Monika Sproll

Über die Disziplinierung der Einbildungskraft




  • Jörn Steigerwald / Daniela Watzke (Hg.): Reiz - Imagination - Aufmerksamkeit. Erregung und Steuerung von Einbildungskraft im klassischen Zeitalter (1680-1830). Würzburg: Königshausen & Neumann 2003. 279 S. Kartoniert. EUR 24,00.
    ISBN: 3-8260-2313-7.


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Mit vierzehn Untersuchungen liegt nun der Tagungsband Reiz – Imagination – Aufmerksamkeit. Erregung und Steuerung von Einbildungskraft im klassischen Zeitalter (1680–1830) vor, zu dem die Medizinhistorikerin Daniela Watzke und der Romanist Jörn Steigerwald im Rahmen der Forschergruppe von Rudolf Behrens »Imagination und Kultur« am 25.–27. Oktober 2001 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus geisteswissenschaftlichen und naturhistorischen Disziplinen in Bochum versammelt haben.

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Leitend für diesen aus den Diskussionen der Tagung folgenden Sammelband war die Frage nach »Regulierung und Deregulierung« (S. 8), die sich an der Kategorie Imagination in den untersuchten Konzepten aus 150 Jahren europäischer Geistesgeschichte aufzeigen lassen. In ihrem Vorwort geben die Herausgeber eine thesenhafte Einführung und leisten eine Problemorientierung der Leser, anhand deren die Verhältnisbestimmung des Einzelbeitrags zum Großthema leicht hergestellt werden kann.

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Regulatives Wechselspiel von Reiz,
Imagination und Aufmerksamkeit

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Die Herausgeber entwerfen in ihrem Vorwort die programmatische These »von einem regulativen Wechselspiel von Reiz, Imagination und Aufmerksamkeit« (S. 8), wobei die Modulationen in der Theoriegeschichte der Einbildungskraft mit dem »Kräftefeld von Reiz und Aufmerksamkeit« (S. 7) in engem Zusammenhang stehen. Vor diesem Hintergrund ist die interdisziplinäre Ausrichtung des Bandes sehr erfreulich und absolut notwendig, können doch der anthropologische, der ästhetische und der medizinische Diskurs nur zusammen verhandelt werden. Eine rein ästhetikgeschichtliche Behandlung der Einbildungskraft schnitte denn auch die Virulenz der Leitthesen ab. So soll die Erforschung der »Inauguration der Ästhetik als Disziplin« (S. 7) der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der Aufarbeitung der medizinischen wie anthropologischen und philosophischen Konstruktionen der Kategorien Aufmerksamkeit und Reiz verbunden werden, damit so die spezifischen Theoriebindungen der Einbildungskraft herausgestellt werden können. Denn die Herausgeber versprechen sich im Blick auf das ästhetikgeschichtliche Interesse der literarischen Anthropologie eine Klärung »aller Überlegungen über den Menschen« (S. 7) erst aus einer Rekonstruktion dieses vorgängigen bzw. simultanen Theorieumbaus, in dem die Einbildungskraft in ein Gefüge mit Reiz und Aufmerksamkeit eingelassen ist.

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Damit geht eine historische und an (dem späten) Foucault orientierte Auffassung des Subjekts im Ausgang des 18. Jahrhunderts einher: Zwischen neuen Weisen der Selbstermächtigung und neuen Ohnmachten im Selbstverlust nach Ausgleich pendelnd, ergebe sich für das Subjekt ein Handlungsfeld, das seine Natur durch Kontrolle zu stabilisieren suche und dafür eine Ethik der Selbstsorge entwerfe und zugleich, diese entgrenzend, sein Selbst auch in den nun dem pathologischen Handlungsraum zugeschlagenen (Schreib-)­Praxen mit »neue[n] Erlebniswelten und Erfahrungen« (S. 8) zu genießen erlerne.

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Die Herausgeber fokussieren diese Doppelbewegung von anthropologischer Kontrolle und ihrem Umschlag in Entgrenzungen vor dem Hintergrund eines diesem Zeitraum zugeschriebenen Prozesses der Normierung, der auch als Normalisierung des Menschen angesehen werden müsse. Beispiele für die im Diskurs über den Menschen als »Kippphänomene« (S. 9) ästhetisch erkundeten Grenzphänomene seien der Schwindel, aber auch Ekel, Schmerz, Verbrechen, Laster und sexuelle Perversionen. Diese Hypothese verstehen die Herausgeber als für die Literaturgeschichtsschreibung insofern richtungsweisend, als sie die Kippphänomene im Normensystem des Klassizismus verankert ansehen. Es seien diese, die den Klassizismus aus sich selbst heraustreibend fortsetzten und aus denen der Klassizismus »das transgressive Potential der Künste« (S. 9) entfalte. Zumindest aus germanistischer Perspektive erscheint diese Ableitung nicht gerade zwingend und zu monokausal formuliert – führten doch die Strittigkeit wie das Einvernehmen von klassizistischen und romantischen Literaturen zum literaturhistorischen Beschreibungsmodell von komplementär aufeinander bezogenen ästhetischen Konzepten. Doch auch von den Herausgebern wird schon eigens auf vorlaufende literarische Diskursivierungen wie auf die Karriere gerade dieser Phänomene in der Romantik, noch mehr aber in der Klassischen Moderne verwiesen. Die obige Vereinfachung diente denn wohl auch nur der interdisziplinären Zuspitzung.

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In vier Leithypothesen verankern die Herausgeber abschließend den wissenschaftlichen Problemhorizont der Einbildungskraft, die meist mehr, zuweilen weniger den Denkraum der folgenden Beiträge skizzieren:

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• Der Aufmerksamkeit kommt eine Zentralstellung von der Neuzeit bis in die Romantik zu.

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• Die Untersuchung von Reiz und Aufmerksamkeit bedarf der Präzisierung im Hinblick auf ihre semantischen Felder.

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• Die Konzepte müssen unter Einbezug der Medialität und der kommunikativen Formen untersucht werden, in denen sie entworfen wurden.

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• Aus dem Gefüge von Reiz und Aufmerksamkeit ergeben sich stets Bedingungen für die Subjektivation.

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Die Beiträge des ausgesprochen vielseitigen und methodisch wie in der Durchführung auf hohem wissenschaftlichem Niveau angesiedelten Bandes lassen sich dem interdisziplinären Anspruch entsprechend gruppieren in eher problemorientierte großflächige Studien und in Einzelfallanalysen, die jedoch fast immer von einem weiteren Fokus gerahmt sind. Es sei zunächst ein Überblick gegeben:

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• Jörn Steigerwald: Die Normalisierung des Menschen. Eine anthropologische Problemskizze am Beispiel der Mesmerismusdiskussion des Jahres 1784, S. 13–40.

[14] 

• Hans Adler: Bändigung des (Un)Möglichen: Die ambivalente Beziehung zwischen Aufmerksamkeit und Aufklärung, S. 41–54.

[15] 

• Barbara Thums: Aufmerksamkeit: Zur Ästhetisierung eines anthropologischen Paradigmas im 18. Jahrhundert, S. 55–74.

[16] 

• Holger Wille: Inwiefern ein Empirismus kein Empirismus bleiben kann – Zu David Humes Theorie der Imagination im Traktat über die menschliche Natur (1739 / 40), S. 75–89.

[17] 

• Gabriele Ribémont: Von Reiz zu Reiz: Die ›inconstance‹ zwischen Humoralpathologie und sensualistischem Experiment: Venette – Marivaux, S. 91–103.

[18] 

• Jörn Steigerwald: Vom Reiz der Imagination. Theorie und Praxis der Einbildungskraft im Feld der Sexologie: das Beispiel La Mettrie, S. 105–125.

[19] 

• Ingo Stöckmann: Anthropologie und Zeichengemeinschaft: Schillers Grammont-Berichte, S. 127–145.

[20] 

• Andreas Gipper: Neugier und Interesse in der französischen Physikotheologie am Beispiel des Spectacle de la nature des abbé Pluche, S. 147–164.

[21] 

• Natascha Adamowsky: Das Wunderbare als gesellschaftliche Aufführungspraxis: Experiment und Entertainment im medialen Wandel des 18. Jahrhunderts, S. 165–185.

[22] 

• Hans Körner: Die Erziehung der Sinne: Wahrnehmungstheorie und Gattungsgrenzen in der Kunstliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts, S. 187–201.

[23] 

• Carsten Zelle: Erfahrung, Ästhetik und mittleres Maß: Die Stellung von Unzer, Krüger und E. A. Nicolai in der anthropologischen Wende um 1750 (mit einem Exkurs über ein Lehrgedichtfragment Moses Mendelssohns), S. 203–224.

[24] 

• Gabriele Dürbeck: ›Reizende‹ und reizbare Einbildungskraft: Anthropologische Ansätze bei Johann Gottlob Krüger und Albrecht von Haller, S. 225–245.

[25] 

• Daniela Watzke: Hirnanatomische Grundlagen der Reizleitung und die »bewusstlose Sensibilität« im Werk des Hallenser Klinikers Johann Christian Reil, S. 247–267.

[26] 

• Michael Kutzer: Stimulation, Regulation, Repression: Reiz als zentraler Begriff der frühen Psychiatrie, S. 269–279.

[27] 

Zur Datierung der anthropologischen Wende

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Mit seinem Aufsatz »Erfahrung, Ästhetik und mittleres Maß: Die Stellung von Unzer, Krüger und E. A. Nicolai in der anthropologischen Wende um 1750 (mit einem Exkurs über ein Lehrgedichtfragment Moses Mendelssohns)« kann Carsten Zelle nochmals seine These einer Vordatierung der anthropologischen Wende von der Spätaufklärung um eine Generation auf die Zeit um 1750 trefflich belegen. 1 Nicht Platner habe mit seiner Anthropologie für Ärzte und Weltweise 1772 den systematischen Umschlag zur Begründung der Anthropologie als Wissenschaft geleistet, vielmehr habe er angeschlossen an die Vorleistungen des Halleschen Kreises um Krüger, Unzer, Bolten und E. A. Nicolai. Detailliert und in einer Reihe anschaulicher Schemata, zeigt Zelle, wie Platner bis in den Aufbau seiner Anthropologie der Systematik eines »dreistellige[n] Dispositionsschema[s]« (S. 221) einer durch Seelen-Wissenschaft und Physiologie eingerahmten Wissenschaft des ›commercium mentis et corporis‹ bei Unzer und Nicolai folgt. Es liege damit eine ideengeschichtliche Kontinuität zwischen Früh- und Spätaufklärung vor, die zwar bislang für die Erforschung der Spätaufklärung dienlich gewesen sei, mit »der Dramatisierung eines Epochenbruches« (S. 207) in der Aufklärung aber die Vorbedingungen der Platnerschen Innovation notwendig verfehlt und damit das angebrachte Forschungsinteresse an der Früh- und Hochaufklärung untergraben habe. 2

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Mit der Erforschung der Kontinuitäten ist eine differenziertere Bewertung von Platners Leistung möglich: Platner komme gleichwohl die Auszeichnung des Commercium-Gedankens als eigentlicher Inhalt der Anthropologie zu, mit der er auch das konsequente Programm für die interdisziplinäre Ausbildung des philosophischen Arztes entwickelt habe. Doch systematisch zeige sich nach Erforschung der Halleschen Wissenschaft eine zweite Leistung Platners, die in einer Zurückweisung des »doppelten Reduktionismus« (S. 204) der nachcartesianischen Philosophie liege: Indem Platner eine Verbindung der Aufteilung der ›res-extensa‹-Wissenschaften Anatomie und Physiologie und der ›res-cogitans‹-Wissenschaften Logik, Ethik und Ästhetik auf dem Boden seiner Influxus-Lehre schaffte und beide Bereiche integrativ in den Wissenskanon des neuen Universalgelehrten einspeise, könne die Anthropologie überhaupt erst den Rang einer Universalwissenschaft annehmen und mit dem paradigmatischen Bild eines ›ganzen Menschen‹ ein neues Menschenbild etablieren.

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Für die Erforschung der Halleschen Vorläufer stellt Zelle ein Set von vorrangigen Forschungsparadigmen vor: Aufwertung der Affektenlehre und der Ansicht des Willens, Rezeption der Wolffschen Mathematik bei Hoffmann und seinen Schülern, Stahls Influxuslehre, Organismusdenken und seine Empirienähe, die Arbeit der Seelsorge des Einzelnen sowie christlich-anthropologische Implikationen des Halleschen Pietismus. Ergänzend zu diesen ideengeschichtlichen Kontinuitäten fordert er »doxologische [...], institutionelle [...], soziale [...] wie intertextuelle [...] Isomorphien« (S. 208) als Schwerpunkte einer Neuverortung des Platnerschen Programms ein. Zelle führt in zwölf darauf folgenden Kriterien die Virulenz seiner Fragestellung für die künftige Forschung aus, die den »transpersonalen Diskurs« der Hallenser als Vorläuferdiskurs von Platner verdeutlichen könnten.

[31] 

In der anschließenden Untersuchung von Johann Christian Boltens Gedanken von den psychologischen Curen von 1751 sowie einem Exkurs zu einem Lehrgedichtfragment Moses Mendelssohns als Beigabe eines Briefes an Lessing aus dem Jahr 1757 beschäftigt sich Zelle näher mit einem der genannten Kontinuitätskriterien: der »Besinnung auf das Ideal der Mesoteslehre, d.h. der Optimierung der Sinne und Moderierung der Affekte in einer Mittellage« (S. 209). Entgegen dem bisherigen Forschungsstand kann Zelle für die Hallesche Aufklärung das Programm einer »Diätetik der Einbildungskraft« (S. 213) wirklich ausführen 3 , die sich gegen die neostoizistische Affektnegation wende und in der die Tradition der Mesoteslehre und der Humoralpathologie fortgesetzt sei. Zelle sieht in den Theorien der Ästhetik als sinnlicher Erkenntnis, der Affektenlehre, in der Diätetik und der Entwicklung von psychologischen Kuren Techniken der Selbstsorge präformiert, wie sie ähnlich der späte Foucault darstelle – hier finden wir die These aus Steigerwalds und Watzkes Vorwort in differenzierter Darstellung am Material selbst entwickelt wieder.

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Der frühaufklärerische anthropologische Umgang mit Affekten sei nicht als repressive Unterdrückung und völlige Abkehr von einer immer falschen Vernunft anzusehen, vielmehr gehe es um eine Umgangsweise des Menschen mit seiner Doppelnatur, die nie ohne Führung und d.h. Regulierung auskommen und deshalb im Prinzip des Maßhaltens zwischen Extremen an dem aristotelischen Tugendbegriff Anlehnung finden könne. Die alte Kulturtechnik Selbstsorge sei als wache Tradition der Frühaufklärung zu begreifen. Zelle zeigt die Argumentationsfigur des Maßes zwischen Extremen jedoch nicht nur als strukturbildend bei der Theoriebildung auf, darüber hinaus wirke sie als ein »Dispositiv« (S. 219) der gegenseitigen Standortbestimmung unter den Gelehrten, in der der als der Mittlere zwischen zwei Gelehrten Bezeichnete stets der ausgezeichnete Wissenschaftler ist. Zelles Untersuchung hält noch viele weiterführende Fäden in der Hand. Sie ist außerordentlich materialreich und betreibt bei weit übertreffender Komplexität die Korrektur einer in der Forschung immer wieder durchschlagenden Fehleinschätzung, dergemäß in der Aufklärung der Sinnlichkeit durch vermeintlich totalitäre Konzepte der Vernunft ihre Anerkennung verweigert worden sei.

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Die Aufmerksamkeit
als Grundlagenwissenschaft

[34] 

In ihrem Beitrag »Aufmerksamkeit. Zur Ästhetisierung eines anthropologischen Paradigmas im 18. Jahrhundert« verschränkt Barbara Thums ein kulturhistorisches Interesse mit einer Einzelanalyse des Selbsterkundungsberichts Eigene Lebens-Beschreibung von Adam Bernd. Ihre Untersuchung zeigt das Paradigma der Aufmerksamkeit darüber hinaus als fruchtbar für die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit den Übergängen klassizistischer zu romantischen Ästhetiken. Thums stellt zunächst eine Wechselbegründung von Anthropologie und Ästhetik um 1750 heraus, die sich anhand der Kategorie der Aufmerksamkeit sowohl als Regulativ als auch als Möglichkeit zur Entgrenzung des Ausgewogenheitsideals in den schönen Künsten entfaltet habe. Voraus gehe eine Wende in der Bewertung der unteren Erkenntniskräfte, die im deutschen Idealismus und speziell bei dem Fichte nahestehenden Platner zu einer Konjunktur und systematischen Breite der willkürlichen Erkenntnisakte geführt habe, auf deren Basis die Beschäftigung mit der Aufmerksamkeit als neue »Grundlagenwissenschaft« (S. 57) entstehe.

[35] 

Aus der sich daraus ergebenden Problematik, in der der Mensch Herrscher einer ihn gleichwohl unterlaufenden Irrationalität ist, folgen nun, wie Thums hervorhebt, nicht nur die Diskurse um »die Melancholie, die Hypochondrie, das mystische Schwärmertum, die Onanie oder den Wahnsinn«. Sie bekräftige gleichermaßen die Dignität der altehrwürdigen Disziplin der Diätetik, die im Zentrum der Selbstbetrachtung Bernds verhandelt und auf ihre Tragfähigkeit getestet werde. Wenngleich Thums diese Verortung Bernds sowohl auf der expliziten wie impliziten Diskursebene des Textes schlüssig nachweisen kann, so wäre es jedoch instruktiv gewesen, hätte sich Thums in die Diskussion mit dem Forschungsbeitrag Pfotenhauers zu Bernd begeben, der Bernd an den Beginn der Geschichte autobiographischen Erzählens in Deutschland stellt. 4 Dies um so mehr, als Pfotenhauer Bernd ebenfalls für die Etablierung eines literaturwissenschaftlichen Paradigmas nutzt, der Erforschung und Etablierung einer literarischen Anthropologie, und die Introspektion Bernds für eine literaturhistorische Gattungstheorie des autobiographischen Romans nutzbar macht. Sichtbar wird jedoch im Kontrast zu Pfotenhauer an Thums’ Lektüre, dass Bernd sehr viel weitreichender die Theorieangebote seiner Zeit sowohl auf sich selbst angewendet wie auch in der Reflexion auf seine Körperlichkeit als »ein regelrechtes Ideeninstrument« (S. 62) sogar überstiegen hat, wodurch an seinem Text der Begründungszusammenhang zwischen Ästhetik und Anthropologie sehr differenziert und in komplexen Filiationen als Entstehungskonnex der Autobiographie aufgeschlossen werden kann.

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Thums führt mit diesem Beispiel sehr schön an die folgenden beiden literaturhistorischen Untersuchungsteile heran; auch im Anschluß an das ideengeschichtliche Konzept der ästhetischen Bildung anhand Georg Friedrich Meiers Philosophischer Sittenlehre und Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften kann sie die Argumentationslinie der Begrenzung durch die und der Grenze der Aufmerksamkeit am Programm eines Strebens nach Glückseligkeit und Vollkommenheit genetisch entwickeln. Sie zeigt an Karl Philipp Moritz’ Ästhetik stringent, wie die Ästhetik an dieser Folgelast trägt, insofern das überkommene antike Schönheitsideal nurmehr auf der Basis einer die Aufmerksamkeit selektierenden und auf ein mittleres Maß zentrierenden Meisterschaft des Künstlers gehalten werden kann. Die klassizistische Ästhetik selbst impliziere mit diesem inneren Widerspruch, wo die Ansicht des ›ganzen Menschen‹ den Zwang, ihn teilweise auszugrenzen, mit sich bringe, und das Vollkommenheitsideal daher von innen heraus korrumpiert werde, die Grundlagen der romantischen ästhetisch-philosophischen Theorie, in der der willkürlichen wie der unwillkürlichen Aufmerksamkeit – beispielsweise in Novalis’ »Prinzip der Wechselrepräsentation« (S. 73) – ein neuer poetologischer Status zukomme.

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Reil als Begründer der Psychosomatik
und der Therapie des Psychodramas

[38] 

Mit dem Beitrag »Hirnanatomische Grundlagen der Reizleitung und die bewusstlose Sensibilität im Werk des Hallenser Klinikers Johann Christian Reil« von Daniela Watzke soll nun noch einer der drei Beiträge der beiden Herausgeber vorgestellt werden. Die Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften gehört meist nicht zu den Grundlagen, die ein geisteswissenschaftliches Studium mit sich bringt. Umso erfreulicher und überaus erfolg- und lehrreich ist es daher, wenn sich die Wissenschaftsgeschichte der ›Natur‹ mit der des ›Geistes‹ zusammentut. Beim Thema dieses Bandes ist dies jedoch Pflicht, wollen Anliegen wie das der Physiologie, der Influxuslehre, des Reizes sowie das grundlegende anthropologische Interesse, die faktische Verbindung von Körper und Geist, auf die wissenschaftliche Erörterung ihrer Zeit rückgeführt werden.

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Watzkes Arbeit betreibt eine gut fundierte und für die Geschichte der Psychotherapie bedeutsame Aufwertung des Mediziners Reil. Nach einer Einordnung seiner Theorie einer »zerstreute[n] Seele« (S. 248) in Bezug auf die konkurrierenden Theorien zum Seelenorgan von Thomas Willis und dem in der Forschung inzwischen recht gut bekannten Samuel Thomas Soemmering sowie einer Abgrenzung von Reils Interesse an der Funktion und weniger am Bau der Nerven von den Theorien Felice Fontanas und Alexander Monroes wird deutlich, dass Reil aufgrund eines medizinischen Befunds, den er in seiner Arbeit Ueber die Eigenschaften des Ganglien-Systems und sein Verhältnis zum Cerebral-Systeme vorgelegt hat, von einem hierarchisch gegliederten Verhältnis eigentlich zweier anatomisch vage bestimmbarer Seelenorgane ausgeht.

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Reil umgehe damit das aporetische Erklärungsschema des »Leib-Seele-Dualismus« zugunsten eines »bipolaren Modells zweier gleichzeitig existenter, aber hierarchisch nicht gleichwertiger Seelen« (S. 254), das es ihm in der Folge erlaube, psychosomatische Prozesse erstmals zu beschreiben. Störungen im Informationshaushalt der Nervenbahnen zwischen diesen beiden Seelen seien als ursächlich für Krankheitszustände wie den Somnambulismus oder die Hypochondrie anzusehen. Bemerkenswert ist, wie Watzke zu zeigen versteht, dabei vor allem die Funktionserweiterung der Einbildungskraft, insofern Reil diese nicht mehr nur für pathologische Zustände verantwortlich macht, sondern sie umgekehrt sogar als Dreh- und Angelpunkt von Heilungsmöglichkeiten rehabilitiert. Mit ihrer Darstellung des schon fast psychotherapeutisch zu nennenden Heilungsmodells Reils, der den psychisch Kranken wie im Psychodrama mit einem theatralisch ermöglichten Ausagieren seiner Imaginationen zur Unterscheidung von Realität und Phantasie zurückverhelfen wolle, widerspricht Watzke mit Recht der bisherigen Forschung, die die Bedeutung von Reils Ganglien- und Cerebraltheorie als ein Mix aus Zufallsbeobachtungen und romantischer Erfindung verkannt hat, und würdigt Reil als Vorläufer der psychotherapeutischen Praxis des Psychodramas und der Erkenntnis psychosomatischer Prozesse.

[41] 

Fazit

[42] 

Der Sammelband belegt seine Bedeutung – gerade auch in Bezug auf die eingangs erläuterten Forschungshypothesen des Vorworts – mit jeder einzelnen Studie. Sehr zu loben ist auch die detaillierte und faire Auseinandersetzung mit Forschungspositionen – von einem Nachtreten Ingo Stöckmanns gegen Wolfgang Riedel und die Vertreter des literaturwissenschaftlichen Programms der literarischen Anthropologie einmal abgesehen, mit dem doch ohnehin nur der allgemeinen Kürzungspolitik Vorschub geleistet wird (S. 145) 5 – und die präzise Explikation und damit Transparenz der Forschungsinteressen. Alle Beiträge sind trotz des hohen Komplexitätsgrades ihrer Inhalte in einer leicht lesbaren klaren Wissenschaftsprosa verfasst und sind – dies ist auch an den zahlreichen Abbildungen bzw. Schemata erkenntlich – um die Möglichkeit zum Nachvollzug und zur Diskussion bemüht.

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Leider, und hier kommt denn doch ein Bedauern hinzu, weist der Band redaktionelle Mängel auf. Es findet sich die ganze Bandbreite möglicher Versehen. 6 Dies gelassen aufzunehmen verlangt angesichts der Textmenge und dem mühseligen Geschäft der Redaktion wirklich nicht viel. Jedoch die zweimalige Konfusion in den Fußnoten im Beitrag Ribémont und eine weitere im zweiten Beitrag Steigerwalds erschweren vor allem im schönen Beitrag von Ribémont eine ungestörte Lektüre und nur mit Anstrengung vermag man sich hier die passende Angabe zum Zitat bzw. weiterführende Hinweise zu beschaffen.

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Das letzte Wort gilt aber der Leistung der beiden Herausgeber Jörn Steigerwald und Daniela Watzke, die ein spannendes und sehr anspruchsvolles Thema in diesen gelungenen Sammelband verwandelt haben.


Monika Sproll, M. A.
JLU Gießen
Graduiertenkolleg »Klassizismus und Romantik im europäischen Kontext«
Otto-Behagel Str. 10 G
DE - 35394 Gießen

Ins Netz gestellt am 08.11.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Stefan Matuschek. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.

Empfohlene Zitierweise:

Monika Sproll: Über die Disziplinierung der Einbildungskraft. (Rezension über: Jörn Steigerwald / Daniela Watzke (Hg.): Reiz - Imagination - Aufmerksamkeit. Erregung und Steuerung von Einbildungskraft im klassischen Zeitalter (1680-1830). Würzburg: Königshausen & Neumann 2003.)
In: IASLonline [08.11.2004]
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Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Carsten Zelle: Sinnlichkeit und Therapie. Zur Gleichursprünglichkeit von Ästhetik und Anthropologie um 1750. In: Ders. (Hg.): »Vernünftige Ärzte«. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Tübingen: Niemeyer 2001, S. 5–24.   zurück
Zelle kann hier auf seine Vorarbeit mit dem Reprint von Johann August Unzers Neue Lehre von den Gemüthsbewegungen, mit einer Vorrede vom Gelde begleitet von Herrn Johann Gottlob Krügern zurückgreifen und weiß sich außerdem u.a. den Studien zur »›Halleschen Konstellation‹«(S. 207) von Johann Geyer-Kordesch und Wolfram Mauser verpflichtet (Johanna Geyer-Kordesch: Die Psychologie des menschlichen Handelns. Psychologie, Medizin und Dramentheorie bei Lessing, Mendelssohn und Friedrich Nicolai. Mass. Univ. of Massachusetts: Amherst 1977; Wolfram Mauser: Konzepte aufgeklärter Lebensführung. Literarische Kultur im frühmodernen Deutschland. Königshausen & Neumann: Würzburg 2000).   zurück
Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. Wilhelm Fink Verlag: München 1999 und Matthias Luserke: Funktion und Wirkung der Literatur im 18. Jahrhundert. Versuch einer diskursanalytischen Lektüre des Trauerspielbriefwechsels zwischen Lessing, Mendelssohn und Nicolai. In: Das achtzehnte Jahrhundert 17 (1993), S. 15–27.   zurück
Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes. J. B. Metzler: Stuttgart 1987, S. 55–76.   zurück
Stöckmann verweist auf seine eigentlich polemische Kritik an Riedel (S. 145). Sachdienlich und konstruktiv scheint mir eine Kritik dann, wenn sie einer anderen Position möglicherweise scharf, aber doch mit Anerkennung der Leistungen derselben begegnet. Vgl. Ingo Stöckmann: Traumleiber. Zur Evolution des Menschenwissens im 17. und 18. Jahrhundert. Mit einer Vorbemerkung zur literarischen Anthropologie. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 26 (2001), H. 2, S. 1–55, hier 4–15.   zurück
Um einige Beispiele zu nennen: neben verschluckten (Inhaltsverzeichnis »Einbildngskraft«, S. 6) oder verdrehten Buchstaben (S. 99: in der Zwischenüberschrift »Miravaux« statt Marivaux) findet sich der einfache, aber folgelastige Tippfehler (S. 100: »es« statt er »sei mehr wert«) sowie ein fixierter (S. 91 »Gefühls-konzeption«) wie auch ein falscher Trennstrich (S. 144 »Bes-chwerden«) und die fehlende Kursivierung (Inhaltsverzeichnis S. 6: Daniela Watzke).   zurück