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Pädagogische Anschlüsse an Luhmann

  • Dieter Lenzen (Hg.): Irritationen des Erziehungssystems. Pädagogische Resonanzen auf Niklas Luhmann. (stw 1657) Frankfurt / M.: Suhrkamp 2004. 235 S. Kartoniert. EUR (D) 10,00.
    ISBN: 3-518-29257-9.

Inhalt

Dieter Lenzen: Vorwort (S. 7–11)

Thomas Kurtz: Zur Respezifikation der pädagogischen Einheitsformel (S. 12–36)

Raf Vanderstraeten: Erziehung als Kommunikation. Doppelte Kontingenz als systemtheoretischer Grundbegriff (S. 37–64)

Annette Scheunpflug: Das Technologiedefizit – Nachdenken über Unterricht aus systemtheoretischer Perspektive (S. 65–87)

Frieda Heyting: Pragmatische Präsuppositionen als Indikatoren pädagogischer Reflexion (S. 88–121)

Harm Kuper: Das Thema ›Organisation‹ in den Arbeiten Luhmanns über das Erziehungssystem (S. 122–151)

Volker Kraft: Erziehung zwischen Funktion und Reflexion oder: die Erziehung der Erziehungswissenschaft (S. 152–171)

Alfred K. Treml: Evolution. Ein implizites Kapitel in Luhmanns Erziehungstheorie (S. 172–198)

Jochen Kade: Erziehung als pädagogische Kommunikation (S. 199–232)

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Luhmanns Irritationen

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Wer, aus den Mühen und quälenden Widersprüchen der pädagogischen Praxis kommend, Luhmann liest, wird irritiert sein von seinen Erkenntnissen. »Die Aneignung von Bildung,« heißt es beispielsweise, »macht den Menschen ungefährlich; sie entwaffnet ihn gewissermaßen.« 1 Wessen Offenheit dabei nicht restlos durch den Lärm des bürokratischen Alltags verschüttet worden ist, dem mögen Luhmanns zu Aphorismen verdichtete Aussagen als Erleuchtungen erscheinen. So hält er für diejenigen, die sich – von der Organisation von Vergleichsarbeiten bis zur Entwicklung von Bachelor- und Master-Studiengängen – in reformierenden Gremien wiederfinden oder vom reformerischen Elan über die schleichende Auszehrung der persönlichen Ressourcen getragen werden, die folgenden Aufklärungen bereit:

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Beobachtet man das jeweils reformierte System, hat man den Eindruck, daß das Hauptresultat von Reformen die Erzeugung des Bedarfs für weitere Reformen ist. Reformen wären demnach sich selbst generierende Programme für die Veränderung der Strukturen des Systems. Man scheint dies zu ahnen. [...] Daß die Reformer den Mut nicht verlieren, sondern nach einer Schwächephase neu ansetzen, mag damit zusammenhängen, daß die Strukturprobleme der unbewältigten Inkonsistenzen andauern. Auch wird typischerweise rasch vergessen, daß das, was man vorhat, schon einmal (oder mehrmals) versucht worden und gescheitert ist. Die wichtigste Ressource der Reformer scheint daher eine Leistung des Systemgedächtnisses zu sein, nämlich das Vergessen. 2
[4] 

Aber die Systemtheorie, obwohl moralphilosophische Bindungen eher scheuend, weiß auch zu trösten, wenn sie hinsichtlich seiner Professionalität dem gesamten Lehrberuf »die Gelassenheit« empfiehlt, »mit der der Lehrer Erfolge und Mißerfolge erträgt. Der Lehrer braucht nicht nur Mut, sondern auch Gleichmut – und für beides kollegiales Verständnis.« 3

[5] 

Schon der Titel des hier anzuzeigenden, von Dieter Lenzen herausgegebenen Bandes Irritationen des Erziehungssystems scheint nahezulegen, daß seine Autoren an die verstörende Aufklärung von Luhmanns Soziologie des Erziehungssystems anknüpfen. Sämtliche Beiträge gehen zurück auf eine Konferenz vom Februar 2002, die sich zum Ziel setzte, im Anschluß an Luhmanns 2002 von Lenzen veröffentlichte Schrift Das Erziehungssystem der Gesellschaft »einen Text- und Theorievergleich vorzunehmen und eine Nachzeichnung der Theorieentwicklung sowie eine Zuspitzung seines letzten, den Komplex Erziehung thematisierenden Buches auf Fragen hin zu versuchen, die buchstäblich an der Zeit sind.« (S. 7) Es ist allerdings genau dieser Anspruch auf theoretische Anschlußreflexionen, der den Beiträgen etwas von den Irritationen nimmt, die Luhmanns Beobachtungen zweifellos hervorgebracht haben. Insofern charakterisiert der Untertitel Pädagogische Resonanzen auf Niklas Luhmann eher die Anlage und Zielsetzung des Bandes.

[6] 

Im Sinne dieser Resonanzen bieten die Beiträge Rekonstruktionen von Luhmanns Reflexionen, Klärungen von systemtheoretischen Zuordnungen, systemtheoretische Reflexionen konkreter pädagogischer Probleme und Konstruktionen eigener Beobachtungsmodelle.

[7] 

Respezifikationen:
Profession und Organisation

[8] 

So widmet sich Kurtz der Frage, durch welche Formen die Einheit des Erziehungssystems respezifiziert wird und unterscheidet dabei drei Phasen: Luhmann geht zunächst davon aus, daß die Absicht zu erziehen die Einheit des Erziehungssystems konstituiere und daß diese Absicht sich in der Arbeit der Personen konkretisiere; die zweite von Luhmann vorgeschlagene Einheitsformel ist das Lernen von Lernfähigkeit, die ihre besondere Form im Lehrplan und der ihn ermöglichenden Schulorganisation gewinnt; die dritte generalisierte Formel rückt das Medium des Lebenslaufs in den Vordergrund, der die Orientierung am Kind ablöst, und damit die Absicht, Brauchbares für den Lebenslauf zu vermitteln.

[9] 

Der Respezifikation dieser Einheitsformel durch Profession und Organisation, die Luhmann in Das Erziehungssystem der Gesellschaft ausführlich behandelt, widmet Kurtz Überlegungen, die über Luhmann hinausgehen. Angesichts der Tatsache, daß Luhmann zumeist den Schullehrer im Blick hat, plädiert Kurtz hinsichtlich der Professionen dafür, die Beschreibung der pädagogischen Leitungsrollen auf Erzieher, Sozialpädagogen, Lehrkräfte in der Erwachsenenbildung usf. auszudehnen und damit für die Respezifikation des Lebenslaufs ein weiteres Spektrum zu gewinnen. In ähnlicher Weise macht Kurtz auf die Entgrenzung des Bildungssektors aufmerksam, der nicht mehr allein durch eine professionelle didaktische Wissensvermittlung beherrscht werde, sondern beispielsweise auch durch die mediale Wissensvermittlung. Luhmanns Konzentration auf die Schule, den Unterricht und den Lehrer setzt Kurtz in seinen abschließenden Überlegungen die Vorstellung eines Kernbereichs der Erziehung entgegen, der sich ergibt, wenn Interaktion, Organisation und Gesellschaft dem pädagogischen Primat folgen; von diesem Kernbereich sollte man pädagogische Kommunikationen ausnehmen, die sich in anderen Organisationen und Systemen manifestieren.

[10] 

Grundlegende Modifikationen des pädagogischen Denkens, wie sie Luhmanns Definitionen und Umdefinitionen der pädagogischen Einheitsformel initiiert haben, kann man von erweiterten Respezifikationen nicht erwarten, aber eben auch keine Irritationen. Daß Medien patchworkartig und nicht in didaktischen Sequenzen Wissen vermitteln, daß Wissen nicht nur in Schulen und durch Lehrer weitergegeben wird, sind Erkenntnisse, zu denen man leicht auch ohne den Aufwand systemtheoretischer Reflexionen gelangen kann.

[11] 

Doppelte Kontingenz

[12] 

Vanderstraeten eröffnet seine Überlegungen mit der systemtheoretischen Kritik am individualistischen Ansatz der Pädagogik, der verkenne, daß Bildung Verhaltenserwartungen an andere stelle. Von hier aus rekonstruiert er die bedeutsame Rolle, die der doppelten Kontingenz für die Interaktion zukommt. Wird diese Kontingenz bei Parsons durch kulturelle Normen und Traditionen, bei Habermas durch den kommunikativen Konsens aufgefangen, so radikalisiert Luhmann demgegenüber die Instabilität sozialer Interaktion, die durch die strukturelle Koppelung sozialer Systeme operationalisiert wird. In der erzieherischen Interaktion hat dies zur Folge, daß sie durch die Vielfalt der an ihr beteiligten Akteure die Kontingenz in einem Maße steigert, daß sie »von ihrer eigenen, selbst generierten Komplexität überfordert« (S. 63) wird. Diese Potenzierung von Instabilität gilt besonders, wie auch Kuper im selben Band hervorhebt, für den Unterricht, so daß sich die Frage stellt, in welchem Verhältnis unterrichtliche Interaktion zum organisatorischen Rahmen der Schule steht.

[13] 

Ausgehend von dem von Luhmann und Schorr diagnostizierten Technologiedefizit der pädagogischen Kommunikation 4 beschreibt Kuper einen für die Schule grundlegenden Konflikt: einerseits muß die pädagogische Interaktion sich mit den Effekten der Schulorganisation auseinandersetzen, andererseits muß die Organisation die Autonomie des Unterrichts und die (reform)pädagogische Skepsis gegenüber fremder Steuerung berücksichtigen. Dieser Antagonismus von Schulunterricht und Organisation prägt Luhmanns Beobachtungen zur respezifizierenden Rolle der Organisation, die Kuper rekonstruiert, bevor er die janusköpfige Rolle der Organisation in den Mittelpunkt eigener Überlegungen stellt. »Organisationen können«, so heißt es, »sowohl in die Interaktion als auch in die Gesellschaft hinein expandieren.« (S. 143 f.)

[14] 

Während Maßnahmen zur sogenannten ›Qualitätssicherung‹ und empirische Untersuchungen die Effekte und Ergebnisse didaktischen Handelns für das Interesse der sozialen Umwelt öffnen, dringt die Schulorganisation über pädagogische Programme in die interne Umwelt der unterrichtlichen Interaktion vor. Schließlich gibt Kuper die organisationsinterne Differenzierung in operative (Unterricht), reflektierende (Programm) und verwaltende Tätigkeiten (Schulleitung) zu bedenken, wobei die Eigenheit der Schule darin bestehe, daß die unterschiedlichen Tätigkeitsbereiche noch immer nicht in unterschiedlichen Berufsrollen ausdifferenziert werden.

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Erziehung als Evolution

[16] 

Kraft und Treml widmen sich besonderen Aspekten der Systemtheorie. Während Kraft aus soziologischer Perspektive das Verhältnis von Pädagogik und Erziehungswissenschaft zu bestimmen versucht und die Möglichkeit einer Selbstbeschreibung der Pädagogik als wissenschaftlicher Disziplin vorzeichnet, rekonstruiert Treml in einer präzisen Übersicht die Unterschiede zwischen einer Evolutionstheorie darwinistischer Herkunft und Luhmanns Begriff der Evolution sowie die Bedeutung der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien für den Mechanismus der Sinnselektion. Ziel dieser Anstrengungen ist der Vorschlag, erstens, Erziehung als Produkt der Evolution zu begreifen und, zweitens, den Prozeß der Erziehung als Evolution zu verstehen.

[17] 

Was den ersten Punkt betrifft, so hätte eine evolutionäre Pädagogik zu zeigen, wie sich die Praktik der Erziehung aus dem evolutionär gegebenen Faktum der Sozialisation entwickelt, und sie hätte die Geschichte der pädagogischen Ideen und des Erziehungssystems zu schreiben. Den Erziehungsprozeß als Evolution darzustellen würde bedeuten, ihn als eine »Strukturveränderung durch Variation, Selektion und Stabilisierung« (S. 193) zu beschreiben. Dem nicht-teleologischen, funktionalistischen Evolutionskonzept gemäß würde dies unter anderem darauf hinauslaufen, daß der Stellenwert von Planungen relativiert würde oder daß Erziehungsprozesse oder Lebensläufe auch in ihren Brüchen und Schleifen wahrgenommen würden. Erziehung als Evolution würde grundsätzlich nicht mehr Selbstformierung von innen heraus oder äußere Planung bedeuten, sie würde sich in systemtheoretischer Perspektive vielmehr realisieren »als Selbstselektion und Selbststabilisierung eines lernenden Systems durch Differenzerfahrungen in einer edukativ geplanten Umwelt« (S. 196).

[18] 

Kontingenz und Didaktik

[19] 

Sowohl Tremls evolutionäre Perspektive auf Erziehung als auch die bei Vanderstraeten und Kuper sichtbar werdende Instabilität der unterrichtlichen Interaktion zeugen von der Unverfügbarkeit des Lernens durch das Lehren. Diese Einsicht bildet den Ausgangspunkt für Scheunpflugs Skizzierung einer systemtheoretischen Didaktik. Deren Grunderfahrung besteht darin, daß der Verlauf einer Unterrichtsstunde nicht einer strengen Kausalität folgt und der Unterrichtserfolg weder planbar noch vorhersagbar ist. Wenn also das Unterrichtsgeschehen von Kontingenz beherrscht und das Unterrichten, wie Luhmann sagt, »ein opportunistischer Prozeß« 5 ist, welches Reflexionsangebot kann eine systemtheoretische Didaktik dann noch unterbreiten?

[20] 

Unter der Voraussetzung, daß Unterricht, verschiedene Systemreferenzen integrierend, den evolutionären Mechanismen von Variation, Selektion und Stabilisierung folgt, daß er als Interaktion unter Anwesenden wahrgenommen wird, daß er den Austausch über Themen bedingt und Leistungsbewertungen als Wahrnehmungen der Umwelt organisiert, zeichnet sich ein anderes Bild des Lehrens ab: es versteht sich, abstrakt gesprochen, als »nicht beliebige Kommunikationsofferte, deren Resonanz nicht determinierbar ist« (S. 84). Konkret gefaßt, meint dies, daß sich die Lehrkraft statt mit einer strengen Verlaufsplanung mit einem variablen Schema in den Unterricht begibt und das didaktische Handeln situativ an die Unvorhersehbarkeiten anpaßt. Scheunpflug faßt zusammen:

[21] 
Eine teleonome Theoriebildung verzichtet darauf, das Lernen auf zielgerichtetes Lehren zurückzuführen. Sie kultiviert die Erwartung von Vielfalt und macht misstrauisch gegenüber engen normativen Erwartungen. Eine teleonome Theoriebildung entlastet, da Lehrende sich damit nicht mehr für das Gelingen des Lehr-Lernprozesses allein verantwortlich fühlen müssen: Die Selektion von Bildungsofferten liegt nicht in ihrer Hand. Gleichzeitig werden aber auch klare Verantwortlichkeiten aufgezeigt; denn das Variationsangebot, die kommunikative Offerte liegt in ihrer Hand. (S. 86)
[22] 

Unterricht wäre also, wie Erziehung auch, auf einen zukunftsoffenen Prozeß einzustellen. Von einer solchen Annahme geht auch Freytings Beitrag aus, der in einem langen Anlauf die Pädagogik als Reflexionstheorie zu begründen sucht, um sich am Ende auf den konkreten Fall des Mitspracherechts von Kindern bei Ehescheidungen zuzubewegen.

[23] 

Erziehung als
pädagogische Kommunikation

[24] 

Der abschließende Beitrag von Kade stellt einen Grundriß der Erziehung als Kommunikation vor und versucht auf diese Weise Luhmanns Beobachtungen zu ergänzen. Die Voraussetzung bildet dabei die Beobachtung, daß die Erziehung ihren Adressaten zu erreichen sucht, aber nicht erreichen kann, da dessen Bewußtsein ein eigenes System bildet. Aus dieser Situation ergibt sich das Paradox der pädagogischen Kommunikation, die sich als Kommunikation an den Adressaten als Person wendet (und damit das empirische Individuum ausschließt) und als pädagogische Kommunikation das konkrete Individuum anspricht.

[25] 

Kade faßt diese Paradoxie auch so, daß das unerreichbare psychische System als Ausgeschlossenes in das soziale System eingeschlossen ist. Diese Doppelung setzt sich fort in den Paarungen von Sozialisation und Erziehung, Vermittlung (des zu Kommunizierenden vom sozialen an das psychische System) und Aneignung (des Kommunizierten durch das psychische System, wobei diese Aneignung nur beobachtbar ist, sofern sie sich in der Kommunikation und nicht individuell vollzieht). Systemtheoretisch gesprochen heißt dies: »Die Unterscheidung Vermitteln/Aneignen ist das Resultat des Hineinkopierens der System-Umwelt-Unterscheidung soziales/psychisches System in die pädagogische Kommunikation.« (S. 207)

[26] 

Kade setzt die Reihe der paradoxen Doppelungen fort mit den Operationen der Vermittlung (Didaktik) und der gesellschaftlichen Selektion, den entsprechenden Codierungen vermittelbar / nicht-vermittelbar und besser / schlechter sowie den Medien Kind (Abschließung) / Lebenslauf (Zukunftsoffenheit), Wissen / Lebenslauf, Biographie (Selbstreferenz, Vermittlung) / Karriere (Fremdreferenz, Selektion).

[27] 

Schließlich wird die pädagogische Kommunikation selbst, wie Kade voraussieht, eine doppelte Form annehmen. Neben dem Interaktionssystem Unterricht, das als Kommunikation unter Anwesenden charakterisiert ist, hat sich nämlich immer stärker die mediale Kommunikation etabliert, in der die Kommunizierenden körperlich abwesend sind, so daß sich die Aneignung von der Vermittlung abkoppeln kann. Die größere Freiheit des Adressaten, das Angebotene abzuweisen, kompensieren die Medien durch stärkere moralische Appelle, zugleich befreien sie die pädagogische Kommunikation von der Unruhe unterrichtlicher Interaktion. Für die Zukunft sieht Kade eine Verschränkung von Unterricht und Medien voraus, die möglicherweise die neue systeminterne Unterscheidung Vermittlung / Verbreitung produziert.

[28] 

Kontingenz und Steuerung

[29] 

Für die Systemtheorie und ihre pädagogischen Reflexionen liefert der Band ohne Frage eine Reihe wertvoller Erweiterungen und Klärungen und stützt damit einen Diskurs, dessen Erkenntnisse unverzichtbar für eine Diagnose der ›postmodernen‹ Situation von Erziehung und Unterricht sind. Gleichzeitig versteigen sich einige Beiträge in ihrem Bemühen um gründliche theoretische Differenzierungen zu langen Reflexionsketten, die ihr pädagogisches Thema aufschieben, aus dem Blick zu verlieren drohen oder nur Bekanntes reformulieren.

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Worin nun könnte das pädagogische Interesse an den systemtheoretischen Beobachtungen zum Erziehungssystem liegen? Lenzen erkennt es, vor dem Hintergrund unverkennbarer »Verwerfungen« in den deutschen Erziehungsinstitutionen, in einer »Wende zu systemtheoretisch aufgeklärten Entscheidungen im Bildungssystem« (S. 11). Hierzu dürfte in grundlegender Weise auch die stärkere Berücksichtigung der Kontingenz in der pädagogischen Kommunikation und im Unterricht gehören. Es stellt sich dabei allerdings die Frage, ob die Kontingenz eine beobachtete Tatsache darstellt oder ob ihre stärkere Geltung nicht auf eine historisch bedingte Umwertung zurückzuführen ist. Die ›alte‹ Pädagogik hat die Kontingenz nicht verkannt, sie wollte sie bewußt regieren, während die ›neue‹ Pädagogik ihr einfach mehr Raum gibt und damit gezwungen ist – und darauf will Lenzen hinaus –, ihr andere (wahrscheinlich bürokratischere) Steuerungssysteme an die Seite zu stellen. Aber diese vielleicht nur die pädagogische Praxis irritierende Frage liegt jenseits des Anspruchs, den der anzuzeigende Band an sich stellt.



Anmerkungen

Niklas Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Hg. Dieter Lenzen, Frankfurt / M. 2002, S. 18.   zurück
Ebd., S. 166–167.   zurück
Ebd., S. 152.   zurück
Vgl. Niklas Luhmann / Karl Eberhard Schorr: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem. Frankfurt / M. 1988.   zurück
Luhmann, Das Erziehungssystem, S. 104.   zurück