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»Ein unendlich hoher Raum mit hellen Spiegeln«

  • Ulrike Tanzer (Hg.): Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel mit Marie Gomperz 1892-1916. (Rombach Wissenschaften) Freiburg: Rombach 2001. 288 S. 6 s/w Abb. Kartoniert. EUR 20,40.
    ISBN: 3-7930-9286-0.
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Mit dem Briefwechsel zwischen Hugo von Hofmannsthal und Marie von Gomperz hat die Herausgeberin Ulrike Tanzer einen der großen Schätze gehoben, die trotz jahrzehntelanger intensiver Editionsarbeit noch immer ganz oder teilweise unveröffentlicht zu finden sind – Schätze, die Hofmannsthals ausladende Korrespondenzen zu einem der bedeutendsten Briefwerke des beginnenden 20. Jahrhunderts machen. Sein Briefwechsel mit Marie von Gomperz nimmt darin neben demjenigen etwa mit Ottonie Gräfin Degenfeld den Rang eines der faszinierenden Zeugnisse der Freundschaften Hofmannsthals mit Frauen ein, die, obwohl selbst nicht oder nur verhalten schöpferisch tätig, dennoch – oder vielleicht sogar gerade deswegen – Echoräume und Experimentierfelder eines Schreibens wurden, das aus dem Dialog mit der jeweiligen Freundin weitreichende Impulse für seine poetische Produktion bezog.

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Vier Jahre älter als Hofmannsthal, wurde Marie von Gomperz als jüngstes von vier Kindern 1870 in das weit verzweigte Familiengeflecht der Auspitz, Gomperz, Lieben und Wertheimstein hineingeboren und gehörte damit zu jenem jüdischen Großbürgertum, dessen gesellschaftliche Aktivitäten Wien um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nachhaltig geprägt haben. Die Bekanntschaft zwischen Hofmannsthal und Marie von Gomperz wurde vermutlich von deren Cousin vermittelt, dem Hofmannsthal gleichaltrigen Felix von Oppenheimer, den dieser 1891 beim Fechten kennen gelernt hatte; Oppenheimer lebte zusammen mit seiner Mutter Gabriele (Yella) Oppenheimer seit deren Scheidung im Palais Todesco, in dem sie zusammen mit ihrer Mutter Baronin Sophie Todesco mit Empfängen, Soireen und rauschenden Ballfesten ein so genanntes ›großes Haus‹ führte. Vermutlich dort im Rahmen eines gesellschaftlichen Anlasses zu Beginn des Jahres 1892 mit Marie von Gomperz bekannt geworden, lernte Hofmannsthal im August desselben Jahres über Marie auch deren sehr geliebte Tante Josephine von Wertheimstein kennen, die in ihrer Villa in Döbling die literarische und politische Intelligenz Wiens um sich versammelte, und blieb ihr bis zu deren Tod 1894 in tiefer gegenseitiger Sympathie verbunden.

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Marie von Gomperz selbst, obwohl hoch gebildet, besaß offenbar wenig von der selbstbewussten Strahlkraft, mit der andere weibliche Mitglieder ihrer Familie auf der Bühne der Wiener Gesellschaft agierten. Ein Grund dafür mag eine offenbar schon früh eintretende Gehörschwäche gewesen sein, die allerdings ihrerseits durchaus Teil jenes psychosomatischen Krankheitsbildes der Hysterie gewesen sein kann, das Maries berühmte Zeitgenossen Freud und Breuer nicht nur beschrieben, sondern an mehreren Frauen aus Maries Verwandtschaft behandelten: Intellektuell wie emotional bis zur Bewegungsunfähigkeit vom großbürgerlichen Wertekorsett eingeengt, zugleich aber unfähig, sich daraus zu befreien, reagierte Marie mit fortgesetzter, symptomatisch diffuser Kränklichkeit, deren seelische Provenienz sich in unüberwindlichen Selbstzweifeln artikulierte. Wie ihre ältere Schwester Nelly, mit der sie zeitlebens eine enge Beziehung verband, blieb Marie unverheiratet, schloss allerdings 1900 eine enge Freundschaft mit dem Maler Emil Orlik und fand durch ihn Anschluss an Künstlerkreise, die sie während des Ersten Weltkriegs finanziell unterstützte. 1938 erlebte Marie von Gomperz mit dem ›Anschluss‹ Österreichs an das Dritte Reich noch die Vermögensenteignung der Familie von Gomperz durch die nationalsozialistischen Behörden, bevor sie 1940 in Brünn starb.

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Es ist für die Einleitung Ulrikes Tanzers zu dem Briefwechsel zwischen Hofmannsthal und Marie von Gomperz bezeichnend, dass sie sie mit einem Zitat aus einem Brief Hofmannsthals an Gustav Schwarzkopf vom 31. Juli 1892 eröffnet, in dem Hofmannsthal unter dem Eindruck der Lektüre eines Romans von Guy de Maupassant ein Frauenbild entwirft, in das der Herausgeberin zufolge die Züge Marie von Gomperz mit eingeflossen seien. Ohne Zweifel ist Hofmannsthal die literarisch wie historisch bedeutendere Persönlichkeit der beiden Korrespondenten, gerade darum aber ist es zu bedauern, dass das in der Einleitung entworfene Bild von Marie von Gomperz fast durchweg aus der Perspektive auf Hofmannsthal skizziert wird, und damit im Schatten des Dichters verbleibt, selbst dort, wo es nicht von der komplexen Dichte der Schilderung familialer und gesellschaftlicher Vernetzung erdrückt wird. Wohl ist es notwendig, die bis zu textuellen Übernahmen gehenden Einflüsse von Maries Briefen auf Hofmannsthal literarisches Schaffen nachzuweisen, etwa für die Fragment gebliebene Tragödie Ascanio und Gioconda, aber es ist doch bedauerlich, dass die enigmatische, eben alles andere als nur hysterische Persönlichkeit Maries nicht wenigstens hier in jenes Rampenlicht treten durfte, das ihr zu Lebenszeiten versagt blieb. Mit einem klareren Fokus auf Marie von Gomperz hätte die Einleitung der Geschichte ihrer Beziehung zu Hofmannsthal die Tiefenschärfe einer Beziehung zwischen zwei Individuen verleihen können; so aber wiederholt sie die Geste, mit der schon Hofmannsthal seine Briefpartnerin immer wieder durch Herablassung und desinteressiertes Missverstehen marginalisierte.

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In ihren Briefen selbst allerdings tritt Marie von Gomperz dann mit einer Eindrücklichkeit aus diesem Schatten heraus, die ihre Bescheidenheit und Verehrung gegenüber Hofmannsthal gelegentlich fast schmerzhaft unangebracht erscheinen lässt. Diese Briefe sind voll von Passagen zarter, hellsichtiger Kostbarkeit, etwa wenn sie Hofmannsthal am 29. April 1892 schreibt, die Phantasie »scheint mir wie ein unendlich großer Raum mit hellen Spiegeln ringsumher, man steht in der Mitte u. sieht in jedem Spiegel ein verändert Bild u. doch ist jedes ein getreues Spiegelbild, die Vernunft kann nicht mehr wählen, man muss impulsiv handeln« (S. 50), und wenn sie dann zwei Wochen später noch einmal auf den kunsttheoretischen Gehalt dieser Äußerung zurückkommt: »Ein Maler soll und darf nicht vollkommen Naturgetreu sein, so weit er es vermöchte, ist es nicht auch störend wenn es ein Schriftsteller zu sein versucht?« (S. 65) Und nicht zufällig fügt sie dann am Ende dieses Briefes vom 12. Mai diesen Satz betreffend die Bemerkung an: »Ich habe unter einen Satz einen punktierten Strich gemacht, streichen Sie ihn durch« (S. 67); Marie ist sich durchaus im Klaren darüber, dass sie hier in die Domäne des Autors Hofmannsthal in einer Weise eingreift, die dessen eigener ästhetischer Überzeugung nicht entspricht, antizipiert die Abwehr ihres Gedankens – und lässt ihn doch nicht nur lesbar stehen, sondern betont ihn durch die Anweisung zu seiner Streichung doppelt.

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Sie habe, schreibt sie dann fünf Tage später, »nicht genug Kraft um mich bemerkbar zu machen und so bleibt mein Ich innerhalb der vier Wände eingeschlossen und ich zähle träumend die Rosen in den Guirlanden der Zimmertapete ab, exisstieren, aber nicht leben, empfinden und nicht thun können, begreifen Sie das? ich hoffe nicht –« (S. 71) und bietet Hofmannsthal das Bild von der Rosen zählenden Einsamen dabei in einem auf den zeitgenössischen Topos der femme fragile rekurrierenden Code an, mit dem Hofmannsthal es trotz seines Nicht-Verstehens zumindest als poetisches Material ansehen und auf dieser Ebene rezipieren kann. Die Fotographien von Marie von Gomperz, die dem vorliegenden Band beigegeben sind, scheinen diesen Gestus unterstreichen zu wollen, zeigen sie doch eine hübsche, zurückhaltend, aber unmissverständlich reich gekleidete Frau mit zarten Zügen, deren Attraktivität vor allem in einer fast schon ostentativ zur Schau gestellte Nachdenklichkeit liegt, eine Frau, von der durchaus vermutet werden könnte, dass ihre Affinität zum idealisierten Typus der femme fragile Resultat einer Rollenübererfüllung war, anhand derer Marie sich mit durchaus subversivem Format ihren eigenen Freiraum schuf.

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Im Frühjahr 1893 ist die erste Emphase der Korrespondenz, die bis hierher immerhin rund 140 Seiten im Druck umfasst, bereits auf beiden Seiten brüchig geworden, der Dialog zwischen den Korrespondenten, von Anfang an bei allem Enthusiasmus von Zeichen einer irreduziblen Wesensfremdheit durchzogen, zerfällt, und umso anrührender mutet es an, wenn Hofmannsthal zumindest in Kleinigkeiten versucht, dialogisch zu reagieren: Kurz vor der spektakulären Aufführung lebender Bilder im Palais Todesco schreibt Marie aufgeregt an den Freund: »Mein Costüm wird grün und hellgelb, neue Complication in der Frage der chaussure!« (S. 173), und Hofmannsthal reagiert prompt in seinem nächsten Brief: »Gehen denn nicht hellgelbe Strümpfe und grüne Schuhe mit gelben Rosetten?« (S. 174)

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Schon die Banalität dieses Austauschs dokumentiert jedoch, dass die Fremdheit zwischen beiden zunehmend Raum greift, aber nicht Hofmannsthal ist es, der dies anspricht, sondern Marie, und dies durchaus nicht ohne Selbstbewusstsein: »Ich bin seit ziemlich langer Zeit ›innerlich nicht zuhause‹ u. scheue am meisten jene Menschen, die mich wirklich kennen u. das bei mir suchen, was sie kennen.« (S. 205) So taktvoll und zurückhaltend Marie hier Hofmannsthals Ansprüche darauf, dass sie seinem Bild von ihr genügen möge, abweist, so gereizt reagiert Hofmannsthal sechs Wochen später am 14. Oktober 1893 mit dem Vorwurf, sie, Marie, habe

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einmal gesagt, wir sollten ein jeder dem andern seinen einzigen und immer wiederholten Schachzug eingestehen oder deutlich machen; Sie scheinen aber den Anfang nicht machen zu wollen. Der meinige ist ganz einfach: ich möchte eine zeitlang um nichts innerliches gefragt werden, weder um vergangenes noch um gegenwärtiges, weil ich eine Menge selbst nicht verstehe (S. 209)
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– kaum verhohlen klingt hier die Irritation durch, der Initiative zur Distanzbildung überhoben und damit in die Rolle des nur mehr Reagierenden gedrängt worden zu sein.

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Marie antwortet darauf nun ihrerseits erst am 1. Januar 1894 und entschuldigt nun ihr »unhöfliches und bisher unerklärtes Vergehen [...], Ihren Brief vom 14. Okt. nicht mehr beantwortet zu haben«, mit einer freundlichen, aber bestimmten Klarstellung:

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Ich war schon früher während vieler Monate bestrebt, ein andauerndes Schweigen eintreten zu lassen und da Sie darauf nicht eingiengen, fand ich es schließlich am besten, auf diese Weise abzubrechen. Der Grund ist einfach der, dass ich gefunden habe, Sie und ich hätten einander wenigstens einstweilen nichts zu sagen. (S. 214)
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Der Tod Josephine von Wertheimsteins im Sommer desselben Jahres führt noch einmal zu einer Annäherung, die aber trotz beider Intensität der Gefühlsreaktion auf den gemeinsam beklagten Verlust keinen neuen Anfang der Beziehung stiftet.

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Erst um den Jahreswechsel 1903 / 04 kommt es noch einmal zu einer intensiven Phase der Auseinandersetzung. Auf einen Brief Hofmannsthals vom 14.12.1903, der selbst verloren ist, reagiert Marie »herzlichst dankbar« dafür, dass »jemand, der mich freundschaftlich gerne hat, sehr gerne, meint ich hätte besonders viele sehr grosse Fehler.« (S. 240) Vor diesem Hintergrund mutet ihre Hoffnung, ihr und Hofmannsthals Verhältnis zueinander solle »mit den Jahren ein immer Besseres, Stetiges werden, denn es kommt nicht darauf an, wie oft man sich sieht, wenn man nur sicher weiss, was man von dem Anderen zu denken hat« (ebd.), nicht ganz unironisch an, zumal sie ihm nur wenige Sätze später mitteilt, die »letzte grosse Kränkung«, die sie durch ihn erlitten habe, »war, dass Sie mir Ihre Verheiratung nicht mittheilten« (ebd.) – gemessen an der rigorosen Konventionalität der Kreise, in der Hofmannsthal und sie sich bewegten, kaum weniger als eine ausdrückliche Brüskierung, derer sie sich bewusst zu sein Hofmannsthal hier mitteilt. So nimmt es nicht wunder, dass Hofmannsthal trotz ihres abschließenden Angebotes, sie müssten »einmal darüber reden« (ebd.), offenkundig indigniert reagiert.

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Mitgenommen von ihrer »Brennbehandlung gegen Kopfschmerz« schreibt sie Hofmannsthal am 24.1.1904 auf einen ebenfalls nicht erhaltenen Brief hin, sie habe ihm ihres Wissens »einen wahr empfundenen freundschaftlichen Brief geschrieben«, er aber habe aus diesem Brief nur einige Aspekte herausgegriffen und diese außerhalb ihres Kontextes falsch gedeutet, und wenn sie zum Ende des Briefs hin fragt: »Werden Sie mich wieder missverstehen? ich habe wirklich gar kein Vertrauen mehr zu meiner Logik u. meinem Stil« (S. 241 f.), so macht die scheinbare Demutsformel die passive Aggression gegen den, dessen eigene Logik vertrauensunwürdig ist, unmissverständlich sichtbar. Als Hofmannsthal auch auf diesen Brief wieder ungehalten antwortet, variiert Marie zunächst diese Demutsformel – sie habe ihr Thema »ungeschickt gestreift, dann dasselbe entstellt« – statt aber den Vorwurf zurückzunehmen, den sie Hofmannsthal gemacht hatte, den nämlich, sich in einem adorierend auf ihn fixierten Freundeskreis von der Realität abgekoppelt zu haben, präzisiert sie ihn nun noch einmal so, dass nicht einmal Hofmannsthal ihn missverstehen kann: »Kann man denn aus Leuten mit gefälligen Formen in dieser schönen sympathischen geistigen Zuschauerstellung Leben herausschlagen?« (S. 243)

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Marie von Gomperz letzter Brief an Hofmannsthal endlich bezieht seinen unwiderstehlichen Reiz vor allem daraus, dass er in seinen letzten Abschnitten noch einmal, ohne es explizit zu machen, eine Analyse der Beziehung zwischen ihr und Hofmannsthal verdichtet. Geschrieben am 18. August 1916, lässt er auf die fast devote Werbung um Hofmannsthals Zuneigung – »Einmal will ich wieder sagen, dass ich die Empfindung habe Sie sind im Leben immer dicht neben mir gestanden wenn es mich am aller Härtesten traf, da stand dann der Jugend-Freund u gab mir die Hand« – eine Diagnose der Gelenkstelle folgen, an der Marie auf ein Glücken der Kommunikation zwischen ihnen gehofft hatte: »Ansonsten war ich oft ungeschickt, es ist schwer für den anderen ein solches Übermass von Empfindsamkeit zu überbrücken«, gerade das ›Übermass von Empfindsamkeit‹ aber hätte, gleichsam als Signum gemeinsam erlebter Zeitgenossenschaft, den Austausch garantieren sollen (S. 270).

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Dass dieser Austausch trotzdem zerbrach, ja eigentlich nie wirklich zustande gekommen war, erkennt Marie jetzt als Effekt ihrer, von Hofmannsthal selbst als peinlich reflektierten kränklichen Randständigkeit: »Im Gespräch ist Alles wider mich, nicht nur mein Gehör, aber Alles das ich für mich möchte u. nicht kann lastet auf mir sonderbarerweise als eine Beschämung« (ebd.) –›sonderbarerweise‹ deshalb, weil Marie selbst zwar ihre Identität mittlerweile gewiss ist, genauer noch aber um die Abhängigkeit ihrer Wertschätzung von dem von außen auf sie fallenden Blick des Mannes und Dichters weiß, unter dem ihre Eigentümlichkeit beiden zur ›Beschämung‹ gerät. Wenn sie daher Hofmannsthal im Folgenden beteuert, »alles was Sie einmal Eithelkeit nannten ist von mir abgefallen«, so verbindet dieses Bekenntnis zur Unterwerfung unter seine Kritik sich hier zugleich mit einer Unabhängigkeitserklärung: »[...] sehr kranke Menschen bekommen etwas so Fertiges, Abgeschlossenes, sie brauchen u. können nicht mehr über sich reden. Eine Aussprache wie diese muss ich mir abringen«, sie ist längst nicht mehr lustvoll und schon gar nicht mehr lebensnotwendig (ebd.). Der Brief schließt mit einer kurzen Notiz über den gemeinsamen Bekannten Richard Beer-Hofmann, der »sehr lieb« mit Marie sei – und Marie Gelegenheit gibt, einmal mehr sehr taktvoll Distanz zu Hofmannsthal zu schaffen, taktvoll, aber auch mit einer gelassenen Ironie, die noch den heutigen Leser ihres letzten Briefes schmerzlich berührt zusammenzucken lassen mag: »Wenn Sie zu B.H. kommen, müssen Sie nicht jedes Mal zu uns herüber laufen. Viele herzliche Grüsse Marie« (ebd.).

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Das Niveau der Edition entspricht im Konzept den Standards, die sich in den vergangenen zehn Jahren für Hofmannsthals Einzelbriefwechsel eingebürgert haben. Die konkrete Umsetzung dieses Konzepts allerdings weist im Einzelnen gewisse Schwächen auf. So präsentiert Ulrike Tanzer die Briefe in diplomatischer Transkription, und als solche sind die Texte sichtlich das Produkt akribischer Lektüre und Relektüre der Handschriften. Nun erzeugt die diplomatische Wiedergabe freilich immer wieder auch das Problem, wo die Grenze zwischen für den jeweiligen Briefschreiber charakteristischen orthographischen Abweichungen auf der einen Seite und Verschreibungen, die mit einem »sic« oder in diesem Fall mit [!] als vom Schreiber verursacht ausgewiesen werden müssen. Diese Schwierigkeit ist von Ulrike Tanzer nicht wirklich systematisch bewältigt worden; im – sehr verständlichen – Bemühen, die Verantwortung für orthographische Unregelmäßigkeiten von sich ab- und den eigentlichen Korrespondenten zuzuschreiben, setzt die Herausgeberin das [!] einerseits zu häufig, andererseits inkonsequent ein: Statt die Texte, die freilich besonders aus der Feder von Marie von Gomperz gelegentlich grenzwertig legasthenisch anmuten, für sich stehen zu lassen und dem Leser damit Vertrauen zu den beiden sich hier manifestierenden unterschiedlichen Schreibstilen einzuflössen, unterbricht die Herausgeberin den Lektürefluss immer wieder durch den mahnend erhobenen Zeigefinger der Rechtsschreibungsregelkundigen, lässt dabei aber die wechselnde Groß- und Kleinschreibung der Anrede »Sie« und des Pronomens »sie« fast ebenso oft unmarkiert, wie sie das Zeichen des Zeigefingers appliziert. Ein besonders prägnantes Beispiel für die Fußangeln eines solchen Verfahrens findet sich in zwei Briefen Marie von Gomperz’ aus dem Jahr 1904: In dem Brief vom 30. Januar stellt Ulrike Tanzer in einer Verbform eine Regelabweichung fest (»Mir liegt es wirklich auf [!] verstanden zu werden« (S. 243)), die sie dann in Maries Brief vom 15. Juni dagegen unmarkiert lässt (»...das mir aufliegt.« (S. 245)). Schade ist dies besonders angesichts der Tatsache, dass die Herausgeberin, gerade was die orthographischen Eigentümlichkeiten der beiden Briefpartner angeht, in Hofmannsthals Brief an Marie vom 1. Juli 1892 eine in Zeiten des Streits um die Rechtschreibreform ganz besonders hinreißende Steilvorlage für eine selbstbewusste Präsentation der widerständigen Textoberflächen gefunden hätte: »Was ›man‹ schreibt, ist doch im Deutschen ganz gleichgiltig« (S. 106), antwortet Hofmannsthal hier auf eine entsprechende Anfrage Maries.

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Auch der Kommentar zu den Briefen ist von der Qualität her recht unterschiedlich. Der Personenkommentar, fraglos der gewichtigste Teil, ist exzellent recherchiert und in präziser, überschaubarer Kürze dargeboten. Demgegenüber stehen einige empfindliche Mängel. So verzichtet die Herausgeberin etwa darauf, französische Worte und Passagen zu übersetzen, unternimmt dabei aber nirgendwo – auch nicht etwa in der editorischen Notiz – den Versuch, diese Entscheidung zu rechtfertigen. Selbst eine potentielle Rechtfertigung aber könnte wohl kaum begründen, warum für den heutigen Leser so rätselhafte Begriffe wie »saccadé« (S. 123) oder »Prestigitateur« (S. 171) nicht erläutert werden.

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Generell ist es misslich, dass, wo schon die editorische Notiz fast zu knapp gehalten ist, einzelne editorische Probleme nicht wenigstens im Einzelstellenkommentar verhandelt werden. Ein schlagendes Beispiel dafür, dass unbedingt kommentierungswürdig gewesen wäre, sind die von der Herausgeberin als zwei eigenständige Briefe Marie von Gomperz an Hofmannsthal wiedergegebenen Schreiben vom 23. April 1892 und von laut Herausgeberdatierung »vor dem 29. April 1892« (S. 46). Der Brief vom 23. April schließt mit den Worten: »Schade, dass man eigentlich nie ganz frei«, gefolgt von dem Auslassungszeichen »[...]« und dem Herausgebervermerk »[Ende fehlt]« (S. 45). Der zweite Brief setzt mit dem Herausgebervermerk »[Anfang fehlt]«, dem Auslassungszeichen und den Worten ein: »ist u. dass es immer wieder einen Hemmschuh giebt.« (S. 46) Schon vom Zusammenhang der beiden abgerissenen Sätze zu Ende des einen und zu Anfang des anderen Briefes her, ganz zu schweigen von der inhaltlichen Konsistenz, ist der zweite Brief ganz offenkundig die Fortsetzung des Briefs vom 23. April, also dessen angeblich fehlendes Ende, während umgekehrt der Brief vom 23. April der angeblich fehlende Anfang des späteren ist. Ganz ohne Frage ließe sich auch hierfür eine Begründung denken, wird aber nicht einmal versucht; in der einzigen entfernt mit diesem Problem befassten Fußnote Nr. 20 zum Brief vom 23. April heißt es nur: »Das Brieffragment befindet sich im Hofmannsthal-Archiv, Frankfurt a.M. (Nachlaß Dr. Rudolf Hirsch).« (S. 43)

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Trotz dieser problematischen Aspekte ist der Briefwechsel insgesamt ein Lesegenuss, auch – und vielleicht sogar gerade weil – Hofmannsthal sich darin oft alles andere als vorteilhaft zeigt. Verglichen etwa mit seinen Briefen an Ottonie Gräfin Degenfeld, die freilich von dem bereits reiferen Mann geschrieben wurden, sind die Briefe Hofmannsthals an Marie von Gomperz von manchmal nur schwer erträglicher Unsensibilität und Selbstbezüglichkeit. Fasziniert ist Hofmannsthal, so scheint es, von Anfang an nicht von der Person, sondern von der rückhaltlosen Verehrung, die diese dem unter dem Pseudonym Loris bereits erfolgreich publizierenden jungen Autor entgegenbringt, und es ist nur zu bewundern, mit welcher nicht nur intellektuellen, sondern vor allen Dingen Gefühlseleganz Marie ihre bewundernde Akzeptanz von Hofmannsthals Wesen durchweg mit einem bei allen Selbstzweifeln doch stabilen Willen zum eigenständigen Denken verbindet – kein Wunder, dass Hofmannsthal seine Briefpartnerin schon recht schnell unheimlich wurde.

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Alles in allem gesehen, hat Ulrike Tanzer mit ihrer Edition sowohl die Hofmannsthal-Forschung als auch und eigentlich vor allem die Kulturgeschichte des Fin de siècle entschieden bereichert. Auch muss hervorgehoben werden, dass die angemerkten Mängel durchweg den Eindruck vermitteln, dass sie nicht etwa Effekt von Nachlässigkeit sind, sondern eher derjenige einer Unsicherheit, die sich (noch) nicht zutraut, den von ihr bearbeiteten Briefwechsel bei allem Respekt vor Hofmannsthals anderen Korrespondenzen als einen charakteristischen Einzelfall zu behandeln und ihr editorisches Konzept entsprechend zu modifizieren. Dennoch – und dies ist durchaus auch mit ein Resultat des durchweg spürbaren konzentrierten Ernstes, mit dem die Herausgeberin sich ihrer Aufgabe gewidmet hat – entfaltet der Briefwechsel insgesamt sowohl den Charme als auch das Gewicht eines solchen Einzelfalls, der seine charakteristische Qualität nicht zuletzt aus der die beiden Korrespondenten in fast paradoxer Form verbindenden Fremdheit bezieht. Trotz der geltend gemachten Einschränkungen ist sein Erscheinen daher mit Respekt für die Leistung der Herausgeberin zu begrüßen – und mit großer Freude an dem von ihr erschlossenen Textkorpus.