Dirk Baldes

Mehr als nur »Krankheit zum Tode«:
Goethes Melancholiemodelle




  • Thorsten Valk: Melancholie im Werk Goethes. Genese - Symptomatik - Therapie. (Studien zur deutschen Literatur 168) Tübingen: Max Niemeyer 2002. VIII, 327 S. Kartoniert. EUR 48,00.
    ISBN: 3-484-18168-0.


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Das Problem des Zugangs

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Es gehört Mut dazu, heutzutage eine autorzentrierte Dissertation über Goethe zu schreiben. Zu vielseitig sind die bereits vorliegenden und längst bearbeiteten Untersuchungsgegenstände, zu umfassend auch die Forschungsliteratur, als dass eine grundlegend neue Interpretationsrichtung eingeschlagen werden könnte. Das Problem moderner Untersuchungen gerade zu einem Autor wie Goethe liegt auf der Hand: Die Suche nach thematischen Nischen gestaltet sich als eine äußerst schwierige Angelegenheit, und der »neue« Ansatz wird es schwer haben, sich als besonders innovativ zu erweisen.

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Dieser Problematik ist sich Thorsten Valk durchaus bewusst, und seine Mühe, nicht allzu stark ausgetretene Pfade zu gehen, deutlich erkennbar. So weist er bereits vorsorglich in seinem einführenden Kapitel darauf hin, dass die »fundamentale Bedeutung der Melancholie für Goethes Dichtung [...] in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt ins Blickfeld der Kulturwissenschaften getreten« (S. 11) sei. Aufgrund der vielseitigen, wenn auch nur fragmentarischen Beschäftigung zum Thema »Melancholie bei Goethe« kann es also nicht ausschließlich darum gehen, melancholische Elemente bloß nachzuweisen. Vielmehr muss über den akkumulativen Wert hinaus die primäre Fragestellung einer solchen Untersuchung sein, inwiefern dieser Melancholie-Konzeption eine strukturbildende, ja vielleicht sogar poetologische Funktion in Goethes Œuvre zukommt. Die Frage, ob von einem über die Konstatierung melancholischer Elemente hinaus weisenden Erkenntnisgewinn die Rede sein kann, wird zwar gestellt, bleibt aber weitgehend unbeantwortet.

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Historische Entwicklung
der Melancholiediskussion

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Valk diskutiert in seiner Arbeit zunächst die »Europäische[n] Melancholietraditionen und ihre Rezeption im Werk Goethes« (Kap. II). In diesem sehr informativen Kapitel, das die unterschiedlichen und stark divergierenden Auffassungen von Melancholie referiert, gibt Valk einen detaillierten Überblick über die historische Entwicklung der Erkenntnis und medizinischen Beschäftigung mit Melancholie seit dem ersten vorchristlichen Jahrhundert. Angefangen mit der »Vier-Säfte-Lehre« des Hippokrates arbeitet er sich zunächst über die einflussreichen »pseudoaristotelischen Problemata« zu deren Diskussion im römischen Kaiserreich vor. Nach der Darstellung der mittelalterlichen Temperamentenlehre und der wieder auflebenden »pseudoaristotelischen Melancholieauffassung in der italienischen Renaissance« kommt Valk schließlich auf den Melancholiediskurs im 18. Jahrhundert zu sprechen.

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Zu Beginn im Sinne einer »Garantin eines höheren und geistig gesteigerten Daseins« (S. 38) noch positiv konnotiert, sei die Melancholie in der zweiten Jahrhunderthälfte und im Zuge empfindsamer Tendenzen als ein pathologisch ausartendes, »gesteigertes Ich-Gefühl« (S. 40) zu verstehen, wobei sie mehr und mehr einer »sentimentalen Verflachung und zunehmenden Konventionalisierung« (S. 41) anheim falle. Der kontroverse medizinische Diskurs, der sich sowohl um Erkenntnisse des Ausbruchs und der Symptomatik als auch um Möglichkeiten der Therapie dieses als krankhaft verstandenen Zustands bemüht, wird zur Grundlage der nachfolgenden Werkanalysen. Das Kapitel zur historischen Entwicklung des Melancholie-Diskurses ist deshalb sinnvoll, weil Valk Goethes umfassende Kenntnis dieser Diskussion und auch der historischen Quellen nachweisen und damit den notwendigen Hintergrund für die folgenden Kapitel plausibel machen kann.

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Die verschiedenen Melancholiemodelle
im konkreten Text

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Bei der Abfolge der einzelnen werkbezogenen, in sich abgeschlossenen Kapitel richtet sich Valk chronologisch nach der Veröffentlichung der einzelnen Romane und Dramen: Die Leiden des jungen Werther (Kap. III), Torquato Tasso (Kap. IV), Lila (Kap. V), Wilhelm Meisters Lehrjahre (Kap. VI), Die Wahlverwandtschaften (Kap. VII) und schließlich Faust I (Kap. VIII).

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Er analysiert die individuellen Charakterprofile, wobei er die Figuren systematisch auf melancholische Verhaltensweisen untersucht. Im Werther-Kapitel will er nachweisen, dass die Suizidneigung des Protagonisten nicht primär aus der unglücklichen Liebe zu Lotte resultiert, sondern aus einem angeborenen »pathogenen Inkludenzgefühl« (S. 66) hervorgehe. Seine Leiden würden durch die gescheiterte Beziehung »nicht allererst hervorgerufen, sondern lediglich verschärft« (S. 72).

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Während Dichtung und Musik als »ästhetische Heilmittel« (S. 83) bei Werther versagten, gewinne die Verbindung von schöpferischem Künstlertum und Melancholie im Tasso-Drama eine positive Dimension. Für Goethe konkretisiere sich in der Tasso-Figur das »Psychogramm des ›modernen‹ Dichters« (S. 117), dessen künstlerische Produktion ihn vor Schlimmerem bewahre.

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Im Singspiel Lila hingegen sei die Melancholie insbesondere auf eine »hypertrophe Einbildungskraft« (S. 147) der Protagonistin zurückzuführen und damit auch nur mit Hilfe einer psychodramatischen Inszenierung allein in der imaginierten Vorstellungswelt der Erkrankten zu heilen.

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Das umfangreichste Kapitel beschäftigt sich mit den verschiedenen Melancholiemodellen und deren »psychotherapeutischen Behandlungsmethoden« (S. 167) in Wilhelm Meisters Lehrjahren. Als zentral für Goethes Melancholiediskussion innerhalb des Romans erweise sich eine »methodische Lebensführung, die kontinuierliche und planmäßige Tätigkeit« (S. 190) als eine Erfolg versprechende Möglichkeit der Heilung verstehe. Valk weist auf die melancholische Grundstimmung aller wichtigen Charaktere hin und misst deren Scheitern (Harfner, Aurelie, Mignon) beziehungsweise Genesung (Wilhelm) insbesondere an diesem Tätigkeitsprinzip. Aber auch die Methode der »Selbstrelativierung«, des Vergleichs des eigenen mit dem schlimmeren Schicksal anderer, und das Vermeiden von »Introspektion« (vgl. S. 190) haben eine zentrale therapeutische Funktion.

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In Valks Ausführungen zu den Wahlverwandtschaften merkt man wie nirgendwo sonst die starke Konzentration auf figurencharakteristische Fragestellungen. Alle vier Protagonisten werden nacheinander einer auf die Melancholie fokussierten Analyse unterzogen, wobei gerade in diesem langatmigen Kapitel der Eindruck entsteht, dass das Nachweisen melancholischer Gemütsverfassungen alleiniges Ziel der Arbeit sei.

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Dem Faust-Kapitel liegen Untersuchungen von Jochen Schmidt und Hans-Jürgen Schings zugrunde, die Valk als maßgebliche Referenzpunkte seiner eigenen Thesen ausweist. Es geht ihm somit insbesondere um eine kontextuelle Integration und um eine Ergänzung dieser Ansätze in seine Arbeit. Auch hier wiederholt sich die konzeptionelle Strategie des Verfassers, der zunächst auf die Symptome der Melancholie – hier als »Gelehrtenkrankheit« bezeichnet – Bezug nimmt und sodann die therapeutischen Heilungsversuche diskutiert. Leider geht er an entscheidender Stelle nicht mit der notwendigen Akribie auf die Nacht-Szene ein, wo Faust beim Betrachten der Giftphiole Suizidgedanken überkommen. 1 Da Valk bereits im Wilhelm Meister-Kapitel die Talisman-Funktion tödlicher Waffen (beim Harfner das Opiumfläschchen, bei Aurelie der scharfe Dolch) als Möglichkeit der Selbstheilung diskutiert, wäre eine Analogisierung beziehungsweise Kontrastierung der Faust-Szene – über den sicher richtigen Hinweis zur therapeutischen Leistung der Musik hinaus – nur konsequent gewesen.

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Valk exemplifiziert seine These an besonders wichtigen Texten. Dadurch kann er zeigen, dass der Melancholiediskurs für Goethe eine bedeutende Rolle gespielt haben muss. Dennoch wäre mehr als nur ein kurzer Verweis (vgl. S. 11) wünschenswert gewesen, dass stark melancholische Elemente eine grundlegende Bedeutung für Goethes Gesamtwerk haben. Erst damit würde auch eine grundsätzliche, strukturelle oder poetologische Absicht begründet werden können.

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Methodik und offene Fragen

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Da die methodische Vorgehensweise bei der Interpretation aller Texte dieselbe ist, wirkt die Arbeit strukturell monoton. Zu schematisch folgt dem jeweils vorangestellten Forschungsbericht eine Analyse der zentralen Figuren im Hinblick auf die divergierenden Melancholiemodelle im Wechselspiel von Erkrankung und Therapie. Valk organisiert diesen Diskurs aber nicht nur in den engen Grenzen des jeweiligen Werkes, sondern vergleicht auch die einzelnen Protagonisten miteinander, um so deutlicher die unterschiedliche oder identische Konzeption einzelner Figuren nachweisen zu können. Interessant (aber leider unbeantwortet) bleibt in diesem Zusammenhang die Frage, inwieweit die schnelllebige Melancholiediskussion im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts mit der in Goethes Texten korrespondiert. Sind gar konzeptionelle Veränderungen im Zeitraum von 1774 bis 1809, also von Werther bis zu den Wahlverwandtschaften zu konstatieren? Leider macht es sich Valk auch mit dem Verweis auf die nicht gerade neue Kompensationsthese, nach der sich der selbst an Melancholie leidende Goethe durch Werthers Geschichte therapiert, etwas zu einfach. Zwar wird Werther, den er zurecht als »Modell« »für fast alle Melancholiker in Goethes Werk« (S. 213) bezeichnet, nicht zuletzt auch aufgrund seines Wertmaßstabes für andere melancholische Charaktere wichtig, doch kann damit alleine Goethes literarisches und außerliterarisches Interesse an dieser seelischen Krankheit nicht begründet werden. Außerdem darf die Frage erlaubt sein, ob sich nicht grundsätzlich auch eine Differenzierung von ›männlich‹ und ›weiblich‹ ausgeprägter Melancholie angeboten hätte.

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In den vorangestellten Forschungsberichten zu Beginn eines jeden Kapitels weist Valk bereits – aufgrund der unüberschaubaren Fülle an Interpretationen – auf die Notwendigkeit einer strengen Auswahl der wichtigsten Ansätze hin. Dabei bemüht er sich zunächst um eine allgemeine Wiedergabe der Forschungslage, um erst im Anschluss daran einen Blick auf die für sein Thema relevanten Deutungen zu werfen. Dennoch fehlen zum Teil wichtige Texte, deren Absenz Valk wenigstens hätte begründen müssen.

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Beim Diskurs um den »empfindsamen Melancholiekult« (Kap. II. 7) oder auch in Bezug auf Werther sucht man einen Hinweis auf Gerhard Sauders nach wie vor relevante Studie zur Empfindsamkeit 2 vergeblich. Ebenso hätte sich ein Blick in Franz Loquais Dissertation über Künstler und Melancholie in der Romantik 3 gelohnt, die zumindest für die späteren Werke Goethes einigen Aufschluss hätte geben können. Fraglich bleibt auch, weshalb sich Valk primär der mittlerweile in Text und Kommentar weitgehend überholten Hamburger Ausgabe bedient (vgl. S. 317) und nicht der Frankfurter oder der Münchner Ausgabe den Vorzug gibt. Wenigstens eine Begründung dieser Auswahl wäre wünschenswert gewesen.

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Leider fehlt auch ein Ausblick, der noch einmal das Ergebnis der Arbeit, wenn nicht synthetisch darstellen, so doch wenigstens resümierend hätte zusammenfassen können. So endet die Arbeit mit der exemplarischen Analyse des Faust-Kapitels etwas abrupt.

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Fazit

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Von den strukturellen Schwächen abgesehen, handelt es sich bei Valks Untersuchung, die einen äußerst kenntnisreichen und soliden Eindruck vermittelt, um eine wichtige Studie zu dieser Thematik. Denn einerseits bietet sie nicht nur einen ausgezeichneten Überblick über die Geschichte der Melancholie und ihre medizinische und anthropologische Diskussion, sondern liefert zugleich eine gebündelte Sicht dessen, was bisher zwar immer wieder in einzelnen Forschungsansätzen angeklungen, jedoch noch nicht systematisch besprochen worden ist: eine Darstellung von Goethes Melancholiekonzeption im Zeitraum 1774 bis 1809. Andererseits macht Valk erstmals deutlich, wie eng das thematische Netz melancholischer Diskussion in Goethes Texten tatsächlich geknüpft ist. Erfreulicherweise gelingt ihm dies in einer außerordentlich klar verständlichen Wissenschaftssprache, die ohne jedes schmückende Beiwerk auskommt und nicht zur übertriebenen Selbstdarstellung neigt, was bei neueren Publikationen geradezu eine positive Ausnahme darstellt. Insgesamt kann man der Arbeit einen großen wissenschaftlichen Wert zusprechen, von dem die Goetheforschung auch in Zukunft sicher noch profitieren wird.


Dirk Baldes, M.A.
Universität des Saarlandes
FR 4.1 Germanistik
Postfach 151150
DE - 66041 Saarbrücken

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Ins Netz gestellt am 22.12.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Julia Ebeling.

Empfohlene Zitierweise:

Dirk Baldes: Mehr als nur »Krankheit zum Tode«: Goethes Melancholiemodelle. (Rezension über: Thorsten Valk: Melancholie im Werk Goethes. Genese - Symptomatik - Therapie. Tübingen: Max Niemeyer 2002.)
In: IASLonline [22.12.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=878>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

V. 690–736.   zurück
Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bd. I: Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974.   zurück
Franz Loquai: Künstler und Melancholie in der Romantik. Frankfurt / Main 1984.   zurück