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Zwischen Einstiegshilfe und
Nachschlagewerk

  • Benedikt Jeßing / Ralph Köhnen: Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler 2003. XI, 318 S. Kartoniert. EUR (D) 19,95.
    ISBN: 3-476-01951-9.
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Sich dem akademischen Publikum mit einer literaturwissenschaftlichen Einführung in die Germanistik zu präsentieren, gehört mittlerweile zum guten Ton. Während in früheren Jahren dieses Genre als wenig prestigeträchtig galt und lange Zeit kaum eine Alternative zum bewährten »Gutzen / Oellers / Petersen« 1 in Sicht war, können Studierende heute zwischen einer verwirrend großen Zahl an mehr oder minder fundierten Einführungsbüchern wählen. Aus der Perspektive der Vermittelnden mag dies eine Art sein, sich angesichts des herrschenden Konkurrenzdrucks auf dem akademischen Markt zu positionieren, was ein Indiz dafür ist, dass der viel beschworenen »pädagogischen Eignung« heute tatsächlich mehr Gewicht im Wissenschaftsbetrieb zukommt, als noch vor einiger Zeit – zumindest aus der Sicht der Studierenden eine durchaus erfreuliche Entwicklung.

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Angebot und Selbstverständnis

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Die grundlegende Frage lautet zunächst: Was kann eine wissenschaftliche Einführung in Buchform überhaupt leisten? Sind die Anforderungen an dieses Begleitmedium der ersten Semester angesichts überfüllter Hörsäle und schlechter Betreuungsverhältnisse nicht ungleich höher als früher? Oder konkreter gefragt: Wie viel fehlende Seminarpraxis muss eine solche Einführung heute kompensieren helfen? Erstaunlich ist, dass – meines Wissens – noch keine (seriöse) interaktive mediale Form den Markt der germanistisch-literaturwissenschaftlichen Einführungsbücher erreicht hat, also kein Einführungsbuch etwa mit beigelegter CD-Rom, auf der in praktischen Beispielen geübt werden könnte, was vorher theoretisch vermittelt wurde. In den aktuell angebotenen Einführungsbänden finden sich zwar Versuche pädagogischer Dienstleistungen, aber keine konkreten Übungsaufgaben, wie dies noch bei Gutzen, Oellers und Petersen der Fall war. Diese dort etwas schulmeisternd wirkende Form hat offenbar noch kein moderneres Pendant gefunden.

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Unmittelbar verknüpft mit der Frage, was eine Einführung leisten kann, ist die Frage, was die jeweilige Einführung leisten will. Versteht sie sich vornehmlich als »Erstausrüstung für den Studienstart«, wie es Stefan Neuhaus in seinem Grundriss der Literaturwissenschaft formuliert, 2 als knappen Überblick über die wichtigsten Stichworte, wie dies bei der Einführung von Luserke-Jaqui der Fall zu sein scheint, 3 oder, wie bei dem mittlerweile zum »Arnold / Detering« avancierten Band, als umfassendes Studien- und Standardwerk und somit auch als Nachschlagewerk für das gesamte Studium? 4 Wird das vertraute Ordnungsmuster Epochen / Gattungen / Methoden aufgelöst? 5 Und welche Gewichtung erfahren jeweils die Bereiche Theorie und Historie? 6 Auffallend ist, dies sei hier nur am Rande erwähnt, dass sich Literaturwissenschaftlerinnen offenbar wenig für das Genre der Einführung begeistern können.

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Literatur als Erinnerungsarbeit

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Um diese Fragen im Hinblick auf den hier zu rezensierenden Band von Benedikt Jeßing und Ralph Köhnen vorab zu beantworten: Ihre Einführung leistet mehr, als nur einen ersten Überblick über die literaturwissenschaftliche Germanistik zu bieten, und bewegt sich überzeugend zwischen Tradition und aktueller Theorie.

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In der Einleitung legen die beiden Autoren ihr grundlegendes Textverständnis dar: Literatur sei »gesellschaftliche Erinnerungsarbeit« (S. IX), in ihr sprächen Individuen, deren Tätigkeit über den individuellen Rahmen hinaus durch Sprache und stilistische wie literarische Traditionen mit Gesellschaft und Geschichte verbunden seien. Entsprechend werden in einem einleitenden ersten Teil (Kapitel I) die Grundbegriffe Autor, Text und Literatur, Werk, Kanon, literarische Wertung, Lesen und Leser sowie Interpretation näher – und kritisch – beleuchtet. Dem Medium entsprechend in aller Kürze, doch durchaus systematisch werden hier Grundlagen geklärt, auf die die Autoren im Folgenden immer wieder zurückkommen; präzise und dennoch ohne theoretische Überfrachtung führen sie schon eingangs in grundsätzliche Fragestellungen des Faches ein.

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Epochen und Gattungen

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Der Aufbau dieser Einführung folgt traditionellen Mustern. Im zweiten Kapitel werden zunächst zentrale Stationen der deutschen Literaturgeschichte abgeschritten. Dem vorangestellt ist eine Einführung, in der zum einen der Epochenbegriff als raum-zeitliches Ordnungskriterium erläutert, zum anderen aber auch als Konstrukt wissenschaftlicher Forschung problematisiert wird. Die historische Grobeinteilung reicht in drei Schritten von der Reformation bis zur Französischen Revolution, von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg und vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart. Hier wäre eine andere Einteilung vielleicht schlüssiger gewesen, zumal sich die Autoren die Frage stellen lassen müssen, ob eine literaturgeschichtliche Einführung in Epochen in solch knapper Form nicht zu einer zu starken Vereinfachung führt. Besonders das mittlere Intervall erscheint allzu groß, umfasst es doch sowohl die Sattelzeit – dieser Begriff fehlt hier allerdings – um 1800 als auch die um 1900. Dennoch geht der Plan, die Literaturgeschichte als historisches Phänomen einzubeziehen, im Ganzen auf: Die zentralen Topoi werden benannt, und was in aller Kürze angerissen wurde, wird, wie auch in den anderen Kapiteln, durch umfangreiche bibliographische Angaben ergänzt. Schon dies allein macht den Band zu einem hilfreichen Begleiter der ersten Studiensemester.

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Auf das Epochenkapitel folgt – klassisch – das Kapitel zu den literarischen Gattungen (3. Kapitel), wobei auch diese eingangs als Produkte wissenschaftlicher und poetologischer Konstruktion erläutert werden. Hier gilt, wie bei jeder Einführung begrenzten Umfangs, dass man die Liste der besprochenen Begriffe stets für zu knapp oder für falsch gewichtet halten kann. Jeßing und Köhnen bieten einen soliden Überblick über die Grundbegriffe der Lyrik, wobei ein Verweis auf Stilmittel und Tropen, die an späterer Stelle im Kapitel zur Rhetorik abgehandelt werden, ebenso hilfreich gewesen wäre wie eine Ergänzung der theoretischen Ausführungen durch mehr konkrete Textbeispiele.

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Auch zum Drama wird einführend das Wesentliche gesagt. Wenig befriedigend ist hingegen die Einführung in die Analyse erzählender Prosa hinsichtlich der Auswahl an Theorien: Stanzels Begriffsrepertoire wird unkommentiert übernommen und noch nicht einmal die Revisionen Petersens werden erwähnt; zu den narrativen Zeitformen wird ausführlich Käte Hamburger zitiert. Aktuelle erzähltheoretische Konzepte fehlen völlig: Gérard Genettes Standardwerk 7 hat es immerhin in die Literaturliste geschafft, die vielfach benutzte Einführung von Scheffel und Martinez wird gänzlich unterschlagen. 8 Wenig stimmig erscheint auch das Unterkapitel zu den »literarischen Gebrauchsformen« (3.5.), das vorgeblich auf eine Ausweitung des Literaturbegriffs durch Textformen wie Brief, Autobiografie, Traktat oder Reisebericht abzielt. Die Tatsache, dass diese Formen in einem eigenen Kapitel verhandelt werden, spricht jedoch eher für ihre Separierung denn für ihre Integration. Auch Sätze wie: »Der Essay ist Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Literatur« zeugen nur bedingt von einem modernen Textbegriff.

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Auf das Kapitel zu »Rhetorik, Stilistik und Poetik« (4. Kapitel) folgt erfrischend wenig traditionell ein Kapitel zu »Formen der Intermedialität«, das einen klaren Mehrwert dieser Einführung darstellt. Die Autoren führen überzeugend in eines der klassischen Forschungsgebiete moderner Kulturwissenschaften ein, erläutern aktuelles Fachvokabular und verbinden dieses mit der historischen Dimension des Faches. Das Emblem findet hier ebenso Erwähnung wie der Comic, die Palette der behandelten Themen reicht vom romantischen Gesamtkunstwerk bis zum Medientagebuch eines Rainald Goetz. Auch in den Literaturhinweisen zeigt sich hier die Verbindung von Tradition und aktueller Forschung.

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Methoden und Theorien

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Unter der Überschrift »Literaturwissenschaftliche Methoden und Theorien« (6. Kapitel) erfolgt zunächst ein kurzer Abriss der Fachgeschichte, der aber deutlich hinter dem zurück bleibt, was etwa Jochen Vogt zu diesem Thema bietet. 9 Bevor sich die Autoren den einzelnen Theorien zuwenden, ergeht eine pädagogische Warnung, literaturwissenschaftliche Methoden nicht zu überschätzen, seien diese doch niemals Selbstzweck – grenzt man die Begriffe »Theorie« und »Methode« klar voneinander ab, ließe sich dies durchaus bezweifeln. Auf der anderen Seite, so wird die Warnung fortgesetzt, seien literaturwissenschaftliche Methoden auch nicht zu unterschätzen, könnten sie doch als erkenntnisfördernde Instrumente eingesetzt werden, um jeweils neue Textbefunde zutage zu fördern und verschiedene Textlektüren gegeneinander abzugrenzen.

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Was im Anschluss unterschiedlich ausführlich diskutiert wird, reicht von der klassischen Hermeneutik bis zur Diskursanalyse, der Systemtheorie und den aktuellen Tendenzen in den Medien- und Kulturwissenschaften. Erfreulich ist hier beispielsweise, dass die erläuterten Konzepte der Psychoanalyse nicht bei Freud enden, dass Foucaults Diskurs-Begriff nicht unreflektiert übernommen, sondern zunächst einmal problematisiert wird oder dass feministische Wissenschaft und Genderforschung grundsätzlich differenziert werden – was keineswegs in allen literaturwissenschaftlichen Einführungen der Fall ist. Auch für dieses Kapitel gilt natürlich, dass auch eine andere Schwerpunktsetzung denkbar gewesen wäre und dass angesichts des begrenzten Umfangs eine Auswahl getroffen werden musste. Im Hinblick auf die Einleitung, in der Literatur als »gesellschaftliche Erinnerungsarbeit« gekennzeichnet wurde, verwundert jedoch vor allem das Fehlen der Theorien zum kulturellen Gedächtnis.

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Beschlossen wird der Band mit einem Kapitel zur »literaturwissenschaftlichen Praxis«, in dem zum einen pragmatische Hinweise zum wissenschaftlichen Arbeiten (Bibliographieren, Exzerpieren, Erstellen von Referaten und Hausarbeiten) gegeben werden, zum anderen – etwas unvermittelt – eine Einführung in die Editionsphilologie erfolgt. Spätestens hier wird deutlich, dass mit den beiden Autoren Didaktiker am Werk sind. Fraglich bleibt jedoch, ob die Hinweise zum wissenschaftlichen Arbeiten in dieser Knappheit wirklich gewinnbringend sind und ob hier nicht der Verweis auf entsprechende Fachliteratur genügt hätte. Der Abschnitt zur Editionsphilologie erweckt den Eindruck, als sei er vor allem um der Vollständigkeit willen aufgenommen worden. Das Thema wird eher konventionell präsentiert, hier hätte man sich einen Verweis auf moderne Editionsphilologie und aktuelle Editionsprojekte gewünscht. Zum Schluss erfolgt ein Überblick über berufliche Aussichten für Germanistinnen und Germanisten, der sich vor allem den traditionellen Berufsbildern widmet: dem Schuldienst, dem Journalismus, der Dramaturgie, dem Lektorat und der Wissenschaft. Diese Liste ließe sich heute, realistisch betrachtet, wohl vor allem um moderne Medien-, IT- und PR-Berufe ergänzen. Abgerundet wird der Band durch eine knappe, aber sicherlich hilfreiche Bibliographie.

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Fazit

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Ein Manko weist der Band nur im Kapitel zur Analyse von Erzähltexten auf. Ansonsten hat das Autorenteam einen pragmatischen Mittelweg zwischen erster Einstiegshilfe ins Studium und umfangreichem Nachschlagewerk gewählt, der durchaus gelungen ist. Der »Jeßing / Köhnen« ist ein Kompendium, das sich gewinnbringend als Unterstützung von Lehrveranstaltungen im Grundstudium einsetzen lässt und das Studierenden mit gutem Gewissen an die Hand gegeben werden kann.



Anmerkungen

Dessen erste Auflage erschien bereits 1976, blieb vielerorts jedoch bis in die frühen Neunziger Jahre hinein das propädeutische Standardwerk (Dieter Gutzen  / Norbert Oellers / Jürgen H. Petersen: Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft. Berlin: E. Schmidt 1976).   zurück
Stefan Neuhaus: Grundriss der Literaturwissenschaft. Tübingen, Basel: Francke / UTB 2003, S. XII.   zurück
Matthias Luserke-Jaqui: Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht / UTB 2002.   zurück
Heinz Ludwig Arnold / Heinrich Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München: dtv 1996.   zurück
In der von Pechlivanos, Rieger, Struck und Weitz herausgegebenen Sammlung einführender Aufsätze lautet die strukturierende Ordnung etwa: Grenzziehungen / Vermittlungsmodelle / Übersetzungsmodelle  / Entgrenzungen (Miltos Pechlivanos  / Stefan Rieger / Wolfgang Struck / Michael Weitz (Hg.): Einführung in die Literaturwissenschaft. Stuttgart: Metzler 1995).   zurück
Die Einführung von Jochen Vogt etwa setzt einen deutlichen sozialhistorischen Schwerpunkt (Jochen Vogt: Einladung zur Literaturwissenschaft, München: Fink  / UTB 1999), während sich die Einführung von Pechlivanos, Rieger, Struck und Weitz (siehe Anm. 5) zugunsten der Theorien und Methoden entscheidet.   zurück
Gérard Genette: Die Erzählung. Mit einem Vorwort herausgegeben von Jochen Vogt. München: Fink 1994.   zurück
Matias Martinez / Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München: Beck 1999.   zurück
Siehe Anm. 6.   zurück