Hans Altenhein

Ein ziemlich offenes Fenster




  • Simone Barck / Martina Langermann / Siegfried Lokatis (Hg.): Fenster zur Welt. Die Geschichte des DDR-Verlages Volk und Welt. Berlin: Christoph Links 2003. 440 S. Paperback. EUR 19,90.
    ISBN: 3-86153-300-6.


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Verlagsgeschichte nach Längen- und Breitengraden

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Die politische Weltkarte als veränderliche Projektionsfläche für ein literarisches Reiseprogramm: Das ist, auf eine Formel gebracht, der Verlag Volk und Welt zwischen 1947 und 1989. Ein so komplexes Unternehmen ist mit der Chronologie herkömmlicher Verlagsgeschichten kaum erfaßbar, deshalb sind die Herausgeber dieses Buches auf die Idee gekommen, kurze Beiträge einer großen Schar von Sachkennern – ehemaligen Verlagsmitarbeitern wie Wissenschaftlern – zu sammeln und zu einem Mosaikbild zusammenzufügen, das sich an Arbeitsgebieten und Arbeitsvorgängen im Verlag orientiert. So stehen hier Erinnerungsbruchstücke neben zusammenhängenden Berichten, Verlagsanekdoten neben kritischen Rückblicken, und vieles beruht auf (redigierten) Interviews, die Siegfried Lokatis im Rahmen eines DFG-Projekts durchführen konnte.

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Alleine vierzehn informative Beiträge stammen von den beiden Herausgebern selbst, auch dies teils ›Kurzgeschichten‹ zu einzelnen Vorgängen aus dem Verlagsarchiv, teils Übersichtsartikel wie die Einleitung von Siegfried Lokatis (S. 15–30) oder die Verlagsgeschichte des späteren Übernahme-Unternehmens Kultur und Fortschritt von Simone Barck (S. 35–43).

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Unter den insgesamt fast 100 Artikeln (von 60 Autoren) stammen weitere neun von Wissenschaftlern, die sich speziell mit der Rezeption ausländischer Literaturen in der DDR befaßt haben, so von Marion Brandt zur Rezeption der polnischen Literatur, von Ulrike Gahnz zur schwedischen, von Anna-Christina Giovanopoulos zur amerikanischen, von Jens Kirsten zur lateinamerikanischen und von Danielle Risterucci-Roudnicki zur französischen Literatur.

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Das Schwergewicht liegt aber bei den Berichten früherer Mitarbeiter des Verlages Volk und Welt, von Antkowiak bis Tschörtner. Dieses kumulative und narrative Verfahren kann und soll eine systematische wissenschaftliche Untersuchung nicht ersetzen, hat aber, zusammen mit den vielen Abbildungen, den Reiz großer Anschaulichkeit aus wechselnder Perspektive. Allein die Abdrucke aus der Hauszeitschrift Bücherkarren, Paratexte also, sagen mehr über die Selbstdarstellung des Verlages, als über seine Verhältnisse aus.

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Aufgabe von Volk und Welt war es, den Lesern in der DDR ein repräsentatives Bild der ausländischen Gegenwartsliteratur zu vermitteln, wobei »repräsentativ« auch hieß, daß das im Rahmen von politischen und ästhetischen Grenzziehungen zu geschehen hatte, die nicht zuletzt vom Verlag selbst ausgearbeitet wurden – womit so etwas Widersprüchliches wie eine »internationale DDR-Literatur« (Lokatis) entstand. Unter dem Schirm der Internationalität wurden diese Grenzen von Anfang an, nicht zuletzt von ehemaligen West-Emigranten in der Verlagsleitung, ziemlich weit gesteckt, so daß durchaus heikle Bücher erscheinen konnten, wie Tibor Derys Der unvollendete Satz (1954), Norman Mailers Die Nackten und die Toten (1967), Elias Canettis Die Blendung (1979), Werke von Bulgakow, Mandelstam und Trifonow und bis hin zur Blechtrommel des BRD-Bürgers Günter Grass. 1 An den Rändern dieses sich ständig verändernden Weltbildes fanden dann lange und listenreiche, in vielen Fällen aber auch vergebliche Versuche von Lektoren statt, die jeweiligen Einfuhrbeschränkungen zu unterlaufen. Und obwohl Volk und Welt nur die verlegerische Zweitverantwortung für seine Bücher trug, hat es an Kollisionen mit der Staatsmacht nicht gefehlt. Immer wieder kam unerwünschter Luftzug durch das offene Fenster.

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Aus einzelnen Beiträgen und einer kleinen Faktensammlung (S. 397–399) in Fenster zur Welt läßt sich einiges Datenmaterial zusammenstellen. So produzierten, seit 1970 unter der zuverlässigen Leitung von Jürgen Gruner, mehr als 20 Fachlektorate – nach westlichen Begriffen ein ganzes Fremdspracheninstitut – mit etwa 50 Lektoren, Korrektoren und Verlagsredakteuren, unterstützt von vielen Übersetzern, Gutachtern und Herausgebern, bis 1989 insgesamt 3.334 Erstauflagen von 1.800 Autoren aus nahezu 80 Ländern. Durch den Zusammenschluß von Volk und Welt mit dem Verlag der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, dem ebenfalls in Berlin ansässigen Verlag Kultur und Fortschritt im Jahre 1964, war ein gewaltiges Reservoir von Übersetzungsrechten aus allen Literatur-Sprachen der Sowjetunion entstanden, das fortan sein Eigengewicht behaupten sollte. Aber auch eine »kleine« Literatur, wie die schwedische, brachte es im Laufe der Zeit auf fast 70 Übersetzungen. Allerdings: Die Auswahl aus afrikanischen und asiatischen Literaturen folgte noch immer den alten europa-zentrischen Mustern.

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Nach den Lektoratsberichten befassen sich spezielle Beiträge des Bandes Fenster zur Welt schließlich mit den Reihen des Verlages (darunter der unglaublich elitären »Weißen Reihe«), mit der Hauszeitschrift Der Bücherkarren und mit der Roman-Zeitung, die zwischen 1949 und 1990, zunächst im Zeitungsverlag der Täglichen Rundschau, ab 1952 bei Volk und Welt, in 500 Ausgaben mit einer Durchschnittsauflage von 91.000 Exemplaren erschien. Anschließend daran werden weitere Beiträge unter Stichworten zusammengefaßt.

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Was soll man aus der Fülle des Materials hervorheben? Einen Fall von Literaturzensur in Ulan Bator, die Vorgeschichte der dreibändigen Ausgabe von Ehrenburgs Memoiren oder die Schwierigkeit, den rechtsradikalen Autor Louis-Ferdinand Céline DDR-geeignet erscheinen zu lassen? Zumindest sei ausdrücklich auf den Arbeitsbericht des Slawisten, freien Übersetzers und Herausgebers Fritz Mierau verwiesen, auf die Beiträge der Lektorin und Romanistin Carola Gerlach (über frankophone Literatur aus Afrika), der Ökonomischen Direktorin Monika Müller, des Graphikers Horst Hussel, des ehemaligen Lektors Roland Links, der auch am Zustandekommen des ganzen Bandes beteiligt war, und auf die Leserbiographie von Thomas Klein. Schließlich: Der Band ist reich illustriert mit Privatfotos und Buchumschlägen, letztere auch in einem sechzehnseitigen Farbteil von vorzüglicher Qualität.

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Man spricht Deutsch

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Deutschsprachige Literatur aus dem nicht-sozialistischen Ausland, also aus Österreich, der Schweiz und der Bundesrepublik (»einschließlich West-Berlin«) gehörte immer schon zum arbeitsteiligen Aufgabengebiet von Volk und Welt. Während aber die Beziehungen zu den beiden erst genannten Ländern schon früh, vor allem durch Roland Links, trotz aller Reisebeschränkungen nachdrücklich gepflegt werden konnten, wobei sowohl Thomas Bernhard (ab 1980) wie Max Frisch (ab 1965) als geschätzte Autoren galten, war die BRD doch eher feindliches Gelände – und außerdem war sie auch für den Aufbau-Verlag interessant. Die Geschichte der Anthologie 19 westdeutsche Erzähler, 1964 herausgegeben von Werner Liersch und 1977 fortgesetzt als 24 Erzähler aus der BRD und Westberlin, zeigt die Mischung aus Interesse und Verlegenheit gegenüber dem westlichen Nachbarn deutlich genug. Trotzdem ist die Liste der westdeutschen Autoren ziemlich lang und dabei ebenso lückenhaft wie originell, hier begegnen sich Gisela Elsner und Wolfgang Hildesheimer, Eugen Roth und Alexander Kluge, Rolf Hochhuth (ausführlich) und Nicolas Born. Als 1983 der politische Bann über das Werk von Günter Grass aufgehoben wurde, konnte Katz und Maus im Jahr darauf bei Volk und Welt herauskommen, und zwei Jahre später auch Die Blechtrommel – allerdings nach heftiger Auseinandersetzung mit dem Aufbau-Verlag. (Der nahm 1990 die Verbindung zu Grass wieder auf, aber da sollten sich auch dort die Verhältnisse schnell ändern.) 2

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Volk und Welt in Eisenhüttenstadt

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Dieses Buch hat eine Vorgeschichte. Im Jahre 2001, bei der Auflösung des inzwischen privatisierten Verlages Volk und Welt, mußten die Berliner Verlagsräume – schon längst nicht mehr die weitläufigen in der Glinkastraße – in kurzer Zeit frei gemacht werden, dabei standen umfangreiche Archivregale im Wege. Es ist allein dem spontanen Eingreifen von Siegfried Lokatis und Dietrich Simon, dem damaligen Geschäftsführer, zu danken, daß die Akten- und Buchbestände gerettet werden konnten, alleine 40 laufende Meter Rezensionsarchiv wurden dem Archiv der Akademie der Künste Berlin-Bandenburg übergeben. Das komplette Bucharchiv, Tausende von Bänden, verbrachte man in Lastwagenfuhren in das »Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR« in Eisenhüttenstadt, es wurde dort erschlossen und wieder zugänglich gemacht und steht jetzt Besuchern, die den Weg nicht scheuen, aber auch Wissenschaftlern zur Verfügung. Bereits 2003 veranstaltete das Zentrum eine Ausstellung »Europa im Kopf. Der Verlag Volk und Welt in der DDR«, zu der der hier besprochene Band als Begleitbuch diente. Die Liste der daran beteiligten Förderer ist beträchtlich.

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Im übrigen gehörte die lamentable Nach-Wende-Geschichte des Verlages nicht mehr zum Thema des Buches, zwei westdeutsche Beiträge zu der sogenannten »Plusauflagen«-Affäre und zum Treuhand-Debakel helfen da nicht weiter. Interessanter ist schon, was zwei frühere Mitarbeiter über die letzte Phase des Verlages im Fenster zur Welt geschrieben haben:

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In den achtziger Jahren rannten diese Zensurschranken, die wir immer überklimmen wollten, vor uns weg. Es wurde immer leichter, und später gab es fast gar keine Hindernisse mehr. Dann fing man schon an zu überlegen, ob man nicht 1984 von Orwell herausbringen könnte, auch Ernst Jünger war Mitte der achtziger Jahre im Gespräch... Es entstand so etwas wie Übermut. (Christlieb Hirte, S.393)
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Einen Tag nach dem Fall der Mauer saßen wir in einer kleinen Gruppe in der Kantine, und ein Kollege sagte: ›Leute, ist euch eigentlich bewußt, daß uns heute nacht das Programm weggebrochen ist?‹ (Monika Müller, S.324)
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Aber das letzte Wort über die Bedeutung von Volk und Welt als universellem Übersetzungsverlag (und über die Zweideutigkeit eines offenen Fensters in einer geschlossenen Republik) ist noch nicht gesprochen. Die Herausgeber der vorliegenden Materialsammlung machen uns denn auch gespannt auf die Erschließung des umfangreichen Aktenmaterials, aus dem wir mehr über die politischen und vor allem auch ökonomischen Außenbedingungen des Systems Volk und Welt zu erfahren hoffen. 3


Prof. Dr. Hans Altenhein
Auf dem Weißgerber 7
DE - 64404 Bickenbach

Ins Netz gestellt am 18.02.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten PD Dr. Thomas Keiderling. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer.

Empfohlene Zitierweise:

Hans Altenhein: Ein ziemlich offenes Fenster. (Rezension über: Simone Barck / Martina Langermann / Siegfried Lokatis (Hg.): Fenster zur Welt. Die Geschichte des DDR-Verlages Volk und Welt. Berlin: Christoph Links 2003.)
In: IASLonline [18.02.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=866>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Zur Verlagsbibliographie siehe »40 Jahre internationale Literatur. Bibliographie 1947–1986«, bearbeitet von H. D. Tschörtner. Berlin: Volk und Welt 1987, sowie deren Fortsetzung Internationale Literatur 1987–1989, Nachtrag zur Verlagsbibliographie und schließlich die »Bibliographie des Verlages Volk und Welt 1990–2001« im vorliegenden Buch, S.400–424, im Netz unter www.alltagskultur-ddr.de    zurück
siehe Werner Mittenzwei: Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945–2000. Leipzig: Faber & Faber 2001, S.466    zurück
Dieselbe Erwartung gilt natürlich auch dem künftigen DDR-Band der »Geschichte des Deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert« (K. G. Saur).   zurück