und eine »Völkermischung« zeichne die klassische Gotik Pisas als unabhängigen Stil, als »Einheit der Vielheit« aus (S. 140 ff.).

[43] 

Während hier sowohl die Analyse als auch deren Kontextualisierung überzeugen, zeigt sich im folgenden Kapitel über »›Visionärer Realismus‹ und Magischer Realismus (Max Beckmann)«, welche Probleme eine unzureichende Kontextualisierung aufwirft. Sicherlich ist es möglich, Borchardts eigene Kennzeichnung der pisanischen Gotik um 1300 als »visionären Realismus« (S. 142), der über das sachlich Dargestellte hinaus auf einen anderen Zusammenhang, zum Beispiel das menschliche Innere, verweist, mit einer zeitgenössischen Richtung der Malerei zu verbinden, der sogenannten Neuen Sachlichkeit, die der Kunstkritiker Franz Roh 1925 als »magischen Realismus« und Max Beckmann selbst als »transzendente Sachlichkeit« kennzeichneten (S. 142), zumal auch Franz Roh nach Steiger an Worringers Überlegungen kritisch anschließt und Beckmann sich intensiv mit gotischen Fresken befaßt hat (S. 144 ff.).

[44] 

Ob diese Parallelen aber die Schlußfolgerung zulassen, daß durch »diese Gemeinsamkeiten von ›visionärem Realismus‹ und Magischem Realismus [...] die historisch entfernte und damit fremde Kunst der zeitgenössischen Kunsterfahrung angenähert und so gotische Kunst für den Zeitgenossen vergegenwärtigt« (S. 151) wird, scheint fragwürdig. Handelt es sich nicht eher um Analogien als um Zusammenhänge? Und was bedeutet diese These für Borchardts beabsichtigte Wirkung? Wer nahm die zeitgenössische Malerei der Neuen Sachlichkeit wahr? Waren dies dieselben Rezipientenkreise, die auch Borchardt im Blick hatte? Diesen Fragen und Analyseproblemen geht die Autorin nicht weiter nach.

[45] 

Schließlich verwendet Steiger das Pisa-Buch Borchardts, um die Verbindung von kunsthistorischer Betrachtung mit politischen Visionen darzustellen. So werde die internationale Gotik Pisas und die herausragende Bedeutung der Stadt im Mittelalter als Ergebnis einer engen Kooperation mit dem deutschen Kaiser, als »Reichskultur« dargestellt und vom übrigen Italien und besonders Florenz als kommunaler Kultur abgegrenzt (S. 153 f.). Diese Reichskultur zeichnet sich durch die Verschmelzung von Traditionen und Stilen aus, sie ist universal. Dabei werden nach Steiger kunsthistorische Betrachtungen in politische Aussagen überführt:

[46] 
Der in der Kunst einschlägige Topos einer ›Einheit der Vielheit‹, den Borchardt mit seinen Kunstwerkbeschreibungen wachruft, fungiert im Pisa-Buch dann als Brücke zur politischen Reichsidee. [...] Mit der für das Pisa-Buch grundlegenden Formel einer ›Einheit der Vielheit‹ werden politisches Reich und pisanische Kunst aufeinander bezogen. (S. 159)
[47] 

Abschließend werden im Kapitel »Reichspolitik« (S. 162 ff.) die politischen Implikationen von Mittelalterbildern in der zeitgenössischen Publizistik um 1930 und Borchardts publizistische Positionierung im Rahmen unterschiedlichster zeitgenössischer Reichskonzepte vorgestellt. Im Unterschied zu vorangehenden Kapiteln nimmt Steiger hier eine klarere Kontextualisierung von Borchardts Strategien vor. So wird gezeigt, daß die Mittelalter-Rezeption, die die Deutsche Allgemeine Zeitung 1930 in einer Beilage vornimmt und im Bild einer ›deutschen Bauhütte‹ die ›neuen Baumeister‹ am ›neuen Reich‹ vorstellt – unter anderem Stefan George, Hugo von Hofmannsthal, Paul Ernst und Ernst Barlach –, ein Mittelalter entwirft, das durch Gemeinschaft, Bindung, Zucht und den christlich-katholischen Glauben ausgezeichnet ist (S. 162 f.).

[48] 

Deutsche Kaiser- und Reichstradition werden hier zugleich völkisch konkretisiert: deutsches Volkstum, Blut und Boden werden in diese Tradition integriert. Den unterschiedlichen um 1930 vorliegenden Reichskonzepten, denen die Gegnerschaft zur Weimarer Republik gemeinsam sei, geht Steiger anhand der Oppositionsbegriffe nach, die die Reichskonzepte jeweils prägen: Reich / Nation; Föderalismus / Unitarismus; Universalismus / Imperialismus; Mischung / Reinheit; Bewegung / Partei (S. 167 ff.). Borchardts umfassende publizistische Tätigkeit, unter anderem in sechs Artikeln für die Münchner Neuesten Nachrichten zwischen 1930 und 1933, wird als Stellungnahme im öffentlichen politischen Diskurs gewertet, die sich unter anderem an dem von der Deutschen Allgemeinen Zeitung entworfenen Bild entzündet (S. 165 f.).

[49] 

Zeigen kann die Autorin, daß Borchardt mit Begriffen wiederum strategisch verfährt und diese ihre Bedeutung und Wertung jeweils aus der Konfrontation mit weiteren Begriffen erhalten. So werde zum Beispiel der Begriff der Nation bei Borchardt dort positiv als entwickeltes Selbstbewußtsein und gelebte Einheit des Volkes dargestellt, wo dieser mit der zeitgenössischen Realität der Weimarer Republik konfrontiert wird. Dagegen erfahre der Begriff eine Abwertung, wenn er mit dem Reichsbegriff verbunden wird. Hier erscheine Nation als Zeichen einer Uniformität »gegenüber der internationalen, universalen Einheit des Reichs« (S. 168). Schließlich opponiere Borchardt gegen einen Volksbegriff, der sich auf rassische Zuschreibungen stützt, und konturiere diesen dagegen als Prozeß der »Partizipation an der Kultur des Landes« (S. 176).

[50] 

Zu Recht betont Steiger, daß damit aber noch keine Ablehnung des Nationalsozialismus impliziert ist, vielmehr sei das Verhältnis Borchardts zu diesem durch Ambivalenz gekennzeichnet. Der Nationalsozialismus werde von Borchardt gekennzeichnet als »elementare Bewegung«, die damit jenseits der entzweienden Parteienvielfalt steht (S. 178 f.). Zugleich werde dieser als »ungeführte Bewegung« beschrieben, dessen bestehendes Programm lediglich der Machtgewinnung diene und keine gedanklich bindende Funktion besitze (S. 179). Anknüpfend an die kunsthistorischen Deutungen des Pisa-Buchs, welche die dargestellte Bewegung von Menschengruppen als durch den Künstler formal gezügelt und gelenkt begreift, sehe sich Borchardt nun in der Position, dies politisch als »›Umbiegung‹ der ›elementaren Kräfte‹ zum ›Reichspathos‹« zu leisten (S. 180) und zugleich als Bewahrer deutscher Tradition aufzutreten, der die ideelle Orientierung der ›Bewegung‹ garantiere, bis bereits im Sommer 1933 eine Abwendung Borchardts vom Nationalsozialismus erfolgte.

[51] 

Gesamturteil

[52] 

Die Arbeit schließt mit einem Rückbezug auf die Einleitung: »Daß [...] seine [Borchardts] exzentrischen Texte mitten im politischen Diskurs Partei ergreifen, dies zu zeigen war ein Ziel dieser Arbeit« (S. 191). Mißt man diese abschließende Aussage jedoch an der in der Einleitung vorgestellten Konzeption, so trifft man auf einen Widerspruch, der zugleich auf eine generelle Schwierigkeit der Arbeit verweist.

[53] 

Die Arbeit erhebt nämlich zu Beginn den Anspruch, nicht nur Borchardts politische Stellungnahmen, sondern auch die Wirksamkeit der Borchardtschen ›Textpolitik‹ darzulegen:

[54] 
Diese Arbeit wird [...] zeigen, daß Borchardts ›Textpolitik‹ wirksam ist, weil sie sich mit ihren Imaginationen politischer Gemeinschaft in eine von verschiedenen zeitgenössischen Autoren geteilte und etablierte Semantik geschickt, sie aufnehmend und umschreibend einträgt. (S. 13)
[55] 

Im untersuchten Zeitraum zwischen 1900 und 1930 gab es jedoch auch eine große Anzahl von weniger bekannten Autoren, die ähnliche Strategien anwendeten. Waren diese dann automatisch in gleicher Weise ›wirksam‹ wie Borchardt? Oder anders gefragt: Wodurch unterschieden sie sich von Borchardt? Welche Kriterien belegen eine Wirksamkeit? Und was soll unter Wirksamkeit generell verstanden werden? Öffentliche Diskussion und unter Umständen Abwehr der Thesen Borchardts? Eventuell konkreter Einfluß auf kulturelle Praxis oder gar Wahlverhalten? Welche Rezipientenkreise werden angestrebt und potentiell angesprochen? Leider finden diese Fragen in der Arbeit keine Beachtung.

[56] 

Im Gegenteil wird folgende Argumentationskette entwickelt: Da das »strukturelle Merkmal« der »Wirkmacht der historisch-mythologischen Erzählungen im politischen Prozeß« deren »Ästhetisierung« sei, wird von der Autorin geschlossen, daß bei Borchardt »die ästhetische Überformung von Ideen, das heißt bestimmte textuelle Verfahrensweisen, ihren Einsatz als Ideologie möglich macht und für deren Wirksamkeit verantwortlich ist« (S. 12). Damit ist der Kreislauf geschlossen. ›Wirksamkeit‹ und ›Wirkmacht‹ müssen nicht mehr nachgewiesen werden, sondern werden vorausgesetzt. Daher unterbleibt auch an vielen Stellen eine differenzierte Kontextualisierung, die die Analyse der Borchardtschen Texte in sozial- und kulturhistorischen Zusammenhängen hätte verorten und die Bedeutung der Textanalysen erst zur Entfaltung hätte bringen können.

[57] 

Überzeugen können dagegen die Struktur der Arbeit und die Kapitel, die sich intensiv der Textinterpretation widmen. So schlägt die Arbeit eine gut durchdachte Bresche durch das voluminöse Borchardtsche Werk, indem jeweils thematisch konkretisiert Kritik und Lösungsvorschläge Borchardts hintereinander behandelt und in Problemstellungen und Lösungskonzepten miteinander verbunden werden. Stärken besitzt die Arbeit zudem dort, wo sie sich der genauen Textanalyse unterzieht, so in der Analyse des Gesprächs über Formen (S. 62 ff.), der Beichte Bocchino Belfortis (S. 99 ff.) und der Darlegung der Deutung der Gotik in Pisa. Ein Versuch (S. 126 ff.).

[58] 

Hervorzuheben ist auch, daß die Autorin dem eigenen Anspruch, den textuellen Strategien in Borchardts Werk nachzugehen, gerecht wird. Konstruktionsprinzipien und Verfahrensweisen der Texte werden in den Kapiteln deutlich herausgearbeitet. Gleichzeitig bleiben die Ausführungen oftmals eigenartig konsequenzlos. Was bedeutet es zum Beispiel, wenn kunsthistorische Beschreibungen und ästhetische Urteile in politische Aussagen und Visionen überführt werden? Welche Auswirkungen hat dies für die soziale Position der Dichter und die Kontur des ›Politischen‹ bei Borchardt? Gibt es bei ihm noch Grenzen und eigene Funktionsweisen des ästhetischen und des politischen Feldes? Welche Konsequenzen haben ästhetische Urteile für die Ethik? Ist sich Borchardt dieser Problemstellungen bewußt, und wenn nicht, wie müßten diese Probleme von der Forschung beurteilt werden?

[59] 

Auch die Person Borchardts bleibt merkwürdig blaß. Ohne psychohistorische Fragestellungen bemühen zu wollen, scheint es doch in Borchardts Fall auch biographische Zusammenhänge gegeben zu haben, die diesen veranlaßten, immer wieder Feinde zu konstruieren – den George-Kreis, diverse Dichterkollegen seiner Zeit, die etablierten Geisteswissenschaften, das zeitgenössische Verlagswesen und viele andere – und diese dann als Rufer in der Wüste zu bekämpfen. Ob diese von Borchardt konstruierten Fronten immer den drängenden Problemstellungen seiner Zeitgenossen entsprachen, müßte genauer analysiert werden. Nicht zuletzt waren auch die von Zeitgenossen und Forschern diagnostizierte individuelle Sprachgewalt und der Furor, mit dem Borchardt seine Texte schrieb und vortrug, Teil der Wirkung, die eventuell von ihnen ausgehen konnte. Wodurch dieser Eindruck erreicht wurde, wäre auch im Zusammenhang dieser Arbeit einer Analyse wert gewesen und wäre der Autorin ob ihrer Fragestellung nach textuellen Mitteln und Verfahrensweisen sicherlich möglich gewesen.

[60] 

Leider erschwert eine unübersichtliche Zitierweise den Lektüreprozeß. So werden Zitate und Paraphrasen einerseits im Fließtext mit Kurztiteln in Klammern nachgewiesen, andererseits aber die vollständigen bibliographischen Angaben in den Fußnoten wiedergegeben. Diese Doppelung hätte vermieden werden können. Unbestreitbar bleibt das Verdienst der Arbeit, eine Textanalyse vorzulegen, die neue Perspektiven in Borchardts Werk aufdeckt. Deren literatursoziologische Auswertung bleibt jedoch weiteren Studien überlassen.


PD Dr. Carola Groppe
Ruhr-Universität Bochum
Institut für Pädagogik
Universitätsstraße 150
DE - 44801 Bochum

Ins Netz gestellt am 10.10.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Stefan Matuschek. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Julia Ebeling.

Empfohlene Zitierweise:

Carola Groppe: Geschichtsaneignung als politischer Akt? Rudolf Borchardts Verfahren der Vergegenwärtigung von Geschichte. (Rezension über: Meike Steiger: Textpolitik. Zur Vergegenwärtigung von Geschichte bei Rudolf Borchardt. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003.)
In: IASLonline [10.10.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=852>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Vgl. exemplarisch Ernst Osterkamp (Hg.): Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen. Berlin, New York: Walter de Gruyter 1997. Kai Kauffmann (Hg.): Dichterische Politik. Studien zu Rudolf Borchardt. Berlin, Bern u. a.: Lang 2002.   zurück
Vgl. Franck Hofmann: Sprachen der Freundschaft. Rudolf Borchardt und die Arbeit am ästhetischen Menschen. Paderborn: Fink 2004. Alexander Kissler: »Wo bin ich denn behaust?« Rudolf Borchardt und die Erfindung des Ichs. Göttingen: Wallstein 2003.   zurück
Vgl. Kai Kauffmann: Rudolf Borchardt und der »Untergang der deutschen Nation«: Selbstinszenierung und Geschichtskonstruktion im essayistischen Werk. Tübingen: Niemeyer 2003.   zurück