Klaus Graf

Spannender Kulturgut-Krimi




  • Opritsa D. Popa: Bibliophiles and Bibliothieves. The Search for the Hildebrandslied and the Willehalm Codex. With a preface by Winder McConnel. (Cultural Property Studies. Schriften zum Kulturgüterschutz) Berlin / New York: Walter de Gruyter 2003. XVI, 265 S. 33 Abb. Gebunden. EUR 58,00.
    ISBN: 3-11-017730-7.


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Am Morgen des 25. Februar 1972 nahm im noblen Konferenzsaal der vornehmen Rosenbach Foundation in Philadelphia Dieter Hennig, Direktor der Landesbibliothek Kassel, ein altes Pergamentblatt, trat damit zum Fenster und hielt es gemeinsam mit dessen Zwilling, den er aus Kassel mitgebracht hatte, ans Licht: Die Rißstellen paßten zusammen. Mit zitternden Händen wiederholte der greise Aufsichtsratsvorsitzende der Stiftung, der Sammler und Philanthrop Lessing Rosenwald, den Test mit gleichem Ergebnis. Er war sichtlich erschüttert und flüsterte: »Oh, Rosenbach – and you were my friend ...« (S. 194 f.).

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Bei dem alten Pergamentblatt handelte es sich um das erste Blatt des Hildebrandslieds, das in den Nachkriegswirren des Jahres 1945 aus Kassel gestohlen worden und in die Hände des renommierten Antiquars und Sammlers Dr. Rosenbach gelangt war, dessen Museums-Stiftung es bis zu jener denkwürdigen Szene 1972 heimlich aufbewahrt hatte.

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Popa, Bibliothekarin an der Shields Library der Universität Kalifornien in Davis, hat bei der Aufdeckung des Schicksals zweier 1945 entfremdeter Kasseler Zimelien, der Codices des Hildebrandslieds und des »Willehalm«, umfangreiche Materialien im Besitz ihrer Bibliothek, die 1998 von Kassel übergeben worden waren, auswerten können, daneben freigegebene US-Dokumente und zahlreiche andere Quellen. Sie hat Interviews mit Zeitzeugen geführt, unzählige Auskünfte eingeholt und kann aufgrund dieser sorgfältigen, im Buch akribisch und außerordentlich gewissenhaft in den Fußnoten dokumentierten Recherchen dem Leser ein mehr oder minder lückenloses Bild präsentieren. Sie hat aber noch mehr getan: Sie hat mit großem erzählerischen Talent ihre Resultate so dargestellt, daß sich ihr Buch in der Tat so spannend wie ein Kriminalroman liest. Ein ausführlicher Index, Kurzbiographien der wichtigsten genannten Personen und eine vorangestellte Zeittafel erleichtern die Übersicht. Zahlreiche gut ausgewählte Schwarzweißabbildungen dienen der Veranschaulichung (aber wenigstens zum Willehalm-Codex hätte der Verlag eine Farbillustration spendieren müssen).

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Amerikanische Sammlerszene

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Popas Darstellung ist nie geschwätzig und ausufernd. Ihr gelingt es, knapp und prägnant den jeweiligen historischen Zusammenhang transparent zu machen. Daher kann man aus ihrem Buch viel über die amerikanische Sammlerszene lernen, aber auch über die US-Institutionen, die sich nach 1945 um die Rückführung vermißter Kulturgüter bemühten.

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Schon 1939 ließ der Direktor der Kasseler Landesbibliothek 20 kostbare Manuskripte in einem Banksafe unterbringen, unter ihnen den karolingerzeitlichen »Liber Sapientiae« aus Fulda mit dem Hildebrandslied (erste Hälfte 9. Jahrhundert), 2° Ms. theol. 54, und den prachtvoll illuminierten deutschsprachigen Willehalm von 1334, 2° Ms. poet. 1. Sie entgingen so den vernichtenden Bombardements Kassels 1941 und 1943. In einen Bunker nach Bad Wildungen verbracht, verschwanden nach der Plünderung des Bunkers im April 1945 die beiden unersetzlichen Kulturgüter zunächst spurlos. Alle Versuche deutscher und US-Autoritäten, ihrer wieder habhaft zu werden, blieben 1945 / 46 erfolglos.

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Die Geschichte, die Popa erzählt, besitzt mindestens zwei Helden und mehrere finstere Gestalten. Dem Andenken von zwei Personen, die sich mehr als alle anderen unermüdlich und zäh um die Rückführung der gestohlenen Handschriften bemüht haben, ist das Buch gewidmet: Ardelia R. Hall und Edgar Breitenbach. Der ausgebildete Bibliothekar Breitenbach, 1933 in Deutschland als Jude aus dem Amt gejagt, war für die US-Eliteabteilung »Monuments, Fine Arts and Archives« tätig, die sich um den Schutz der vom Krieg und den Nachkriegswirren bedrohten Kulturgüter kümmerte. Die Kunsthistorikerin Ardelia Ripley Hall diente dem State Department in Sachen Kulturgutschutz.

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Was die finsteren Gestalten betrifft, so spricht es für die Autorin, daß sie ihre Story vergleichsweise nüchtern und nicht im Gestus der Anklage erzählt. Die ausgebreiteten Fakten lassen freilich durchaus eindeutige Schlußfolgerungen zu.

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Im November 1945 verkaufte ein US-Leutnant namens Bud Berman, über den nichts in Erfahrung zu bringen war, für 6000 Dollar den illustrierten Willehalm und für 1000 Dollar den Codex mit dem Hildebrandslied der in Manhattan ansässigen Rosenbach Company. Wie aus Geschäftsunterlagen hervorgeht, war in das Geschäft nicht nur der Manager Johan F. Fleming involviert, sondern auch der unvergleichliche »Doctor Rosenbach«: Abraham Simon Wolf Rosenbach, »the most successful rare book dealer of all times« (S. 85). Dieser Tycoon war pikanterweise Mitglied der für die Erhaltung und die Rückführung durch Kriegseinwirkungen gefährdeter Kulturgüter zuständigen Roberts-Kommission und muß genau gewußt haben, daß der Kauf gegen gültiges US-Recht verstieß (S. 219). Unübersehbar prangte in beiden Codices der Eigentümerstempel der Kasseler Bibliothek.

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Dr. Rosenbach entschied sich, den bebilderten Willehalm zu behalten. Er gelangte mit der Sammlung des Bibliophilen in das Rosenbach Museum & Library, wo er erst 1972 »wiederentdeckt« und ohne finanzielle Gegenleistung der Kasseler Bibliothek zurückgegeben wurde.

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Offenbar erkannte man in der Rosenbach Company zunächst nicht den Wert der anderen Handschrift, die man als Bibelhandschrift betrachtete. Man entfernte das erste Blatt des Hildebrandslied mit dem verräterischen Kasseler Besitzvermerk und versuchte diesen mit chemischen Mitteln unkenntlich zu machen.

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Wenige Tage nach dem Erwerb bot die Rosenbach Company den lateinischen »Liber Sapientiae« der Pierpont Morgan Library an, damals geleitet von der »first lady of American librarianship«, Belle da Cosa Greene (S. 96). Der Band sollte 10.000 Dollar kosten. Carl Selmer identifizierte das Hildebrandslied, aber die Direktorin entschied sich aus Rücksichtsnahme auf Rosenbachs Reputation und um einen Skandal zu vermeiden dazu, den Codex mit einem warnenden Hinweis auf den rechtmäßigen deutschen Eigentümer, die Kasseler Bibliothek, der Firma zurückzusenden. Das Hildebrandslied wurde zwar nicht erwähnt, aber der Brief des Morgan-Bibliothekars Curt Bühler machte deutlich, daß die Handschrift in höchstem Maße wertvoll und heiße Ware war (S. 118).

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Aber die Rosenbachs hatten einige Jahre später eine gute Idee, wem sie das kostbare Stück mit Profit unterschieben konnten. Im März 1950 offerierte Philip Rosenbach, der ältere Bruder des gelehrten Händlers, es mit anderen Preziosen einer guten Kundin, der katholischen Countess Estelle Doheny in Los Angeles. Die Doheny Memorial Library in St. John’s Seminary in Camarillo war so gut wie unzugänglich. Die Countess zahlte für den »Liber Sapentiae« 9500 Dollar – die Rosenbachs hatten ihn, wie erwähnt, für 1000 Dollar erworben. Noch im gleichen Jahr publizierte Robert Oliver Schad (Huntington Library) einen versteckten Hinweis auf ein von der Doheny Library erworbenes Manuskript deutscher Provenienz.

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Nachforschungen

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Ende 1951 nahm Ardelia Hall ihre Nachforschungen auf und hatte das Glück, daß Karl Kup (New York Public Library) gerüchtweise vom Schicksal des Codex gehört hatte und den Kontakt zu Bühler herstellen konnte. Dieser erzählte ihr vom Angebot der Rosenbach Company 1945 und wies sie auf Schads Artikel hin. Carl Selmer hatte die MLA-Konferenz im Dezember 1951 dazu genutzt, auf die Existenz der Handschrift mit dem Hildebrandslied, die er 1945 in der Morgan-Library in der Hand gehalten hatte, in Amerika aufmerksam zu machen. Diese Informationen waren nach Kassel gelangt und hatten Ardelias Recherchen ausgelöst. Im August 1953 wurde dank der Vermittlung des Erzbischofs von Los Angeles der Codex an Ardelia übergeben, die ihn im September 1954 dem deutschen Kulturattaché in Washington weitergab. Am 22. März 1955 war er wieder in Kassel. Mrs. Doheny erhielt ihr Geld von der Rosenbach Company zurück.

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Aber wo waren das fehlende Blatt des Hildebrandslieds und der Willehalm? Ein öffentlicher Aufruf Ardelias im Bulletin des State Department im Oktober 1954 blieb ergebnislos. Eine Bibliothekarin an der Library of Congress, Gretel Mayer, eine deutsche Emigrantin, schien 1961 eine neue Spur zu offerieren. Sie war 1945 für die Rosenbach Company tätig gewesen und hatte mitbekommen, daß das Blatt mit dem Besitzvermerk hausgeschnitten worden war (wohl von Fleming, der auch versucht hatte, den Stempel unkenntlich zu machen). Zunächst hilfsbereit, war Mayer auf Nachfragen Ardelias plötzlich nicht mehr kooperativ. Fürchtete sie Flemings Macht und Einfluß, der 1954 nach dem Tod der Rosenbachs als ihr Nachfolger eine eigene Firma eröffnet hatte?

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Über ein Jahrzehnt später – Ardelia war 1964 in den Ruhestand getreten – kam der Washingtoner Anwalt Kennedy C. Watkins auf die Idee, den Kurator der Alverthorpe Gallery von Lessing J. Rosenwald, Präsident der Rosenbach Foundation, um Unterstützung zu bitten. Rosenwald wandte sich an Edwin Wolf, Rosenbachs Neffen, den Ardelia vergeblich befragt hatte, und dieser gab die Existenz des fehlenden Blatts in den unkatalogisierten Beständen des Rosenbach Museums freimütig zu. Rosenwald kontaktierte sofort Watkins, der die gute Nachricht nach Deutschland weitergeben konnte – das jahrzehntelang gehütete Geheimnis war keines mehr. Im März 1972 entdeckte der Rosenbach-Kurator auch den Willehalm, der gemeinsam im September des Jahres dem Kasseler Bibliotheksleiter Hennig übergeben werden konnte – eine Odyssee mit »Happy End«.

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Ausnahmefall
oder Spitze des Eisbergs?

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Ist der von Popa geschilderte Fall, der den berühmten Dr. Rosenbach und seine Firma als Hehler erscheinen läßt, ein extremer Ausnahmefall oder womöglich die Spitze eines Eisbergs? Bekanntlich wurden in den letzten Jahren wiederholt unlautere Machenschaften des Kunsthandels (auch bei den renommiertesten Firmen) aufgedeckt. 1 Nicht ausschließen kann man, daß bei den Kasseler Handschriften der Umstand eine Rolle gespielt hat, daß die Rosenbachs aufgrund ihrer jüdischen Herkunft allen Grund hatten, Nazi-Deutschland zu verachten. Hatten die Deutschen nicht jedes moralische Recht verloren, auf korrekte Einhaltung der Vorschriften in Sachen Kulturgutschutz zu pochen?

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Deutlich werden am Beispiel des Verhaltens der Direktorin der Pierpont-Morgan-Library aber auch die engen Verflechtungen zwischen den US-Bibliotheken und den sie beliefernden Star-Antiquaren. Popas Buch, das aufgrund seiner literarischen Qualitäten auch in einer für das breite Publikum bearbeiteten deutschen Übersetzung erscheinen sollte, gewährt mancherlei willkommene Einblicke in Bereiche des Wirtschaftslebens, die sonst sorgsam vor der Öffentlichkeit abgeschirmt werden.


Dr. Klaus Graf
Friedrichstr.26
DE - 56333 Winningen

Ins Netz gestellt am 05.06.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserer Fachreferentin Dr. Bettina Wagner. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Klaus Graf: Spannender Kulturgut-Krimi. (Rezension über: Opritsa D. Popa: Bibliophiles and Bibliothieves. The Search for the Hildebrandslied and the Willehalm Codex. With a preface by Winder McConnel. Berlin / New York: Walter de Gruyter 2003.)
In: IASLonline [05.06.2004]
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Anmerkungen

Vgl. nur Siegfried Kogelfranz / Willi A. Korte: Quedlinburg – Texas und zurück. Schwarzhandel mit geraubter Kunst, München 1994, S. 236 f. über ein Stück des Quedlinburger Domschatzes: »Tatsächlich scheint es zwischen 1986 und 1990 in Amerika keinen Handschriftenhändler von Rang gegeben zu haben, der nicht vom Samuhel-Evangeliar gehört hatte. Aber keiner, nicht ein einziger, gab je öffentlich Laut über den Skandal, keiner informierte eine zuständige Behörde. Vertraulichkeit ist halt, so das offenbar stets befolgte Motto der halbseidenen Branche, die Grundlage vom Geschäft«.   zurück